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»Wie der in Schwung gekommen ist, er trommelt nur so! Man müßte ihn an den Händen festhalten!« bemerkte lachend Porfirij. »Denken Sie sich nur,« wandte er sich an Raskolnikow, »so ging es auch gestern abend zu, sechsstimmig, und vorher hat er noch alle mit Punsch betrunken gemacht! Können Sie sich das vorstellen? Nein, Bruder, du redest Unsinn: das ›Milieu‹ hat im Verbrechen viel zu sagen, das will ich dir beweisen.«

»Ich weiß auch selbst, daß es viel zu sagen hat, aber beantworte mir diese Frage: ein Vierzigjähriger schändet ein zehnjähriges Mädchen; hat ihn das Milieu dazu gezwungen?«

»Nun, im strengen Sinne vielleicht auch wirklich das Milieu!« antwortete Porfirij mit merkwürdigem Ernst. »Das am Mädchen verübte Verbrechen kann man sogar sehr gut mit dem ›Milieu‹ erklären.«

Rasumichin wurde fast rasend.

»Nun will ich dir gleich beweisen,« brüllte er, »daß du nur deshalb weiße Wimpern hast, weil der Glockenturm ›Iwan der Große‹ zu Moskau fünfunddreißig Klafter hoch ist; und ich beweise es dir klar, genau, fortschrittlich und sogar mit einem Stich ins Liberale! Ich übernehme es! Willst du wetten?«

»Ich nehme die Wette an! Wollen wir mal hören, wie er das beweisen wird!«

»Er verstellt sich ja bloß, zum Teufel!« rief Rasumichin. Er sprang auf und winkte abwehrend mit der Hand. »Lohnt es sich denn überhaupt davon zu sprechen? Er meint es ja gar nicht ernst, du kennst ihn noch nicht, Rodion! Auch gestern nahm er für die andern Partei, nur um sie zum Narren zu halten. Und was er gestern zusammengeredet hat – mein Gott! Und die freuten sich noch über ihn! ... Er kann zuweilen zwei Wochen lang so eine Rolle spielen. Im vorigen Jahre redete er uns aus irgendeinem Grunde ein, daß' er ins Kloster gehen wolle: zwei Monate hielt er daran fest! Neulich versicherte er uns, daß er heirate und daß schon alles für die Hochzeit bereit sei. Ließ sich sogar neue Kleider machen. Wir gratulierten ihm sogar schon. Es war aber weder eine Braut da noch sonst etwas – alles eine Fata Morgana!«

»Es ist nicht wahr! Die Kleider hatte ich mir schon vorher machen lassen. Die Kleider brachten mich eben auf den Gedanken, euch alle anzuführen.«

»Können Sie sich wirklich so gut verstellen?« fragte Raskolnikow wie nebenbei.

»Glaubten Sie vielleicht, nicht? Warten Sie, ich will auch Sie anführen, ha-ha-ha! Nein, sehen Sie, ich will Ihnen die ganze Wahrheit sagen. Anläßlich aller dieser Fragen, Verbrechen, kleiner Mädchen, des Milieus ist mir eben ein kleiner Aufsatz von Ihnen eingefallen – er hat mich übrigens immer interessiert. Er heißt ›Vom Verbrechen‹ oder so ähnlich, ich weiß nicht mehr genau. Vor zwei Monaten hatte ich das Vergnügen, ihn im ›Periodischen Wort‹ zu lesen.«

»Meinen Aufsatz? Im ›Periodischen Wort?‹« fragte Raskolnikow erstaunt. »Ich habe wohl vor einem halben Jahre, als ich die Universität verlassen hatte, anläßlich eines gewissen Buches einen Aufsatz geschrieben; ich habe ihn aber damals der Zeitung ›Wöchentliches Wort‹ und nicht ›Periodisches Wort‹ gegeben!«

»Und er erschien doch im ›Periodischen‹!«

»Das ›Wöchentliche Wort‹ ist ja eingegangen, darum ist mein Aufsatz auch nicht erschienen ...«

»Das stimmt; doch das eingegangene ›Wöchentliche Wort‹ hat sich mit dem ›Periodischen Wort‹ vereinigt. Darum erschien auch Ihr Aufsatz vor zwei Monaten im ›Periodischen Wort‹. Wußten Sie es denn nicht?«

Raskolnikow wußte wirklich nichts.

»Aber ich bitte Sie! Sie können für den Aufsatz sogar Geld verlangen! Was haben Sie aber für einen Charakter! Sie leben so zurückgezogen, daß Sie selbst von solchen Dingen, die Sie direkt angehen, nichts wissen. Das ist doch eine Tatsache.«

»Bravo, Rodja! Auch ich wußte es nicht!« rief Rasumichin. »Heute noch laufe ich in die Bibliothek und lasse mir diese Nummer geben. Vor zwei Monaten? Welche Nummer war es denn? Nun, es ist gleich, ich finde ihn auch so! So eine Sache! Und er sagt nichts davon!«

»Wie erfuhren Sie, daß der Aufsatz von mir ist? Er ist doch bloß mit einem Buchstaben gezeichnet.«

»Ich erfuhr es ganz zufällig, dieser Tage. Vom Redakteur, ich bin mit ihm bekannt ... Der Aufsatz hat mich sehr interessiert.«

»Ich untersuchte, wenn ich mich recht erinnere, den psychischen Zustand des Verbrechers während des ganzen Ganges des Verbrechens.«

»Jawohl. Und Sie behaupten, daß die Ausführung eines Verbrechens stets von einer Krankheit begleitet werde. Sehr, sehr originell, aber mich interessierte übrigens weniger dieser Teil Ihres Aufsatzes als ein gewisser Gedanke, der am Schlusse des Aufsatzes ausgesprochen wird, den Sie aber leider nur andeutungsweise und unklar behandeln ... Mit einem Worte, wenn Sie sich noch erinnern können, Sie deuten an, daß es in der Welt angeblich solche Menschen gibt, die tun können ... das heißt nicht können, sondern das volle Recht dazu haben, jede Gewalttat und jedes Verbrechen zu begehen, und daß für diese Menschen das Gesetz nicht existiert.«

Raskolnikow lächelte über die krasse und absichtliche Verdrehung seiner Idee.

»Wie? Was? Ein Recht auf Verbrechen? Aber doch nicht, weil das ›Milieu‹ schuld ist?« rief Rasumichin beinahe erschrocken.

»Nein, nein, nicht ganz aus dem Grunde«, antwortete Porfirij. »Es handelt sich darum, daß er in seinem Aufsatz die Menschen in ›gewöhnliche‹ und ›ungewöhnliche‹ einteilt. Die Gewöhnlichen müssen gehorsam sein und haben kein Recht, das Gesetz zu übertreten, weil sie eben gewöhnliche sind. Die Ungewöhnlichen haben aber das Recht, jedes Verbrechen zu begehen und jedes Gesetz zu übertreten gerade deshalb, weil sie ungewöhnlich sind. So haben Sie es doch gemeint, wenn ich nicht irre?«

»Wie ist denn das? Es kann nicht sein, daß er es so gemeint hat!« murmelte Rasumichin ganz verständnislos.

Raskolnikow lächelte wieder. Er hatte sofort begriffen, was los war und worauf man ihn bringen wollte; an seinen Aufsatz konnte er sich wohl erinnern. Er entschloß sich, die Herausforderung anzunehmen.

»Ich habe es nicht ganz so ausgesprochen«, begann er einfach und bescheiden. »Übrigens, ich muß gestehen, Sie haben ihn fast richtig wiedergegeben, wenn Sie wollen, sogar vollkommen richtig ... (Er tat so, als sei es ihm sehr angenehm, zuzugeben, daß man seinen Gedanken richtig wiedergegeben habe.) Der Unterschied liegt einzig darin, daß ich durchaus nicht behauptet habe, daß die ungewöhnlichen Menschen unbedingt müßten und verpflichtet seien, alle die Gewalttätigkeiten, wie Sie sie nennen, zu verüben. Mir scheint sogar, die Zensur würde einen solchen Aufsatz gar nicht durchlassen. Ich deutete ganz einfach an, daß der ›ungewöhnliche‹ Mensch das Recht habe ... das heißt nicht ein offizielles Recht, sondern ein in ihm selbst begründetes Recht, seinem Gewissen zu erlauben ... sich über gewisse Hindernisse hinwegzusetzen, und das einzig in dem Falle, wenn die Verwirklichung seiner Idee (die zuweilen vielleicht für die ganze Menschheit heilbringend ist) dieses verlangt. Sie belieben zu sagen, daß mein Aufsatz nicht ganz klar sei; ich bin bereit, ihn Ihnen nach Möglichkeit zu erklären. Vielleicht irre ich mich auch nicht, wenn ich annehme, daß Sie es wollen: ich tue es gern. Ich glaube, daß wenn die Entdeckungen Newtons und Keplers infolge irgendwelcher Kombinationen der Menschheit in keiner anderen Weise bekannt werden könnten, als durch die Opferung des Lebens von einem, zehn oder hundert Menschen, die diese Entdeckung störten oder ihr als Hindernis im Wege stünden, so hätte Newton das Recht und sogar die Pflicht gehabt, diese zehn oder hundert Menschen zu beseitigen, um seine Entdeckungen der ganzen Menschheit bekanntzumachen. Daraus folgt übrigens noch nicht, daß Newton das Recht hätte, jeden beliebigen Menschen zu ermorden oder jeden Tag auf dem Markte zu stehlen. Weiter entwickelte ich, wenn ich mich recht erinnere, den Gedanken, daß alle ... sagen wir Gesetzgeber und Aufbauer der Menschheit, angefangen von den allerältesten, dann Lykurg, Solon, Mohammed, Napoleon und so weiter, ausnahmslos Verbrecher gewesen seien, schon aus dem Grunde, weil sie, indem sie ein neues Gesetz aufstellten, ein altes, von der Gesellschaft heilig gehaltenes und von den Vätern übernommenes Gesetz verletzten und selbstverständlich auch vor dem Blutvergießen nicht haltmachten, wenn nur das Blut (das zuweilen ganz unschuldig war und für das alte Gesetz ruhmreich vergossen wurde) ihnen helfen konnte. Es ist sogar bemerkenswert, daß diese Wohltäter und Aufbauer der Menschheit zum größten Teil furchtbare Blutvergießer waren. Mit einem Worte, ich folgere, daß alle, nicht nur die großen, sondern auch die nur einigermaßen außerhalb des Geleises gehenden Menschen, die auch nur ein wenig befähigt sind, etwas Neues zu sagen, ihrer Natur nach unbedingt mehr oder weniger Verbrecher sein müssen. Sonst wäre es ihnen zu schwer, aus dem Geleise herauszukommen; aber im Geleise bleiben können sie auch nicht, wiederum ihrer Natur nach; meiner Ansicht nach dürfen sie es sogar nicht. Mit einem Worte, Sie sehen, es steht darin bisher eigentlich nichts Neues. Dies ist schon tausendmal gedruckt und gelesen worden. Und was meine Einteilung der Menschen in gewöhnliche und ungewöhnliche betrifft, so gebe ich zu, daß sie etwas willkürlich ist, aber ich bestehe auch nicht auf genauen Zahlen. Ich glaube nur an meinen leitenden Gedanken. Dieser besteht eben darin, daß die Menschen überhaupt nach dem Naturgesetz in zwei Kategorien zerfallen; in die Niederen (die Gewöhnlichen), das heißt, sozusagen, das Material, das einzig zur Fortpflanzung gleicher Individuen dient, und in eigentliche Menschen, das heißt solche, die das Talent oder die Gabe haben, der Gesellschaft ihr eigenes neues Wort zu verkünden. Es gibt natürlich zahllose Zwischenstufen, doch die Unterscheidungsmerkmale der beiden Kategorien sind ziemlich scharf. Die erste Kategorie, das heißt ganz allgemein gesagt das Material, die ihrer Natur nach konservativen, soliden Menschen, leben im Gehorsam und lieben es, gehorsam zu sein. Meiner Ansicht nach sind sie auch verpflichtet, gehorsam zu sein, und das ist in keiner Weise erniedrigend für sie. Die Vertreter der zweiten Kategorie übertreten sämtlich das Gesetz, sie sind Zerstörer oder neigen dazu, je nach ihren Anlagen. Die Verbrechen dieser Menschen sind natürlich relativ und verschiedenartig; meistens fordern sie in den verschiedensten Manifestationen die Zerstörung des Bestehenden im Namen eines Besseren. Wenn aber so einer zur Verwirklichung seiner Idee meinetwegen über eine Leiche oder über Blut hinwegschreiten maß, so darf er sich innerlich, vor seinem Gewissen, meiner Ansicht nach, die Erlaubnis geben, über das Blut hinwegzuschreiten – übrigens je nach der Idee und ihrer Größe –, was ich Sie zu beachten bitte. Nur in diesem Sinne spreche ich in meinem Aufsatz über das Recht solcher Menschen auf Verbrechen. (Entsinnen Sie sich, bitte, daß wir mit einer juristischen Frage angefangen haben.) Übrigens liegt keine Ursache zur Beunruhigung vor: die Menge erkennt ihnen dieses Recht fast nie zu, sie richtet sie hin und hängt sie (mehr oder weniger) und erfüllt dadurch vollkommen richtig ihre konservative Bestimmung, doch mit der Folge, daß die gleiche Menge in den folgenden Generationen die Hingerichteten auf ein Piedestal erhebt und anbetet (mehr oder weniger). Die erste Kategorie ist immer die Herrin der Gegenwart, die zweite – die Herrin der Zukunft. Die ersteren erhalten die Welt und vermehren sie quantitativ; die letzteren bewegen die Welt und führen sie ans Ziel. Die einen wie die anderen haben das vollkommen gleiche Recht zu existieren. Mit einem Worte, alle haben bei mir das gleiche Recht, und – vive la guerre éternelle – bis zum neuen Jerusalem natürlich!«