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Er verlor das Bewußtsein; so sonderbar erschien es ihm, daß er nicht mehr wußte, wie er auf die Straße geraten war. Es war schon später Abend. Die Dämmerung verdichtete sich, der Vollmond leuchtete immer greller und greller; aber die Luft war so furchtbar drückend. In den Straßen bewegten sich Mengen von Menschen; Handwerker und anderes Arbeitsvolk gingen heim, andere gingen spazieren; es roch nach Kalk, Staub und stehendem Wasser. Raskolnikow ging traurig und bekümmert dahin: er wußte noch sehr gut, daß er mit einer bestimmten Absicht das Haus verlassen hatte, daß er etwas tun sollte und sich beeilen mußte, doch was er zu tun hatte, das wußte er nicht mehr. Plötzlich sah er auf dem Trottoir, auf der anderen Straßenseite einen Mann stehen und ihm mit der Hand winken. Er ging über die Straße auf ihn zu, der Mann wandte sich aber um und ging, als wäre nichts geschehen, weiter, den Kopf gesenkt, ohne sich umzuwenden und ohne sich anmerken zu lassen, daß er ihm gewinkt habe. – Hat er mir denn auch wirklich gewinkt? – dachte Raskolnikow, ging ihm aber dennoch nach. Als ihn nur noch zehn Schritte von ihm trennten, erkannte er ihn plötzlich und erschrak; es war der Kleinbürger von vorhin, im gleichen Schlafrocke und in ebenso gekrümmter Haltung. Raskolnikow ging in einiger Entfernung hinter ihm, sein Herz klopfte; sie bogen in eine Quergasse ab, jener wandte sich noch immer nicht um. – Weiß er auch, daß ich ihm folge? – fragte sich Raskolnikow. Der Kleinbürger trat in das Tor eines großen Hauses. Raskolnikow ging schnell auf das Tor zu und sah hinein, ob jener sich nicht umschauen und ihm winken würde. Und in der Tat, nachdem er den ganzen Torweg durchschritten hatte und schon in den Hof trat, wandte er sich plötzlich um und winkte ihm scheinbar wieder zu. Raskolnikow trat sofort in das Tor, der Kleinbürger war aber nicht mehr auf dem Hofe. Also ist er soeben die erste Treppe hinaufgegangen. Raskolnikow stürzte ihm nach. Und in der Tat, ein paar Treppen höher ließen sich gleichmäßige, langsame Schritte vernehmen. Seltsam, die Treppe kam ihm so bekannt vor! Da ist auch das Fenster im Erdgeschoß; traurig und geheimnisvoll drang das Mondlicht durch die Fensterscheiben; da ist auch der erste Stock. Ach, das ist ja die gleiche Wohnung, in der die Anstreicher gearbeitet haben! ... Wie hat er es bloß nicht sofort erkannt? Die Schritte des vor ihm gehenden Mannes waren verhallt: – er ist also stehengeblieben oder hat sich irgendwo versteckt. – Da ist auch der zweite Stock; soll er noch weiter gehen? Und wie still es da ist, es ist sogar schrecklich ... Er ging aber weiter. Das Geräusch seiner eigenen Schritte erschreckte und beunruhigte ihn. Gott, wie dunkel! Der Kleinbürger lauert hier sicher irgendwo in einer Ecke. Ach! Die Wohnung steht weit offen; er überlegt und tritt ein. Im Vorzimmer ist es sehr dunkel und leer, keine Seele, als hätte man alles hinausgetragen. Ganz leise, auf den Fußspitzen trat er in die Stube: das ganze Zimmer war von grellem Mondlicht durchflutet; alles war noch beim alten: die Stühle, der Spiegel, das gelbe Sofa und die Bilder in den Rahmen. Der riesengroße, runde, kupferrote Mond blickte gerade zum Fenster herein. – Diese Stille kommt vom Mond – dachte Raskolnikow – er gibt wohl ein Rätsel zum Raten auf. – Er stand da und wartete, er wartete lange, und je stiller der Mond war, um so stärker klopfte sein Herz, es tat ihm sogar weh. Und immer diese Stille. Plötzlich hörte er ein trockenes kurzes Knacken, als hätte man einen Span gebrochen, und wieder war alles still. Eine erwachte Fliege schlug im Fluge gegen die Fensterscheibe und summte traurig. Im gleichen Augenblick sah er in der Ecke zwischen dem kleinen Schrank und dem Fenster etwas wie einen an der Wand hängenden Pelzmantel. – Wie kommt dieser Pelzmantel her? – fragte er sich. – Er war doch früher nicht da ... – Er kam leise näher und erriet, daß hinter dem Pelzmantel sich jemand versteckt hielt. Vorsichtig schob er mit der Hand den Pelzmantel zur Seite und sah einen Stuhl stehen; auf dem Stuhle aber in der Ecke saß die Alte, ganz zusammengekrümmt und den Kopf geneigt, so daß er ihr Gesicht nicht erkennen konnte, aber sie war es. Er stand eine Weile über sie gebeugt. – Sie fürchtet sich! – dachte er. Dann befreite er das Beil vorsichtig aus der Schlinge und schlug die Alte auf den Schädel, einmal und noch einmal. Aber seltsam: sie rührte sich nicht mal unter den Schlägen, als wäre sie aus Holz. Er erschrak, beugte sich tiefer und begann sie zu betrachten; sie aber senkte den Kopf noch tiefer. Nun beugte er sich ganz tief zu Boden und blickte ihr von unten ins Gesicht; er blickte sie an und erstarrte; die Alte saß da und lachte, sie schüttelte sich vor leisem, unhörbarem Lachen, das sie mit aller Kraft zurückhielt, damit er es nicht höre. Plötzlich schien es ihm, daß die Tür aus dem Schlafzimmer ein klein wenig aufginge und daß man auch dort lache und tuschele. Er wurde rasend; aus aller Kraft schlug er die Alte auf den Kopf, doch nach jedem Beilhieb klangen das Lachen und Tuscheln im Schlafzimmer lauter und vernehmlicher, und die Alte schüttelte sich vor Lachen. Er wollte weglaufen, doch das Vorzimmer war schon voller Menschen, die Tür zur Treppe stand offen, und auf dem Treppenaufsatz und auch auf der Treppe weiter unten stehen Menschen Kopf an Kopf, alle schauen, doch alle lauern und warten und schweigen ... Sein Herz krampfte sich zusammen, die Füße konnten sich nicht rühren, waren wie angewachsen ... Er wollte aufschreien und – erwachte.

Er holte schwer Atem –, aber seltsam, der Traum dauerte noch gleichsam fort: seine Tür stand weit offen, und auf der Schwelle stand ein ihm völlig unbekannter Mann, der ihn aufmerksam betrachtete.

Raskolnikow hatte die Augen noch nicht ganz geöffnet und schloß sie sofort wieder. Er lag auf dem Rücken und rührte sich nicht.

– Ist das eine Fortsetzung des Traumes oder nicht? – dachte er sich und hob ein wenig die Wimpern, um zu sehen: der Fremde stand noch auf dem gleichen Fleck und betrachtete ihn noch immer.

Plötzlich trat er vorsichtig über die Schwelle, schloß die Tür behutsam hinter sich, ging an den Tisch und wartete eine Weile – während dieser ganzen Zeit wandte er von ihm keinen Blick –, dann setzte er sich leise, geräuschlos auf den Stuhl neben das Sofa, stellte den Hut auf den Boden neben sich, stützte beide Hände auf den Stock und legte das Kinn auf die Hände. Offenbar schickte er sich an, lange zu warten. Soweit man durch die zuckenden Wimpern sehen konnte, war es ein nicht mehr junger, korpulenter Herr mit einem dichten, hellen, fast weißen Vollbart ...

Es vergingen an die zehn Minuten. Es war noch hell, aber der Abend brach schon an. Im Zimmer herrschte völlige Stille. Selbst von der Treppe drang kein Laut herein. Nur eine große Fliege summte und schlug im Fluge gegen die Scheibe. Endlich wurde dies unerträglich: Raskolnikow erhob sich plötzlich und setzte sich auf dem Sofa auf.

»Nun, sagen Sie, was wollen Sie?«

»Ich wußte ja, daß Sie nicht schlafen und sich nur so stellen«, antwortete der Fremde seltsam und lachte ruhig. »Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle: Arkadij Iwanowitsch Swidrigailow ...«