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»Ich bin hier, Herr!« rief er in den Riß. »Ich stehe vor Lolths Gesicht.«

Aus den Untiefen der Schwärze dieses Risses ertönte eine Stimme unauslöschlicher Macht und schrecklicher Stärke: »Ich komme.«

Die Schwärze schien sich zu regen, und aus dem Riß trat etwas von der Größe und Statur eines schlanken, eleganten Drow, der aber mehr war, als er zu sein schien. Er war in schwarzes Leder gekleidet, das Gesicht war von einer purpurnen Maske verdeckt, seine ganze Gestalt schien förmlich vor jener Kraft zu erzittern, die sie in sich barg. Selbst Halisstra, die mit dem Rücken zu dieser Szene saß und in ihr eigenes Leid versunken war, riß den Kopf herum, als sie die Ankunft dieses Wesens spürte. Mit gebieterischer Gelassenheit betrachtete das Wesen die Ebene aus dunklem Stein und den schwarzen Tempel.

»Es ist, wie ich es mir dachte«, sagte er zu Tzirik, der vor ihm zu Boden gesunken war. »Erhebe dich, Sohn. Du hast gute Arbeit geleistet und mich an einen Ort gebracht, von dem ich ausgeschlossen war.«

»Ich tat, was mir aufgetragen war, Maskierter Gott«, erwiderte Tzirik und erhob sich.

»Tzirik«, brachte Quenthel mit erstickter Stimme heraus. »Was habt Ihr getan?«

»Er hat mir ein Tor geöffnet«, sagte das Wesen, das nur ein Gott sein konnte, mit einem grausamen Lächeln. »Erkennst du nicht den Sohn deiner Göttin, Priesterin Lolths?«

»Vhaeraun«, keuchte Quenthel.

Der Gott verschränkte seine Arme und schwebte an der Gruppe der Menzoberranzanyr vorüber zu dem steinernen Gesicht, ohne noch einen Gedanken an die Sterblichen zu verschwenden. Mit der Linken machte er eine knappe Geste, woraufhin die noch immer zusammengekauerte Halisstra brutal zur Seite geschleudert wurde. Sie wirbelte durch die Luft und schlug mindestens dreißig Schritt weiter auf dem glatten schwarzen Stein auf, auf dem sie noch ein Stück weit rutschte.

»Mutter«, sagte Vhaeraun zu dem Gesicht. »Es war dumm von dir, dich in einen solchen Zustand zu bringen.«

Spontan begann der Gott zu wachsen, und je größer er wurde, desto intensiver wurde das Strahlen, das ihn umgab. Er übertraf schnell einen Sturmriesen an Größe, aber das genügte offenbar noch nicht für die Aufgabe, die vor ihm lag. Er streckte seine Hand aus, und aus dem Nichts nahm in ihr ein schwarzglänzendes Schattenschwert Gestalt an, das zu seiner gewaltigen Größe paßte.

Einen Speerwurf weit entfernt stöhnte Halisstra auf und hob den Blick von dem kalten Stein, auf dem sie lag. Die Menzoberranzanyr standen vor Unentschlossenheit wie gelähmt da, während Tzirik überheblich grinsend zusah, wie Vhaeraun sich in die Luft erhob, bis er Lolth direkt in die Augen sehen konnte. Langsam holte der Maskierte Gott mit seinem Schattenschwert aus, seine Maske war von Haß verzerrt ... und dann schlug Vhaeraun mit all seiner göttlichen Macht auf Lolths Gesicht ein.

Das Geräusch von Vhaerauns Schwert, das gegen die riesige steinerne Barriere hämmerte, erschütterte die gesamte Ebene. Jeder Hieb ließ den großen schwarzen Tempel im Zentrum des Netzes erzittern, als bebe die Erde. Vom Mittelpunkt aus setzten sich die Schwingungen über die gewaltigen grauen Stränge fort, die bis in die endlose Nacht ringsum reichten. Obwohl sie bei jedem Schlag wieder auf den kalten Steinboden fiel, schaffte es Halisstra, sich zu den anderen Menzoberranzanyr zu begeben, die so wie sie selbst hin und her taumelten und versuchten, sich angesichts von Vhaerauns Attacke auf den Beinen zu halten.

Tzirik stand daneben, immer noch versonnen lächelnd, weil sein Gott zu ihm gekommen war. Irgendwie gelang es ihm, den Schaden zu ignorieren, den der Maskierte Gott anrichtete, da die Schockwellen ihm überhaupt nichts ausmachten. Mit jedem Treffer schien sich das winzige Geflecht aus leuchtend grünen Rissen im Gesicht Lolths ein wenig mehr auszuweiten. Trotz der unermeßlichen Gewalt eines jeden Schlages mit der Klinge des Gottes wirkte Lolths Antlitz fast unverwundbar – fast, aber doch nicht völlig.

Lolth reagiert nicht, dachte Halisstra fassungslos. Es kümmert sie nicht.

Sie fiel auf Hände und Knie und befand sich inmitten der Gruppe ihrer Gefährten, die von ihr nichts wahrnahmen, sondern selbst nur sprachlos Vhaerauns haßerfüllte Attacke mit ansahen. Ryld kniete neben Splitter, hatte den Blick abgewandt und ließ in stoischer Ruhe einen Schlag nach dem anderen über sich ergehen. Valas tänzelte erregt umher und ruderte mit Armen und Beinen wie eine Spinne, die von einer Nadel durchbohrt worden war. Der Späher wußte nicht, ob er zusehen, fliehen oder sich verstecken sollte und schien zu versuchen, alles gleichzeitig zu tun. Pharaun schwebte ein kleines Stück über dem Boden, um sich vor den Erschütterungen zu schützen, und er hatte sich mit irgendeinem Zauber abgeschirmt, während er von seinen Gefährten zu Vhaeraun, dann zu Tzirik und schließlich zurück zu dem Gott sah. Danifae kauerte in seiner Nähe und schaffte es fast anmutig, sich auf den Beinen zu halten, während sie jeden Schlag beobachtete. Quenthel stand stocksteif da, wurde von jeder Erschütterung durchgerüttelt und hatte ihre Arme so eng um sich gelegt, als wolle sie ihre Pein in Schach halten. Sie verfolgte das Geschehen mit einer kranken Faszination, unfähig, einzugreifen.

Dann endlich löste sich Pharaun aus seiner Unentschlossenheit, ließ sich zu Quenthel treiben und faßte sie am Arm.

»Was geschieht hier?« brüllte der Magier ihr ins Ohr. »Was tut er da?«

Quenthel preßte frustriert die Kiefer zusammen.

»Ich weiß nicht«, räumte sie ein. »Hier stimmt etwas nicht. Es ist falsch, hier sind keine Seelen.«

»Was für Seelen?« fragte der Magier. »Sollen wir eingreifen?«

Ryld und Valas Hune sahen gleichzeitig erschrocken auf.

»Er ist ein Gott«, brachte Ryld heraus und übertönte den ohrenbetäubenden Lärm. »Was schlägst du vor?«

»Na gut. Aber bleiben wir und sehen weiter zu oder gehen wir? Das hier scheint kein sicherer Aufenthaltsort zu sein«, erwiderte Pharaun.

Eine weitere Schockwelle traf die Gruppe, Pharauns Schutzschild flammte hell auf.

»Ich bin nicht sicher, ob wir gehen können, selbst wenn wir es wollen«, hielt Ryld dagegen. Er sah zu Tzirik, der dem Ganzen mit finsterem Vergnügen zuzusehen schien. »Brauchen wir ihn nicht?«

»Sollten wir gehen, auch wenn wir uns selbst damit retten?« fügte Valas Hune an. »Man dürfte uns ... das hier ... vorwerfen.« Der Späher schirmte die Augen ab, um nicht Vhaerauns Treiben weiter zusehen zu müssen. »Was, wenn er in den Tempel gelangt, Herrin? Ist Lolth dort?«

Quenthel stieß einen Verzweiflungsschrei aus.

Danifae fiel Quenthel zu Füßen und fragte: »Herrin, wart Ihr schon einmal hier?«

»Ich weiß es nicht!« brüllte die Herrin Arach-Tiniliths.

Sie entriß Pharaun ihren Arm und rannte zu Tzirik, wobei ihr immer wieder der Boden unter den Füßen förmlich weggezogen wurde. Sie zerrte ihn weg vom Tempel und holte ihn abrupt aus seiner finsteren Bewunderung für Vhaeraun. Mit beiden Händen faßte sie den Brustpanzer seiner Rüstung.

»Was tut er da?« wollte sie wissen. »Was habt Ihr angerichtet?«

Tzirik blinzelte und schüttelte den Kopf, die Augen hinter seiner Maske waren noch vom Glanz seiner Vision erfüllt.

»Wißt Ihr nicht, was Ihr da mit anseht, Priesterin von Lolth?« lachte Tzirik lauthals. »Ihr habt das seltene Glück, bei der Vernichtung Eurer Göttin anwesend zu sein!« Er löste Quenthels Hände von seiner Rüstung und trat einen Schritt zurück, während seine Stimme vor Schadenfreude höher wurde: »Ihr wollt wissen, was hier vorgeht, Lolthitin? Ich will es Euch sagen. Der Maskierte Gott wird Eure Spinnenkönigin vom Thron stürzen und ihrer schwarzen Tyrannei für immer ein Ende setzen! Unser Volk wird endlich von ihrem schädlichen Einfluß befreit werden, und Ihr und der Rest Eurer parasitären Art werdet mit ihr weggespült werden!«