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Hier hielt sie wieder inne, da sie schamhaft ahnte, daß ihre Stimme wieder zittern und versagen würde ...

»Jesus spricht zu ihr: Dein Bruder soll auferstehen. Martha spricht zu ihm: Ich weiß wohl, daß er aufstehen wird in der Auferstehung am Jüngsten Tage. Jesus spricht zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubet, der wird leben, ob er gleich stürbe; und wer da lebet und glaubet an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das? Sie spricht zu ihm (Ssonja holte wie mit Schmerz Atem und las deutlich und mit Kraft, als verkündete sie es selbst allen Ohren): Herr, ja! Ich glaube, daß du bist Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen ist.«

Sie hielt wieder inne, sah ihn schnell an, überwand sich aber und las weiter. Raskolnikow saß und hörte zu, ohne sich zu rühren, ohne sich umzuwenden, die Ellbogen auf dem Tisch, den Blick auf die Seite gerichtet. So kamen sie zum 32. Vers:

»Als nun Maria kam, da Jesus war, und sah ihn, fiel sie zu seinen Füßen und sprach zu ihm: Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. Als Jesus sie sah weinen und die Juden auch weinen, die mit ihr kamen, ergrimmte er im Geist und betrübte sich selbst und sprach: Wo habt ihr ihn hingelegt? Sie sprachen zu ihm: Herr, komm und sieh es. Und Jesus gingen die Augen über. Da sprachen die Juden: Siehe, wie hat er ihn so lieb gehabt! Etliche aber unter ihnen sprachen: Konnte, der dem Blinden die Augen aufgetan hat, nicht verschaffen, daß auch dieser nicht stürbe?«

Raskolnikow wandte sich zu ihr um und sah sie erregt an. Ja, so ist es! Sie zitterte schon ganz in wirklichem, echtem Fieber. Er hatte es erwartet. Sie näherte sich der Stelle vom wirklichen und unerhörten Wunder, und das Gefühl des größten Triumphes umfing sie ganz. Ihre Stimme klang hell wie Metall; Triumph und Freude klangen in ihr und machten sie stark. Die Zeilen vermischten sich vor ihr, denn es wurde ihr dunkel vor den Augen, aber sie kannte auswendig, was sie las. Bei dem letzten Vers: »Konnte, der dem Blinden die Augen aufgetan hat ...« dämpfte sie die Stimme und gab heiß und leidenschaftlich den Zweifel, Vorwurf und das Schmähen der ungläubigen, blinden Juden wieder, die gleich, wie vom Donner getroffen, niederfallen und schluchzen und glauben werden ... Auch er, er ist blind und ungläubig, auch er wird es gleich hören – und glauben – ja! jetzt gleich, jetzt gleich – sagte sie sich, und sie zitterte in freudiger Erregung.

»Da ergrimmte Jesus abermals in ihm selbst, und kam zum Grabe. Es war aber eine Kluft, und ein Stein darauf gelegt. Jesus sprach: Hebt den Stein ab! Spricht zu ihm Martha, die Schwester des Verstorbenen: Herr, er stinkt schon, denn er ist vier Tage gelegen.«

Sie betonte energisch das Wort vier.

»Jesus spricht zu ihr: Hab ich dir nicht gesagt, so du glauben würdest, du solltest die Herrlichkeit Gottes sehen? Da huben sie den Stein ab, da der Verstorbene lag. Jesus aber hub seine Augen empor und sprach: Vater, ich danke dir, daß du mich erhöret hast; doch ich weiß, daß du mich allezeit hörest; aber um des Volks willen, das umherstehet, sage ich's, daß sie glauben, du habest mich gesandt. Da er das gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus! Und der Verstorbene kam heraus« (laut und begeistert las sie es, zitternd und erschauernd, als sähe sie es mit eigenen Augen), »gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein Angesicht verhüllet mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löset ihn auf und lasset ihn gehen.«

»Viel nun der Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus tat, glaubten an ihn.«

Weiter las sie nicht und konnte auch nicht lesen. Sie schloß das Buch und stand schnell vom Stuhle auf.

»Das ist alles über die Auferstehung des Lazarus«, flüsterte sie kurz und streng und blieb unbeweglich stehen, zur Seite blickend, als wagte sie nicht oder schämte sich, die Augen zu ihm zu erheben. Sie zitterte noch immer wie im Fieber. Der Lichtstumpf im verbogenen Leuchter war schon längst heruntergebrannt und flackerte, sein trübes Licht über dieses armselige Zimmer und den Mörder und die Dirne ergießend, die sich so seltsam beim Lesen des ewigen Buches zusammengefunden hatten. Es vergingen noch fünf Minuten oder mehr.

»Ich bin gekommen, um über etwas Wichtiges zu sprechen«, sagte plötzlich Raskolnikow laut und düster. Er stand auf und ging auf Ssonja zu.

Sie erhob schweigend die Augen zu ihm. Sein Blick war besonders streng, und eine wilde Entschlossenheit drückte sich in seinen Augen aus.

»Ich habe heute die Meinigen verlassen,« sagte er, »Mutter und Schwester ... Ich gehe nicht mehr zu ihnen ... Ich habe alles zerrissen.«

»Warum?« fragte Ssonja ganz bestürzt.

Ihre Begegnung mit seiner Mutter und der Schwester am Morgen hatte auf sie einen ungewöhnlichen Eindruck gemacht, über den sie sich selbst nicht klar war. Die Nachricht vom Bruche mit ihnen hörte sie fast mit Entsetzen.

»Jetzt habe ich dich allein«, fügte er hinzu. »Laß uns zusammen gehen ... Ich bin zu dir gekommen. Wir sind zusammen verdammt und wollen nun auch zusammen gehen!«

Seine Augen funkelten. – Wie ein Verrückter! – dachte nun Ssonja ihrerseits.

»Wohin gehen?« fragte sie erschrocken und wich unwillkürlich einen Schritt zurück.

»Woher soll ich's wissen? Ich weiß nur, daß wir den gleichen Weg haben, das weiß ich sicher, und sonst nichts. Das gleiche Ziel!«

Sie sah ihn an und verstand nicht. Sie begriff nur, daß er entsetzlich, grenzenlos unglücklich war.

»Keiner von ihnen wird etwas verstehen, wenn du zu ihnen sprichst,« fuhr er fort, »ich aber habe dich verstanden. Ich brauche dich, und darum bin ich zu dir gekommen.«

»Ich verstehe nicht ...« flüsterte Ssonja.

»Du wirst später verstehen. Hast du denn nicht dasselbe getan? Auch du hast es übertreten ... hast es übertreten können ... Du hast Hand an dich gelegt, du hast ein Leben zugrunde gerichtet ... dein Leben (es ist dasselbe!). Du hättest von Geist und Verstand leben können, du wirst aber auf dem Heumarkte enden ... Du wirst es aber nicht aushalten können, und wenn du allein bleibst, wirst du den Verstand verlieren wie ich auch. Du bist auch jetzt schon wie wahnsinnig: also müssen wir zusammen gehen, den gleichen Weg! Laß uns gehen!«

»Warum? Wozu das alles?« sagte Ssonja, durch seine Worte seltsam tief bewegt.

»Wozu? Weil es nicht so bleiben darf – dazu! Man muß doch endlich ernst und offen überlegen, statt wie ein Kind zu weinen und zu klagen, daß Gott es nicht zulassen werde! Nun, was wird sein, wenn man dich morgen tatsächlich ins Krankenhaus schleppt? Jene ist nicht bei Verstand und schwindsüchtig, sie wird bald sterben. Und die Kinder? Wird nicht auch Poljetschka zugrundegehen? Hast du denn hier an den Straßenecken nicht die Kinder gesehen, die von ihren Müttern zum Betteln geschickt werden? Ich habe mich erkundigt, wo diese Mütter wohnen und wie sie leben. Dort können die Kinder nicht Kinder bleiben. Dort ist der Siebenjährige verdorben und ein Dieb. Die Kinder sind aber Abbilder Christi: ›Ihrer ist das Himmelreich.‹ Er hat geboten, sie zu achten und zu lieben, sie sind die künftige Menschheit ...«

»Was, was soll man tun?« fragte Ssonja, indem sie hysterisch weinte und die Hände rang.

»Was man tun soll? Was nötig ist, ein für allemal brechen und sonst nichts: und das Leid auf sich nehmen! Was? Du verstehst es nicht? Wirst es später verstehen ... ... Die Freiheit und die Macht, vor allen Dingen die Macht! Die Macht über alle zitternde Kreatur und über den ganzen Ameisenhaufen ... Das ist das Ziel! Begreife das! Diese Worte gebe ich dir auf den Weg! Vielleicht spreche ich jetzt zum letztenmal mit dir. Wenn ich morgen nicht komme, wirst du selbst alles hören, und dann gedenke meiner heutigen Worte. Und irgendwann, später, nach Jahren, wenn du noch länger gelebt hast, wirst du vielleicht begreifen, was sie bedeuteten. Wenn ich aber morgen komme, so werde ich dir sagen, wer Lisaweta ermordet hat. Lebe wohl!«