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– Das ist vielleicht sogar gut, daß er mich fast für verrückt hält – dachte Raskolnikow.

»Das kann aber vielleicht auch einem Gesunden passieren«, bemerkte Dunjetschka mit einem besorgten Blick auf Sossimow.

»Eine recht treffende Bemerkung«, antwortete jener. »In diesem Sinne gleichen wir wirklich fast alle den Verrückten, bloß mit dem kleinen Unterschied, daß die ›Kranken‹ etwas mehr verrückt sind als wir, denn man muß hier eine gewisse Grenze unterscheiden. Einen wirklich harmonischen Menschen gibt es tatsächlich fast nicht; unter zehn- und vielleicht auch hunderttausend Menschen findet man höchstens einen, und dann auch nur ein recht schwaches Exemplar ...«

Beim Worte »verrückt«, das dem auf sein Lieblingsthema geratenen Sossimow entschlüpft war, verzogen alle die Gesichter. Raskolnikow saß nachdenklich, mit einem seltsamen Lächeln auf den blassen Lippen da und schien dem keine Beachtung zu schenken. Er fuhr fort, über etwas nachzudenken.

»Nun, was ist mit jenem Überfahrenen? Ich habe dich eben unterbrochen«, beeilte sich Rasumichin zu sagen.

»Was?« rief jener, wie aus einem Traume erwachend. »Ja ... ich beschmierte mich also mit Blut, als ich half, ihn in seine Wohnung zu schaffen ... Übrigens, Mamachen, ich habe gestern etwas Unverzeihliches getan; ich war wirklich nicht bei Sinnen. Ich habe gestern das ganze Geld, das Sie mir geschickt haben, weggegeben ... seiner Frau ... für die Beerdigung. Jetzt ist sie Witwe, eine schwindsüchtige, unglückliche Frau ... drei kleine hungrige Waisenkinder ... im Hause ist es leer ... und es ist noch eine Tochter da ... Vielleicht hätten Sie selbst alles hergegeben, wenn Sie es gesehen hätten ... Ich hatte übrigens, ich gestehe es, gar kein Recht dazu, um so mehr, als ich wußte, wie schwer es Ihnen fiel, dieses Geld aufzutreiben. Um zu helfen, muß man erst ein Recht dazu haben, sonst: ›Crevez chiens, si vous n'êtes pas contents!‹« Er lachte. »Ist es nicht so, Dunja?«

»Nein, es ist nicht so«, antwortete Dunja fest.

»Bah! Auch du hast also ... Absichten! ...« murmelte er, sie beinahe gehässig ansehend und spöttisch lächelnd. »Das hätte ich bedenken sollen ... Nun, es ist sehr lobenswert und um so besser für dich ... und du wirst einen solchen Strich erreichen, daß du unglücklich sein wirst, wenn du ihn nicht überschreitest, und noch unglücklicher, wenn du ihn überschreitest ... Übrigens ist das alles Unsinn!« rief er gereizt und ärgerlich, daß er sich hatte hinreißen lassen. »Ich wollte nur sagen, daß ich Sie um Verzeihung bitte, Mamachen«, schloß er kurz und bündig.

»Hör schon auf, Rodja, ich bin überzeugt, daß alles, was du tust, gut ist!« rief die Mutter erfreut.

»Seien Sie nicht so überzeugt«, antwortete jener, den Mund zu einem Lächeln verziehend.

Nun folgte ein Schweigen. In diesem ganzen Gespräch, im Schweigen und in der Aussöhnung lag eine gewisse Spannung, und alle fühlten es.

– Es ist, als ob sie mich fürchteten! – dachte sich Raskolnikow, indem er seine Mutter und Schwester finster anblickte. Pulcheria Alexandrowna wurde in der Tat immer ängstlicher, je länger sie schwieg.

– Als sie noch nicht da waren, liebte ich sie doch so! – ging es ihm durch den Kopf.

»Weißt du, Rodja, Marfa Petrowna ist gestorben!« platzte plötzlich Pulcheria Alexandrowna heraus.

»Was für eine Marfa Petrowna?«

»Ach, Gott, Marfa Petrowna Swidrigailowa! Ich habe dir ja so viel über sie geschrieben!«

»Ach ja, ich erinnere mich ... Sie ist also gestorben? Wirklich?« fuhr er plötzlich auf. »Ist sie wirklich gestorben? Woran denn?«

»Denk dir nur: ganz plötzlich!« antwortete Pulcheria Alexandrowna mit großer Hast, durch sein Interesse ermutigt. »Und gerade in der Zeit, als ich dir den Brief schickte, sogar am gleichen Tage! Denk dir nur: dieser schreckliche Mensch war wahrscheinlich die Ursache ihres Todes. Man sagt, er hätte sie furchtbar verprügelt!«

»Haben sie denn so miteinander gelebt?« fragte er, sich an die Schwester wendend.

»Nein, sogar im Gegenteil. Er war gegen sie immer geduldig und sogar höflich. In vielen Fällen sogar allzu nachsichtig gegen ihren Charakter, ganze sieben Jahre lang ... Plötzlich riß ihm irgendwie die Geduld.«

»Er ist also wohl gar nicht so schrecklich, wenn er sich sieben Jahre beherrschen konnte! Ich glaube, du verteidigst ihn, Dunjetschka?«

»Nein, nein, er ist ein schrecklicher Mensch! Etwas Schrecklicheres kann ich mir gar nicht vorstellen!« antwortete Dunja fast erschauernd. Sie runzelte die Brauen und wurde nachdenklich.

»Es geschah am Morgen«, fuhr Pulcheria Alexandrowna eilig fort. »Sie ließ sofort die Pferde anspannen, um gleich nach dem Essen in die Stadt zu fahren: in solchen Fällen fuhr sie immer in die Stadt; zu Mittag aß sie, wie man sagt, mit großem Appetit ...«

»Verprügelt wie sie war?«

»Sie hatte übrigens immer diese Angewohnheit, und sobald sie gegessen hatte, ging sie, um keine Zeit zu verlieren, in die Badehütte ... Weißt du, sie kurierte sich mit kalten Bädern; sie haben dort eine kalte Quelle, und sie badete regelmäßig jeden Tag, und wie sie nur ins Wasser stieg, traf sie gleich der Schlag!«

»Das will ich glauben!« sagte Sossimow.

»Und hat er sie ordentlich verprügelt?«

»Es ist ja ganz gleich«, erwiderte Dunja.

»Hm! Wozu erzählen Sie mir übrigens solchen Unsinn, Mamachen?« sagte Raskolnikow plötzlich gereizt und unwillig.

»Ach, mein Freund, ich wußte schon gar nicht, worüber zu sprechen«, entfuhr es Pulcheria Alexandrowna.

»Was ist denn los? Habt ihr alle vor mir Angst, oder was?« sagte er mit einem schiefen Lächeln.

»Es ist wirklich so«, antwortete Dunja, den Bruder gerade und streng anblickend. »Mamachen hat sich sogar vor Angst bekreuzigt, als wir die Treppe hinaufgingen.«

Sein Gesicht verzerrte sich wie in einem Krampfe.

»Ach, was sagst du, Dunja! Sei, bitte, nicht böse, Rodja ... Warum sagst du so was, Dunja!« begann Pulcheria Alexandrowna verlegen. »Es ist wahr, als wir herfuhren, stellte ich mir die ganze Zeit während der Fahrt vor, wie wir uns wiedersehen und wie wir uns alles erzählen werden ... und ich war so glücklich, daß ich von der Reise nichts merkte! Aber was sage ich! Ich bin auch jetzt glücklich ... Das war dumm von dir, Dunja ... Ich bin schon darum glücklich, weil ich dich sehe, Rodja ...«

»Lassen Sie es, Mamachen«, murmelte er verwirrt, ohne sie anzublicken, und drückte ihre Hand. »Wir werden uns noch aussprechen können!«

Als er das gesagt hatte, wurde er plötzlich verlegen und bleich: wieder durchfuhr eine schon vor kurzem erlebte schreckliche Empfindung wie tote Kälte seine Seele; wieder wurde es ihm plötzlich vollkommen klar und verständlich, daß er soeben eine fürchterliche Lüge gesagt hatte, daß er sich nicht nur nie wieder aussprechen können würde, sondern auch niemals, über nichts und mit niemand sprechen dürfe. Der Eindruck dieses schmerzvollen Gedankens war so stark, daß er für einen Augenblick sich fast vergaß, von seinem Platze aufstand, und, ohne jemand anzublicken, aus dem Zimmer gehen wollte.

»Was hast du?« rief Rasumichin, ihn bei der Hand packend.

Er setzte sich wieder hin und fing an, sich schweigend umzusehen; alle blickten ihn verständnislos an.

»Was seid ihr so langweilig!« rief er plötzlich, ganz unvermittelt. »Sagt doch etwas! Was soll man denn wirklich so herumsitzen! Sprecht doch! Wollen wir uns unterhalten ... Wir haben uns versammelt und schweigen ... Nun, irgendwas!«

»Gott sei Dank! Ich glaubte schon, daß mit ihm wieder das Gestrige beginnt«, sagte Pulcheria Alexandrowna, sich bekreuzigend.

»Was hast du, Rodja?« fragte Awdotja Romanowna argwöhnisch.

»Nichts, mir ist gerade ein Ding eingefallen«, antwortete er und lachte plötzlich auf.