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Der Kleinbürger sah ihn nicht an.

»Was sagen Sie ... was ... wer ist der Mörder?« murmelte Raskolnikow kaum hörbar.

»Du bist der Mörder«, sagte jener noch deutlicher und eindringlicher mit dem Lächeln eines gehässigen Triumphes und blickte wieder Raskolnikow ins bleiche Gesicht und in seine gebrochenen Augen.

Sie erreichten die Straßenecke. Der Kleinbürger schwenkte nach links ab und ging weiter, ohne sich umzusehen. Raskolnikow blieb stehen und blickte ihm lange nach. Er sah, wie jener, nachdem er an die fünfzig Schritte gegangen war, sich umwandte und ihn, der noch immer unbeweglich auf dem gleichen Fleck stand, ansah. Er konnte ihn nicht mehr genau unterscheiden, doch Raskolnikow kam es vor, als hätte jener wieder kalt, gehässig und triumphierend gelächelt.

Mit langsamen, schwachen Schritten, mit schlotternden Knien, wie erfroren, kehrte Raskolnikow um und ging in seine Kammer hinauf. Er nahm seine Mütze ab, legte sie auf den Tisch und stand an die zehn Minuten unbeweglich daneben. Dann legte er sich entkräftet aufs Sofa und streckte sich krankhaft mit leisem Stöhnen darauf aus; seine Augen waren geschlossen. So lag er etwa eine halbe Stunde.

Er dachte an nichts. Er hatte wohl irgendwelche Gedanken oder Bruchstücke von Gedanken im Kopfe, irgendwelche Vorstellungen ohne Ordnung und ohne Zusammenhang –, es waren die Gesichter von Menschen, die er in seiner Kindheit gesehen hatte oder denen er nur einmal irgendwo begegnet war und die ihm sonst niemals eingefallen wären; der Glockenturm der W–schen Kirche; das Billard in einem gewissen Wirtshause und ein Offizier neben dem Billard; Zigarrengeruch in einem Tabakladen im Kellergeschoß; eine Schenke, eine ganz finstere, mit Schmutzwasser begossene und mit Eierschalen bedeckte Hintertreppe, und irgendwo tönte das sonntägliche Geläute von Kirchenglocken ... Die Gegenstände wechselten ab und drehten sich wie im Wirbel. Manche von ihnen gefielen ihm sogar, und er klammerte sich an sie fest, sie erloschen aber, und etwas bedrückte ihn innerlich, doch nicht allzu heftig. Zuweilen war es ihm sogar recht wohl ... Das leichte Frösteln wollte nicht vergehen, und auch diese Empfindung war fast angenehm.

Er hörte die schnellen Schritte Rasumichins und seine Stimme; er schloß die Augen und stellte sich schlafend. Rasumichin öffnete die Tür und stand eine Weile wie nachdenklich auf der Schwelle. Dann trat er leise ins Zimmer und ging vorsichtig zum Sofa. Nastasja flüsterte:

»Laß ihn; soll er nur ausschlafen; er wird später essen.«

»Hast recht«, antwortete Rasumichin.

Die beiden gingen hinaus und machten die Tür zu. Es verging noch etwa eine halbe Stunde. Raskolnikow schlug die Augen auf, warf sich wieder auf den Rücken und steckte die Hände unter den Kopf.

– Wer ist er? Wer ist dieser aus der Erde erschienene Mensch? Wo ist er gewesen, und was hat er gesehen? Er hat doch alles gesehen, das ist zweifellos. Wo hat er damals gestanden, und von wo aus hat er es gesehen? Warum kommt er erst jetzt aus der Erde gestiegen? Und wie konnte er es sehen –, ist es denn möglich? ... Hm! ... – fuhr Raskolnikow fort, am ganzen Leibe fröstelnd und zitternd. – Und das Etui, das Nikolai hinter der Tür gefunden hat: ist denn auch das möglich? Beweise? Man übersieht ein Hunderttausendstel, und daraus entsteht ein Beweis, so gewaltig wie eine ägyptische Pyramide! Eine Fliege ist vorbeigeflogen, und die hat es gesehen! Ist es denn möglich? ... –

Er fühlte mit Ekel, wie schwach er geworden war, physisch schwach.

– Nein, solche Menschen sind nicht so gemacht; ein wahrer Herrscher, dem alles erlaubt ist, bombardiert Toulon, veranstaltet ein Gemetzel in Paris, vergißt eine Armee in Ägypten, verliert eine halbe Million Menschen im Moskauer Feldzuge und zieht sich in Wilna durch ein Wortspiel aus der Affäre, und doch errichtet man ihm nach seinem Tode Denkmäler –, also ist alles erlaubt. Nein, solche Menschen sind offenbar nicht aus Fleisch, sondern aus Bronze gemacht! –

Ein plötzlicher, ganz abseits liegender Gedanke brachte ihn fast zum Lachen.

– Napoleon, die Pyramiden, Waterloo, und die magere alte Registratorswitwe, die Wucherin mit der roten Truhe unter dem Bette, wie soll das selbst ein Porfirij Petrowitsch verdauen können! ... Wie sollen sie es auch verdauen! ... Diese Ästhetik ist ihnen im Wege: »Wird so ein Napoleon«, werden sie sagen, »zu so einer Alten unters Bett kriechen! Ach, ekelhaft!«

Zeitweise schien es ihm, daß er phantasiere; er verfiel in eine fieberhafte Verzückung.

– Die Alte ist Unsinn! – sagte er sich erregt und stoßweise. – Die Alte ist vielleicht ein Irrtum, und es handelt sich gar nicht um sie! Die Alte war nur eine Krankheit ... ich wollte nur schnell hinüberschreiten ... ich habe nicht einen Menschen getötet, ich habe ein Prinzip getötet! Das Prinzip habe ich wohl getötet, bin aber nicht hinübergeschritten, ich bin diesseits geblieben ... Ich verstand nur zu töten! Und auch das habe ich nicht mal verstanden, wie es sich jetzt herausstellt ... Das Prinzip? Warum hat der einfältige Rasumichin vorhin so auf die Sozialisten geschimpft? Sie sind doch fleißige und betriebsame Leute; sie befassen sich mit dem ›allgemeinen Glück‹. Nein, das Leben ist mir nur einmal gegeben und wird sich nie wiederholen; ich will nicht auf das ›allgemeine Glück‹ warten. Ich will auch selbst leben, sonst lieber gar nicht leben. Nun, ich wollte nur nicht an einer hungrigen Mutter, meinen Rubel in der Tasche festhaltend, vorbeigehen in Erwartung des ›allgemeinen Glücks‹. ›Ich trage einen kleinen Baustein zum allgemeinen Glück bei mir und fühle darum Seelenruhe.‹ Hahaha! Warum seid ihr an mir vorbeigegangen? Ich lebe ja nur ein einziges Mal, ich will ja auch ... Ach, ich bin nur eine ästhetische Laus und mehr nicht – fügte er plötzlich hinzu, wie ein Irrsinniger lachend. – Ja, ich bin tatsächlich eine Laus – fuhr er fort, sich mit Schadenfreude an den Gedanken klammernd, in ihm wühlend, mit ihm spielend, sich über ihn freuend. – Und schon aus dem Grunde, weil ich, erstens, jetzt daran denke, daß ich eine Laus bin; zweitens, weil ich einen ganzen Monat lang die allgütige Vorsehung belästigte, indem ich sie zum Zeugen anrief, daß ich es nicht um meines Fleisches und meiner Lust willen unternehme, sondern ein großartiges und angenehmes Ziel vor mir habe – haha! Und drittens, weil ich mir vorgenommen hatte, die größtmöglichste Gerechtigkeit, Gewicht und Maß und die Arithmetik bei der Ausführung zu beobachten: unter allen Läusen hatte ich die nutzloseste gewählt und mir vorgenommen, nach ihrer Ermordung von ihr nur so viel zu nehmen, als ich für den ersten Schritt brauche, nicht mehr und nicht weniger (der Rest würde aber laut Testament dem Kloster zufallen –, ha ha! ...). Ich bin darum endgültig eine Laus – fügte er zähneknirschend hinzu –, weil ich vielleicht noch ekelhafter und schlimmer bin als die ermordete Laus und weil ich vorausahnte, daß ich mir dies alles nach dem Morde sagen würde! Läßt sich denn etwas mit diesem Entsetzen vergleichen?! Oh, diese Banalität! Oh, diese Gemeinheit! ... Oh, wie ich den ›Propheten‹ mit dem Säbel in der Hand, auf dem Pferde reitend, begreife: Allah befiehlt, und die ›zitternde‹ Kreatur muß gehorchen! Recht, tausendmal recht hat der Prophet, wenn er irgendwo quer über die Straße eine orrrdentliche Batterie aufstellt und den Unschuldigen und Schuldigen niederknallt, ohne sich sogar zu einer Erklärung herabzulassen! Gehorche, zitternde Kreatur, und wolle nichts, denn es ist nicht deine Sache! ... Oh, um nichts in der Welt werde ich es der gemeinen Alten verzeihen! –

Sein Haar war mit Schweiß bedeckt, die zitternden Lippen waren eingetrocknet und der starre Blick auf die Decke gerichtet.

– Mutter, Schwester, wie liebte ich sie! Warum hasse ich sie jetzt? Ja, ich hasse sie; ich hasse sie physisch, ich kann ihre Nähe nicht ertragen ... Vorhin ging ich auf die Mutter zu und küßte sie, ich erinnere mich noch ... Sie umarmen und dabei denken, daß, wenn sie es wüßte ... ich es ihr vielleicht sagen würde? Das sähe mir ähnlich ... Hm! sie muß ebenso sein wie ich – fügte er hinzu, seine Gedanken mühevoll fortspinnend, wie gegen einen Fieberanfall ankämpfend. – Oh, wie hasse ich jetzt die Alte! Ich glaube, ich würde sie noch einmal ermorden, wenn sie zu sich käme! Arme Lisaweta! Warum kam sie dazwischen! ... Es ist aber sonderbar, warum ich an sie fast gar nicht denke, als hätte ich sie gar nicht ermordet! ... Lisaweta! Ssonja! Ihr Armen, Sanften mit sanften Augen ... Ihr Lieben! Warum weinen sie nicht? Warum stöhnen sie nicht? ... Sie geben alles hin ... sie blicken sanft und still ... Ssonja, Ssonja! Stille Ssonja! ... –