Kaum hatte sich Halisstra aufgerichtet, wurde sie von dem gewaltigen Beben wieder umgerissen. Sie schüttelte den Kopf und unternahm einen neuen Versuch.
Meine Schwestern brauchen mich? dachte sie. Seltsam, wo doch Lolth offenbar keine Verwendung mehr für jemanden hat, der als ihre Priesterin dient. Wenn Lolth beschließt, sich von mir abzuwenden, um meine Treue und meine Hingabe anzuspornen, kann ich mich wenigstens entsprechend revanchieren.
Ihr Leben lang hatte sich Halisstra bereitwillig mit ihren ärgsten Feinden, ihren erbittertsten Rivalen zusammengetan, wenn eine Bedrohung für die Alleinherrschaft der Dunkelelfen auftauchte, zu denen sie und die anderen Drow gehörten. Beim Blick in die endlose leere Weite des Abgrunds der Dämonennetze stellte sie fest, daß sie nicht einen einzigen Schritt mehr in Lolths Namen machen würde.
»Laßt ihn tun, was er will«, sagte sie zu Quenthel. »Lolth hat mich Gleichgültigkeit gelehrt. Wenn wir es geschafft haben sollten, heute Lolths Existenz zu retten, glaubt Ihr, sie wäre uns dankbar? Wenn ich mir das Herz aus dem Leib risse und es auf den Altar der Spinnenkönigin legte, glaubt Ihr, sie würde sich über mein Opfer freuen?«
Ein verbittertes Lachen entstieg ihrer Kehle, dem sich Halisstra hingab, während die Beben nachließen. In ihrem Herzen fühlte sie Schmerz, der die Welt in Stücke hätte reißen können, doch sie fand nicht die Stimme, die den Schmerz in Worte hätte fassen können.
Quenthel sah sie entsetzt an.
»Gotteslästerung«, flüsterte sie.
Die Herrin Arach-Tiniliths nahm ihre Peitsche und wandte sich Halisstra zu, doch ehe sie zuschlagen konnte, wirkte Tzirik einen neuen Zauber, der die Gruppe unter Schichten aus weißglühenden Flammen begrub, die auf der Steinfläche hin und her schwappten wie Wasser auf einem Teller. Halisstra warf sich zu Boden und schrie vor Schmerz, die anderen fluchten und brüllten etwas, während sie nach einer Deckung suchten, die es nicht gab.
»Laßt mich allein!« befahl Tzirik in seinem Käfig aus wirbelndem Stahl.
Er bückte sich und hob die Schriftrolle auf, gleichzeitig erhoben sich die Menzoberranzanyr von dem qualmenden Stein.
Ryld stand langsam auf, die Haut an seinen Händen und in seinem Gesicht war versengt, und sah zu dem Kleriker, der erneut begann, den Zauber zu wirken. Der Waffenmeister studierte die Klingen, die um den Priester herumwirbelten. Mit der Schnelligkeit einer Raubkatze zog er die Beine an und sprang durch die Barriere, wobei er sich so klein wie nur möglich machte. Blut spritzte umher, als die magischen Klingen die Freiräume zwischen den Einzelteilen seiner Zwergenrüstung trafen – doch dann hatte der Meister Melee-Magtheres die Barriere überwunden.
Mit einem tierischen Schmerzenslaut landete er auf den Füßen. Splitter hielt er ein wenig ungelenk in den zerschnittenen Händen, doch er konnte die Spitze seines Zweihänders tatsächlich gegen Tzirik richten. Wieder war der gezwungen, seine Schriftrolle fallenzulassen. Mit seinem Schild wehrte er den Stich ab, mit dem dornenbewehrten Streitkolben holte er nach Ryld aus.
Ryld wich aus, indem er einen Satz nach hinten machte. Dabei kam er der Barriere so nahe, daß Funken von seinen Schultern flogen, als die Klingen seine Rüstung trafen. Er ging wieder zum Angriff über und schlug mit Splitter nach Tzirik.
Valas Hune, der jenseits der wirbelnden Klingen stand, berührte den neunzackigen Stern auf seiner Brust und verschwand in einem Augenblick, um im nächsten innerhalb der Barriere hinter Tzirik wieder aufzutauchen. Er ließ seinen Bogen fallen und griff nach seinen Kukris, doch Tzirik kam ihm zuvor.
Der Kleriker wandte Ryld abrupt den Rücken zu, machte drei ausholende Schritte und rammte seinen schweren Schild in den Mann von Bregan D’aerthe, als Valas gerade seine Messer umfaßte. Mit einem wütenden Brüllen schob der Jaelre Valas Hune nach hinten gegen den Vorhang aus tödlichen Klingen und drängte den Späher hindurch, der sich drehte und schrie, als der Stahl in sein Fleisch schnitt.
Ryld ließ Tzirik dafür bezahlen, indem er nach vorn jagte, um mit einem kraftvollen, mit beiden Händen geführten Schlag nach dessen Torso auszuholen. Doch Tziriks Brustpanzer hielt dem Treffer stand. Tzirik seinerseits sprang auf Ryld zu, bis er in Reichweite des Kämpfers war, dann ließ er mit seinem Streitkolben eine Salve heftiger Schläge auf ihn niederprasseln, mit der er den Waffenmeister zurückdrängte.
Ryld machte sich für einen neuen Angriff bereit, doch in diesem Augenblick warf sich auch Quenthel durch die Klingen. Eine davon schnitt tief in ihre Wade, so daß sie den Halt verlor und auf einem Knie landete, während sie schmerzhaft nach Luft rang. Tzirik trat zurück, um außerhalb der Reichweite von Quenthels Peitsche zu sein, dann stieß er einen raschen Zauber aus, der Rylds Willen ebenso lähmte wie all seine Muskeln, so daß der Kämpfer reglos stehenblieb.
Mit der Schnelligkeit einer Schlange wandte Tzirik sich Quenthel zu und schlug sie nieder, während sie noch versuchte, auf ihrem verletzten Bein zu stehen. Tzirik wich den zischelnden Schlangenköpfen aus und trat gegen ihre Peitsche, die durch die Wucht durch die Barriere geschleudert wurde. Dann wandte er sich Ryld zu, um dessen Schädel zu zerschmettern, da der nach wie vor nicht von der Stelle weichen konnte. Tzirik holte mit dem bronzenen Streitkolben zum tödlichen Schlag aus und ... wurde von seinem beabsichtigten Opfer fortgeschleudert, als ein gewaltiger Lärm auf ihn niederging.
Halisstra, die jenseits der Barriere stand, ließ sofort einen zweiten Bae’qeshel-Gesang folgen, der den Kleriker geißelte. Für Lolth würde sie nicht wieder kämpfen, aber für ihre Gefährten und besonders für Ryld.
»Tötet Tzirik nicht«, rief sie. »Wir brauchen ihn, damit er uns nach Hause bringt!«
»Was schlagt Ihr statt dessen vor?« herrschte Danifae sie an. »Er scheint uns vernichten zu wollen!«
»In der Tat«, sagte Tzirik.
Der Jaelre-Priester erholte sich von Halisstras Zaubern und konterte mit einem Zauber, der vom schwarzen Himmel eine Säule aus kriechendem purpurnen Feuer herabrief, die Halisstra und Danifae traf. Dann wandte sich der Kleriker Quenthel zu, die im Begriff gewesen war, ihn von hinten anzuspringen, und umfaßte seinen Streitkolben.
»Es bereitet mir großes Vergnügen, Kleriker Lolths zu töten«, erklärte er. »Wenn Ihr in der Minauth-Feste erwacht, werde ich Euch dort noch einmal töten.«
Er kam näher, Haß funkelte in seinen Augen, während Quenthel humpelnd versuchte, dem unvermeidlichen tödlichen Schlag zu entgehen.
In diesem Augenblick löste sich Tziriks Brustpanzer auf. Konsterniert blieb er stehen und sah nach unten. Alle anderen Teile seiner Rüstung waren noch da, doch dann löste sich auch sein Waffenrock auf und entblößte das glänzende schwarze Fleisch seines Oberkörpers.
»Was im Namen des Maskierten Gottes soll das?« murmelte er und sah noch gerade rechtzeitig auf, um einem Bolzen auszuweichen, den Danifae auf sein Herz abgefeuert hatte, der aber den Schild des Klerikers traf. Seine Verwunderung wurde zu purem Entsetzen. »Nein!« schrie er. »N–«
Eine unsichtbare Macht riß Tziriks Brust auf und begann eine blutige Rippe nach der anderen aus dem zuckenden Leib zu brechen. Blut und Knochensplitter spritzten umher, doch blieb der Kleriker unerklärlicherweise auf den Beinen, während er vor den erstaunten Menzoberranzanyr bei lebendigem Leib in Stücke gerissen wurde.
Halisstra, die vor Lolths Altar viele schreckliche Dinge erlebt hatte, wich vor Entsetzen zurück. Der kühle, distanzierte Teil ihres Verstandes ließ sie bemerken, daß Fleisch und Knochen des Mannes einfach nach und nach verschwanden, so wie zuvor die Teile.
Das geschieht nicht hier, wurde ihr plötzlich klar. Tzirik wird ermordet, aber in der Minauth-Feste.
Als letzter obszöner Akt wurde der Inhalt von Tziriks Brustkorb gepackt und aus dem Körper gezogen. Der Jaelre sank auf die Knie und verdrehte zugleich die Augen. Aus einer unermeßlichen Entfernung tauchte ein glänzendes Silberband auf, das mit Tziriks Rücken verbunden war. Es zog sich mit solcher Wucht in den Astralleib zurück, daß es Halisstra in der Seele schmerzte. Dann war Tzirik fort, als hätte er nie existiert.