»Alle diese rührenden Einzelheiten gehen uns gar nichts an, verehrter Herr«, schnitt Ilja Petrowitsch frech ab. »Sie müssen die Erklärung abgeben und die Verpflichtung unterschreiben; aber daß Sie geruht haben, verliebt zu sein, und alle diese tragischen Stellen gehen uns nichts an.«
»Nun, du, das ist schon ... grausam ...« murmelte Nikodim Fomitsch, indem er sich an den Tisch setzte und gleichfalls Papiere zu unterschreiben begann. Er schämte sich irgendwie.
»Schreiben Sie also«, sagte der Sekretär zu Raskolnikow.
»Was soll ich schreiben?« fragte jener besonders grob.
»Ich werde es Ihnen diktieren.«
Raskolnikow schien es, als hätte der Sekretär angefangen, ihn nach seiner Beichte geringschätziger und verächtlicher zu behandeln; doch seltsam: ihm war es plötzlich ganz gleich, was die andern von ihm hielten, und diese Veränderung vollzog sich in ihm augenblicklich, in einem Nu. Wenn er nur ein wenig nachgedacht hätte, so wäre er erstaunt, wie er es fertiggebracht hatte, mit ihnen vor einer Minute so zu sprechen und sich ihnen sogar mit seinen Gefühlen aufzudrängen. Und woher waren diese Gefühle gekommen? Jetzt aber, selbst wenn das Zimmer plötzlich nicht voller Revieraufseher, sondern voll seiner besten Freunde wäre, so hätte er wohl auch für sie kein einziges menschliches Wort finden können – so leer war plötzlich sein Herz geworden. Das finstere Gefühl einer qualvollen, unendlichen Vereinsamung regte sich plötzlich bewußt in seiner Seele. Es war nicht die Erniedrigung durch die Herzensergüsse vor Ilja Petrowitsch und auch nicht die Erniedrigung durch den Triumph des Leutnants über ihn, was diese Veränderung in seinem Herzen verursacht hatte. Ach, was ging ihn seine eigene Erniedrigung, was gingen ihn alle die Ehrbegriffe, Leutnants, Luisa Iwanownas, Wechselforderungen, Bureaus usw. an! Hätte man ihn jetzt zum Feuertode verurteilt, so hätte er sich auch dann nicht gerührt, hätte auch kaum das Urteil aufmerksam angehört. Mit ihm geschah etwas ihm völlig Unbekanntes, etwas Neues, Plötzliches, Niedagewesenes. Er begriff nicht – er empfand es deutlich, mit der ganzen Kraft seines Empfindens, daß es ihm unmöglich war, sich nicht nur mit Gefühlsausbrüchen, sondern womit es auch sei, an diese Menschen im Polizeibureau zu wenden; und wenn es auch seine leiblichen Brüder und keine Polizeileutnants wären – selbst dann hätte es keinen Sinn, sich an sie, unter welchen Lebensumständen es auch sei, zu wenden; bis zu diesem Augenblick hatte er noch nie diese seltsame und erschreckende Empfindung gehabt. Und was das Qualvollste war, – es war mehr eine Empfindung als eine Erkenntnis, als eine Einsicht; eine unmittelbare Empfindung, die qualvollste von allen, die er bisher im Leben gehabt hatte.
Der Sekretär begann ihm den Text der in solchen Fällen üblichen Erklärung zu diktieren, d.h.: zahlen kann ich nicht, verpflichte mich, dann und dann (später einmal) zu bezahlen; werde die Stadt nicht verlassen und mein Eigentum weder verkaufen noch verschenken usw.
»Sie können ja gar nicht schreiben, die Feder fällt Ihnen aus der Hand«, bemerkte der Sekretär, Raskolnikow neugierig anblickend. »Sind Sie krank?«
»Ja ... der Kopf schwindelt mir ... fahren Sie fort!«
»Das ist alles. Unterschreiben Sie nur.«
Der Sekretär nahm ihm das Papier ab und machte sich an eine andere Arbeit.
Raskolnikow gab die Feder zurück, aber statt aufzustehen und wegzugehen, legte er beide Ellenbogen auf den Tisch und preßte den Kopf mit den Händen zusammen. Es war ihm, als wenn man ihm einen Nagel in den Scheitel hineintriebe. Ein seltsamer Gedanke kam ihm plötzlich in den Sinn: sofort aufstehen, auf Nikodim Fomitsch zugehen und ihm alles Gestrige erzählen, alles bis zur letzten Einzelheit; dann mit ihm zusammen in seine Wohnung gehen und ihm die Sachen in der Ecke, im Loch zeigen. Der Drang dazu war so stark, daß er sich schon erhob, um es auszuführen. »Soll ich es mir nicht noch eine Minute überlegen?« ging es ihm durch den Kopf. »Nein, besser ohne nachzudenken, und die Sache ist erledigt!« Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Nikodim Fomitsch erzählte etwas mit großem Feuer Ilja Petrowitsch, und folgende Worte erreichten sein Ohr:
»Es kann nicht sein, man wird beide freilassen. Erstens sind zu viel Widersprüche da; urteilen Sie doch selbst: wozu brauchten Sie den Hausknecht zu rufen, wenn es ihr Werk ist? Etwa um sich selbst anzuzeigen? Oder war es eine List? Nein, das wäre schon zu schlau! Schließlich wurde der Student Pestrjakow im selben Augenblick, als er eintrat, dicht vor dem Tore von den beiden Hausknechten und von der Kleinbürgerin gesehen; er ging mit drei Freunden, von denen er sich vor dem Tore trennte, und erkundigte sich in Gegenwart dieser Freunde bei den Hausknechten nach der Wohnung. Nun, wird ein Mensch nach der Wohnung fragen, wenn er mit einer solchen Absicht gekommen ist? Was aber Koch betrifft, so hat er, bevor er zu der Alten hinaufging, eine halbe Stunde unten beim Silberschmied gesessen und ist genau um dreiviertel acht zu der Alten hinaufgegangen. Überlegen Sie es sich jetzt ...«
»Aber erlauben Sie, wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Sie behaupten selbst, daß sie geklopft haben und daß die Tür verschlossen war, als sie aber nach drei Minuten mit dem Hausknecht kamen, war die Tür plötzlich offen?«
»Das ist eben der Witz: der Mörder hatte sich unbedingt in der Wohnung eingeschlossen, und man hätte ihn dort ganz gewiß erwischt, wenn Koch nicht die Dummheit begangen hätte und nicht selbst nach dem Hausknecht gegangen wäre. Er aber ging gerade in der Zwischenzeit die Treppe hinunter und schlüpfte irgendwie an ihnen vorbei. Koch bekreuzt sich mit beiden Händen: ›Wäre ich dort geblieben,‹ sagt er, ›so wäre er herausgesprungen und hätte mich mit einer Axt erschlagen.‹ Er will sogar einen russischen Dankgottesdienst abhalten lassen, ha-ha!..«
»Den Mörder hat aber niemand gesehen?«
»Wie konnte man ihn auch sehen? Das Haus ist eine Arche Noah«, bemerkte der Sekretär, der von seinem Platz aus zuhörte.
»Die Sache ist klar, die Sache ist klar!« wiederholte Nikodim Fomitsch mit großem Eifer.
»Nein, die Sache ist sehr unklar«, entgegnete Ilja Petrowitsch.
Raskolnikow hob seinen Hut auf und ging zur Tür, aber er erreichte die Tür nicht ...
Als er zu sich kam, sah er sich auf einem Stuhle sitzen: von rechts stützte ihn irgendein Mann, links stand ein anderer Mann mit einem gelben, mit gelbem Wasser gefüllten Glase in der Hand; Nikodim Fomitsch stand vor ihm und sah ihn unverwandt an. Er erhob sich vom Stuhl.
»Was haben Sie, sind Sie krank?« fragte Nikodim Fomitsch ziemlich scharf.
»Schon beim Unterschreiben konnte der Herr kaum die Feder bewegen«, bemerkte der Sekretär, indem er sich wieder auf seinen Platz setzte und die Akten vornahm.
»Sind Sie schon lange krank?« rief Ilja Petrowitsch von seinem Platz, gleichfalls in Akten blätternd.
Auch er hatte selbstverständlich den Kranken betrachtet, als er ohnmächtig war, hatte sich aber sofort zurückgezogen, als jener zu sich kam.
»Seit gestern ...« murmelte Raskolnikow zur Antwort.
»Sind Sie gestern ausgegangen?«
»Ja.«
»Obwohl Sie krank waren?«
»Ja.«
»Um wieviel Uhr?«
»Gegen acht abends.«
»Und wohin, wenn ich fragen darf?«
»Über die Straße.«
»Kurz und bündig.«
Raskolnikow gab seine Antworten scharf und kurz, so bleich wie ein Taschentuch, ohne seine schwarzen entzündeten Augen vor den Blicken Ilja Petrowitschs zu senken.
»Er steht kaum auf den Beinen, und du ...« bemerkte Nikodim Fomitsch.
»Macht gar nichts!« sagte Ilja Petrowitsch in einem eigentümlichen Tone.
Nikodim Fomitsch wollte noch etwas hinzufügen, blickte aber den Sekretär an, der ihn gleichfalls sehr aufmerksam ansah, und sagte nichts. Plötzlich waren alle verstummt. Es war sehr sonderbar.