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Halisstra zitterte, aber nicht vor Erschöpfung, sondern vor Angst und Ekstase, da ihr klar war, daß sie sich schon bald leibhaftig dem prüfenden Blick Lolths würde aussetzen müssen.

Ich bin würdig, sagte sie sich. Ich muß es sein.

Die Dämonen, die sie auf dem Weg hierher geplagt hatten, schienen sich nicht um den schwarzen Tempel zu kümmern. Zumindest folgte ihnen keiner von ihnen, als sie das Netz hinter sich ließen. Lange Zeit marschierten die Drow einfach nur weiter, überquerten den immensen Vorplatz, während die Tempelmauern näher und näher kamen und ihre finsteren Details erkennbar wurden.

Quenthel orientierte sich bei ihrem Marsch an einem scharfen Bruch in der megalithischen Mauer, einer gewaltigen Spalte, die der Säulengang des Tempels gewesen sein mußte. Von Zeit zu Zeit kamen sie an sonderbaren, leblosen Gestalten großer, spinnenartiger Wesen vorbei, die aus flüssigem schwarzen Stein geschaffen zu sein schienen. Sonderbarerweise wurden diese erstarrten Formen um so kleiner, je näher sie der Spalte kamen. Halisstra verwarf es, über dieses Geheimnis nachzudenken, statt dessen konzentrierte sie sich auf das Ziel, das vor ihnen lag.

Dann endlich hatten sie die Öffnung im Tempel erreicht und sahen hinauf zu dem gewaltigen Eingang. Ein Gesicht von unglaublicher Größe starrte sie an, das Gesicht einer grausam schönen Drow, deren Gesichtszüge Ruhe ausstrahlten, als sei sie in Gedanken versunken. Vollkommen glatter Stein versperrte den Eingang von einer Seite bis zur anderen, in ihn war das Gesicht Lolths gehauen. Allein ihre halb geschlossenen Augen, die mit leerem Blick auf die winzigen Verehrer vor ihr herabsahen, kündeten von Leben. In Lolths Augen glänzte eine kochende, höllische Schadenfreude, die gänzlich auf die Gedanken oder Prozesse ausgerichtet war, die sich hinter ihnen abspielten.

Die Gruppe stand da und blickte verwundert und entsetzt zugleich nach oben. Quenthel warf sich vor dem Abbild Lolths zu Boden. Halisstra und Danifae schlossen sich ihr sofort an und knieten auf dem kalten schwarzen Stein. Selbst die Männer gingen auf die Knie, legten das Gesicht auf den Boden und wandten den Blick ab. Tzirik als Priester Vhaerauns ließ sich dazu herab, auf ein Knie niederzugehen und respektvoll den Blick zu senken. Er diente Lolth nicht, doch er und andere seines Glaubens erkannten trotzdem ihre Göttlichkeit an.

»Königin!« rief Quenthel. »Wir sind aus Menzoberranzan gekommen, um dich anzuflehen, deinen Priesterinnen wieder deine Gunst zu erweisen! Unsere Feinde nähern sich Menzoberranzan und drohen deinen Getreuen, sie zu vernichten. Wir bitten dich demütig, uns anzuweisen, was wir tun müssen, um wieder deine Gunst zu erlangen. Gib uns wieder deine heilige Macht, dann werden wir deine Feinde jagen, bis ihr Blut das Unterreich und ihre Seelen deinen Leib füllen!«

Das Gesicht reagierte nicht.

Quenthel wartete lange Zeit, immer noch am Boden liegend, dann benetzte sie ihre Lippen und sprach ein weiteres Gebet. Halisstra und Danifae stimmten in ihre Fürbitten mit ein, und gemeinsam sprachen sie jedes Gebet, jede Beschwörung und jede Litanei, die sie kannten, während sie vor der Tempeltür zu Boden krochen. Die Männer verharrten einfach nur in ihrer unterwürfigen Position. Nach einiger Zeit entfernte sich Tzirik ein Stück und setzte sich von dem Gesicht abgewandt hin, um mit Vhaeraun zu sprechen. Halisstra ignorierte ihn und widmete sich ihren Gebeten.

Nach wie vor kam keine Reaktion.

Nachdem sie einige Stunden mit Beten zugebracht hatten, stand Quenthel schließlich auf und sah in Lolths Gesicht.

»Es reicht, Schwestern«, sagte die Herrin Arach-Tiniliths. »Die Göttin ist im Moment nicht gewillt, uns zu antworten.«

»Vielleicht ist dies der falsche Ort«, wandte Pharaun ein. »Vielleicht müssen wir uns an eine andere Stelle begeben, um zu beten.«

»Es gibt keinen anderen Ort«, sagte Tzirik, der sich wieder der Gruppe anschloß. »Vhaeraun läßt mich wissen, daß dies der einzige Punkt ist, an dem man vom Abyss aus in Lolths Reich vordringen kann. Wenn sie Euch hier nicht anhören will, dann auch nirgendwo anders.«

»Aber warum ignoriert sie uns weiter?« klagte Halisstra. Sie stand auf, ihr Herz schwer vor Sehnsucht. Nach allem, was geschehen war – der Untergang ihres Hauses, die Vernichtung ihrer Stadt, die Strapazen dieser Reise –, konnte sie nicht verstehen, warum sie jetzt vor Lolths Tempel standen und ignoriert wurden. »Was sollen wir noch tun?«

Tzirik zuckte die Achseln. »Diese Frage kann ich nicht beantworten.«

»Lolth auch nicht«, gab Halisstra zurück.

Sie ignorierte den Ungemach und die Angst, die sich auf Quenthels Miene abzeichnete, und trat vor, bis sie nur noch eine Armlänge von dem riesigen Gesicht entfernt war.

»Hörst du mich?« schrie sie. »Antworte! Was haben wir getan, daß du uns mit Mißachtung strafst? Wo bist du?«

»Sprecht mit Respekt!« zischte Quenthel, die vor Entsetzen die Augen aufgerissen hatte.

Ryld zögerte, fand aber die Kraft, einige Schritte vorzutreten.

»Herrin Melarn ...«, sagte er. »Halisstra. Es ist nicht ...«

»Lolth!« schrie Halisstra lauthals. »Antworte mir, verdammt!«

Mit den Fäusten schlug sie auf das Gesicht aus kaltem Stein ein, ihr Verstand wurde von einer animalischen Wut verdrängt, die drohte, ihr jegliche Vernunft zu rauben. Sie schleuderte Lolth Flüche entgegen, sie schlug auf das desinteressierte Gesicht ein, bis ihre Hände blutig waren, aber noch immer kam keine Antwort. Nach einer Weile fand sie sich an den kalten Stein gekauert wieder, heulend, die Hände gebrochen und nutzlos. Wie ein verirrtes Kind heulte sie, weil ihr Herz so wehtat.

»Warum? Warum?« stieß sie zwischen jedem Schluchzer aus, der ihr über die Lippen kam. »Warum hast du uns verstoßen? Warum?«

»Ihr sprecht ketzerische Worte«, sagte Quenthel mit einer Stimme, die vor Mißbilligung schroff war. »Habt Ihr keinen Glauben mehr, Halisstra Melarn? Die Göttin wird sprechen, wenn sie die Zeit für gekommen hält.«

»Glaubt Ihr wirklich noch daran?« murmelte Halisstra.

Sie wandte sich ab und ließ den Tränen freien Lauf, da es sie nicht mehr kümmerte, was Quenthel, Danifae oder einer der anderen von ihr hielten. Sie wollte von Lolth eine Antwort.

»Schwach«, hörte sie Quenthel flüstern.

Tzirik, der ein Stück von der Gruppe entfernt stand, seufzte und sprach: »Das dürfte es wohl gewesen sein. Lolth hat sich nicht entschlossen, für Euch ihr Schweigen zu brechen. Nun gibt es etwas, das ich tun muß.«

Er hob die Arme und beschrieb eine komplexe Abfolge von Gesten, während er Worte der Macht sprach. Die Luft knisterte vor Energie. Als Quenthel den Zauber erkannte, den der Anhänger Vhaerauns sprach, riß sie entsetzt die Augen auf.

»Haltet ihn auf!« kreischte sie und wirbelte zu dem Priester herum.

Sie wollte loseilen und hob ihre todbringende Peitsche, doch Danifae packte ihren Arm, als sie an ihr vorbeistürmen wollte.

»Vorsicht!« zischte sie. »Unsere Körper sind immer noch in der Minauth-Feste.«

»Er öffnet ein Tor!« herrschte Quenthel sie an. »Hier!«

»Was tut Ihr da, Tzirik?« rief Pharaun beunruhigt.

Der Magier wich zurück und setzte zu einem Verteidigungs-zauber an, doch Danifaes Warnung genügte, um ihn zögern zu lassen, ehe er eingriff.

Ryld und Valas hielten sich auch zurück, da sie nicht sicher waren, was geschehen würde, wenn dem Kleriker etwas zustieß, dessen Zauber sie zu Lolth gebracht hatte. Der Waffenmeister und der Söldner zogen zwar blank, schritten aber nicht ein.

»Pharaun, was sollen wir tun?« rief Ryld.

Ehe der Magier antworten konnte, hatte Tzirik seinen Zauber gewirkt. Von einem durchdringenden, reißenden und zerrenden Geräusch begleitet entstand neben dem Jaelre-Priester mitten in der Luft ein großer schwarzer Riß.