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»Wie konntest du überhaupt weggehen, wenn du nicht im Fieber warst?« ereiferte sich plötzlich Rasumichin. »Wozu bist du weggegangen? Zu welchem Zweck? ... Und warum heimlich? Nun, warst du vielleicht bei klarem Verstand? Jetzt, wo die ganze Gefahr vorbei ist, sage ich es dir geradeaus!«

»Sie haben mir gestern so furchtbar zugesetzt«, wandte sich Raskolnikow plötzlich an Porfirij mit frech herausforderndem Lächeln, »und ich lief von ihnen weg, um mir eine Wohnung zu mieten, damit sie mich nicht wiederfinden; ich nahm auch einen Haufen Geld mit. Herr Samjotow hat das Geld gesehen. Nun, Herr Samjotow, war ich gestern vernünftig oder im Fieber, entscheiden Sie den Streit!«

Er wäre wohl in diesem Augenblick imstande gewesen, Samjotow zu erwürgen. Sein Blick und sein Schweigen mißfielen ihm schon sehr.

»Meiner Ansicht nach sprachen Sie sehr vernünftig und sogar schlau, aber Sie waren allzu reizbar«, erklärte Samjotow trocken.

»Heute erzählte mir Nikodim Fomitsch,« bemerkte Porfirij Petrowitsch, »er hätte Sie gestern spät am Abend in der Wohnung eines überfahrenen Beamten getroffen ...«

»Ach ja, das mit dem Beamten!« fiel ihm Rasumichin ins Wort. »Warst du vielleicht nicht verrückt bei diesem Beamten? Das letzte Geld gab er der Witwe für die Beerdigung her! Wenn du ihr helfen wolltest, konntest du ihr fünfzehn, auch zwanzig Rubel geben und wenigstens fünf Rubel für dich behalten, du gabst ihr aber die ganzen fünfundzwanzig!«

»Vielleicht habe ich irgendwo einen Schatz gefunden, und du weißt es noch nicht? ... Darum war ich gestern auch so freigebig ... Herr Samjotow weiß, daß ich einen Schatz gefunden habe! ... Entschuldigen Sie«, wandte er sich mit bebenden Lippen an Porfirij, »daß wir Sie mit solchen Dummheiten schon eine halbe Stunde belästigen! Sie haben uns doch schon sicher satt?«

»Aber ich bitte Sie, im Gegenteil, ganz im Gegenteil! Wenn Sie bloß wüßten, wie Sie mich interessieren! Es ist so interessant, zuzusehen und zuzuhören ... und ich bin, offen gestanden, so froh, daß Sie endlich gekommen sind ...«

»Gib uns doch wenigstens Tee! Die Kehle ist mir ganz eingetrocknet!« rief Rasumichin.

»Eine ausgezeichnete Idee! Vielleicht trinkt die ganze Gesellschaft mit? Willst du vielleicht ... etwas Wesentlicheres vor dem Tee zu dir nehmen?«

»Scher dich!«

Porfirij Petrowitsch ging hinaus, um den Tee zu bestellen.

Die Gedanken wirbelten im Kopfe Raskolnikows. Er war furchtbar gereizt.

– Das Auffallendste ist, daß sie es nicht mal verbergen und sich gar nicht genieren! Warum hast du aber, wenn du mich gar nicht kennst, über mich mit Nikodim Fomitsch gesprochen? Folglich wollen sie es nicht einmal verheimlichen, daß sie wie eine Koppel Hunde mir nachspüren! So offen spucken sie mir ins Gesicht! – Er zitterte vor Wut. – Nun, schlagt doch offen zu und spielt nicht mit mir wie die Katze mit der Maus. Es ist ja unhöflich, Porfirij Petrowitsch, das werde ich mir vielleicht gar nicht gefallen lassen! ... Ich werde gleich aufstehen und allen die ganze Wahrheit ins Gesicht schleudern; und ihr werdet sehen, wie ich euch verachte! ... – Er atmete schwer. – Wenn es mir aber nur so vorkommt? Wenn es nur eine Fata morgana ist, wenn ich mich in allem irre, aus Unerfahrenheit wüte und aus meiner gemeinen Rolle falle? Vielleicht ist das alles ohne Absicht? Alle ihre Worte sind gewöhnlich, aber es steckt etwas in ihnen ... Dies alles kann man stets sagen, aber es ist etwas dabei. Warum sagt er direkt: ›bei ihr?‹ Warum fügte Sossimow hinzu, daß ich ›schlau‹ gesprochen habe? Warum sprechen sie in solch einem Tone? Ja ... der Ton ... Auch Rasumichin saß doch dabei; warum fällt ihm nichts auf? Diesem unschuldigen Tölpel fällt wohl nie was auf! Ich habe wieder Fieber! Hat mir Porfirij vorhin zugezwinkert oder nicht? Wahrscheinlich nicht; warum sollte er es auch? Wollen sie vielleicht meine Nerven reizen oder mich bloß necken? Entweder ist alles Einbildung, oder sie wissen alles! Sogar Samjotow ist frech! ... Ist Samjotow wirklich frech? Samjotow hat es sich in der Nacht überlegt. Ich habe es doch gewußt, daß er es sich überlegen wird! Er benimmt sich hier wie zu Hause, ist aber zum erstenmal da. Porfirij behandelt ihn gar nicht als Gast, er sitzt mit dem Rücken zu ihm. Sie haben sich schon verständigt! Ganz gewiß haben sie sich meinetwegen verständigt. Sicher haben sie vor unserem Erscheinen über mich geredet! ... Ob sie das von der Wohnung wissen? Wenn das doch schneller herauskäme! ... Als ich sagte, ich sei gestern fortgelaufen, um mir eine Wohnung zu mieten, überhörte er es, nutzte die Gelegenheit nicht aus ... Das mit der Wohnung war aber geschickt von mir, es kann mir später einmal zustatten kommen. Ich bin natürlich im Fieber dort gewesen! ... Ha-ha-ha! Auch über den gestrigen Abend ist er schon unterrichtet! Doch von der Ankunft der Mutter wußte er nichts! ... Die Hexe hat auch das Datum mit Bleistift hingeschrieben! ... Ihr irrt, ich ergebe mich nicht! Das sind ja noch keine Tatsachen, es ist nur eine Fata Morgana! Nein, gebt mal Tatsachen her! Auch das mit der Wohnung ist keine Tatsache, sondern eine Fieberphantasie; ich weiß, was ich ihnen zu sagen habe ... Ob sie das von der Wohnung wissen? Ich gehe nicht von hier, ehe ich das erfahren habe! Warum bin ich überhaupt hergekommen? Jetzt bin ich so wütend, und das ist schon vielleicht eine Tatsache! Pfui, wie reizbar ich bin! Vielleicht ist es aber auch gut: ich spiele ja die Rolle eines Kranken ... Er betastet mich. Er wird mich aus dem Konzept bringen wollen. Wozu bin ich hergekommen? –

Das alles durchzuckte ihn wie ein Blitz.

Porfirij Petrowitsch kam im Nu zurück. Er war auf einmal lustig geworden.

»Von deinem gestrigen Abend tut mir der Kopf weh, Bruder ... Ich bin überhaupt ganz aus dem Leim gegangen«, wandte er sich lachend und in einem ganz anderen Tone an Rasumichin.

»Nun, war es interessant? Ich habe euch gestern im interessantesten Moment verlassen! Wer hat gesiegt?«

»Natürlich niemand. Man landete bei den ›ewigen Fragen‹ und schwebte in den Wolken.«

»Denk dir nur, Rodja, bei welcher Frage sie gestern gelandet sind: gibt es ein Verbrechen oder nicht? Ich sagte dir ja schon, daß sie bis zur Bewußtlosigkeit schwatzten!«

»Was ist denn Merkwürdiges dabei? Eine gewöhnliche soziale Frage«, antwortete Raskolnikow zerstreut.

»Die Frage war nicht so formuliert«, bemerkte Porfirij.

»Nicht ganz so, das stimmt«, gab Rasumichin sofort zu. Er sprach hastig und sich ereifernd wie immer. »Siehst du, Rodion: hör zu und sag deine Meinung. Ich will es so. Ich fuhr gestern schier aus der Haut, als ich mit ihnen redete, und wartete immer auf dich; ich hatte ihnen gesagt, daß du kommen wirst. Es fing an mit der Anschauung der Sozialisten. Diese Anschauung ist ja bekannt: das Verbrechen ist ein Protest gegen die anormale soziale Einrichtung – und sonst nichts, sonst gar nichts, andere Gründe gelten nichts, und fertig! ...«

»Da lügst du schon wieder!« rief Porfirij Petrowitsch. Er wurde sichtbar lebhafter und lachte jeden Augenblick beim Anblick Rasumichins, wodurch er ihn noch mehr aufstachelte.

»Andere Gründe gelten nichts!« unterbrach ihn Rasumichin hitzig. »Ich lüge gar nicht! ... Ich will dir ihre Bücher zeigen: alles geschieht bei ihnen darum, weil ›das Milieu einen hereingezogen hat‹ – und weiter nichts! Das ist ihre Lieblingsphrase! Daraus folgt direkt, daß, wenn man die Gesellschaft normal einrichtet, alle Verbrechen sofort aufhören, weil es dann nichts mehr geben wird, wogegen zu protestieren, und alle werden im Nu Gerechte sein. Die Natur ziehen sie nicht in Betracht, die Natur ist gestrichen, die Natur zählt nicht mit. Bei ihnen wird sich nicht die Menschheit, nachdem sie sich auf ihrem historischen, lebendigen Wege zu Ende entwickelt hat, schließlich in eine normale Gesellschaft verwandeln, sondern umgekehrt, ein irgendeinem mathematischen Kopfe entsprungenes soziales System wird sofort, die ganze Menschheit in Ordnung bringen und sie in einem Nu, ohne jeden lebendigen Prozeß, ohne jeden historischen und lebendigen Weg zu einer gerechten und sündlosen machen! Darum haben sie diesen instinktiven Haß gegen die Geschichte! Sie sagen: ›Sie handeln doch nur von Unfug und Dummheit‹ – und alles wird bloß durch Dummheit erklärt. Darum lieben sie auch nicht den lebendigen Lebensprozeß: sie brauchen keine lebendige Seele! Die lebendige Seele kann nach Leben verlangen, die lebendige Seele wird der Mechanik nicht folgen wollen, die lebendige Seele ist verdächtig, die lebendige Seele ist rückschrittlich! Sie können aber eine Seele aus Kautschuk machen; sie wird zwar einen Leichengeruch haben, dafür ist sie nicht lebendig, dafür ist sie ohne Willen, dafür ist sie sklavisch und wird sich nicht empören. Und das Resultat ist, daß alles auf die Zusammensetzung der Ziegelsteine und auf die Anlage der Korridore und Räume in der Phalanstere hinausläuft! Die Phalanstere mag wohl fertig sein, aber eure Natur ist für die Phalanstere noch nicht fertig, sie lechzt nach Leben, sie hat ihren Lebensprozeß noch nicht abgeschlossen, es ist zu früh für sie, auf den Friedhof zu kommen. Mit der Logik allein kann man nicht über die Natur springen! Die Logik kann mit drei Fällen rechnen, ihrer sind aber eine Million! Man streicht eine ganze Million und beschränkt sich auf eine einzige Sache – den Komfort! Das ist doch die leichteste Lösung der Aufgabe! Es ist so verführerisch klar, und man braucht gar nicht zu denken! Das ist auch die Hauptsache, daß man nicht zu denken braucht! Das ganze Geheimnis des Lebens findet auf zwei Druckbogen Platz!«