Kaanyr landete neben einer Grube im Sand, die sich mit geschmolzenem Eisen füllte. Zwei Tanarukks standen daneben und wachten aufmerksam über den Vorgang. Kaanyr hockte sich neben das weißglühende Metall und rührte gedankenver-loren mit dem Finger darin herum. Die Temperatur war hoch genug, um ihm Unbehagen zu bereiten, so daß er nach wenigen Augenblicken das flüssige Eisen von seinem Finger schüttelte und ihn dann an seinem Oberschenkel abwischte.
»Gutes Eisen«, sagte er zu den Tanarukks. »Weiter so, Jungs.«
Er richtete sich auf und ging weiter. Aliisza flatterte auf den Steinboden und folgte ihm.
»Eine Sache macht mir Sorgen«, erklärte Kaanyr. »Warum haben die Xornbane-Duergar das Haus verraten, das ihre Dienste in Anspruch genommen hatte, und warum haben sie die Stadt niedergebrannt? War das nur ein Streit über die Bezahlung? Oder wollten sie Ched Nasad von Anfang an untergehen lassen? Wenn ja, steckte Horgar Stahlschatten dahinter? Schickte der Prinz von Gracklstugh seine Söldner nach Ched Nasad, um die Stadt zu zerstören? Oder tat der Xornbane-Clan es für einen anderen?«
»Ist das von Bedeutung?« fragte Aliisza, als sie auf gleicher Höhe mit ihm war. »Die Stadt wurde zerstört, ganz gleich, wessen Absicht es gewesen sein mochte. Die großen Häuser von Ched Nasad sind alle tot, und es haben im übrigen auch kaum Xornbane-Zwerge überlebt.«
»Es ist von Bedeutung, weil ich mir die Frage stelle, ob es die Absicht der Duergar Gracklstughs ist, als nächstes Menzoberranzan anzugreifen«, sagte Kaanyr. »Ich habe hier eine große Streitmacht versammelt, aber ich glaube nicht daran, Menzoberranzan einnehmen zu können, solange sich die Drow nicht in einem Zustand des völligen Chaos und der totalen Hilflosigkeit befinden. Wenn die Duergar vorhaben, auch in diese Stadt einzumarschieren, sind meinen Möglichkeiten keine Grenzen mehr gesetzt.«
»Ah«, hauchte Aliisza. »Du könntest deine Dienste den Drow, den Grauzwergen, allen beiden oder keinem von ihnen anbieten. Das ist allerdings interessant.«
»Der Preis, den ich fordern kann, wird um so größer, je mehr Krieger ich anführe, und er wird auch durch meine Nähe zu Menzoberranzan bestimmt. Aber es hängt alles von den Absichten der Duergar ab.« Kaanyr lachte schallend. »Ich möchte nicht vor den Toren von Menzoberranzan stehen, um festzustellen, daß die Drow stark und geeint sind und ich keinen Verbündeten aufzubieten habe.«
»Wieso habe ich nur das Gefühl, daß du mich gleich wieder losschicken wirst?« schmollte Aliisza. Sie legte die Flügel schmachtend um Kaanyr und hielt ihn fest, während sie die Hände hob, um ihn zu sich umzudrehen. »Ich bin gerade erst heimgekehrt.«
»Kluges Kind«, entgegnete Vhok lächelnd. »Ja, ich will dich auf eine neue Mission entsenden. Diesmal wirst du nicht im verborgenen vorgehen müssen. Du wirst Horgar Stahlschatten, dem Kronprinz von Gracklstugh, einen Besuch abstatten, und zwar als meine Gesandte – als Diplomatin. Finde heraus, ob die Duergar Menzoberranzan angreifen wollen. Wenn ja, dann laß sie wissen, daß ich daran interessiert bin, mich ihnen anzuschließen. Wenn nicht ... dann versuch einfach, sie davon zu überzeugen, daß es in ihrem Interesse sei, Menzoberranzan zu zerstören, solange die Drow geschwächt sind.«
»Die Zwerge werden sich mir wohl kaum anvertrauen.«
»Natürlich werden sie das nicht wollen. Aber wenn sie einen Angriff planen, dann werden sie sehen, welchen Nutzen sie davon haben, mich als ihren Verbündeten zu gewinnen. Sollten sie einen Angriff derzeit nicht in Erwägung ziehen, könnten sie ihre Meinung ändern, sobald sie hören, daß ich bereit bin, mich mit ihnen zu verbünden. Sie sind nicht daran interessiert, daß es Menzoberranzan wohl ergeht, deshalb mußt du dir keine Sorgen machen, sie könnten sich für die Drow einsetzen.«
»Gesandte ...«, murmelte Aliisza. »Das klingt besser als Spionin, oder? Ich nehme an, daß ich eine Nachricht für dich überbringen kann, mein süßer, hitziger Kaanyr. Aber vielleicht solltest du mir etwas Verlockendes in Aussicht stellen, damit ich schnell nach Hause zurückkehre, hmmm?«
Kaanyr Vhok nahm sie in die kräftigen Arme und schmiegte sich an sie.
»Wie du willst, mein Schatz«, flüsterte er heiser. »Manchmal frage ich mich, ob du eigentlich absolut unersättlich bist.«
Nach einer verzweifelten Flucht von Ruine zu Ruine hatte die Gruppe, der massiv zugesetzt worden war, nach gut einer Stunde endlich eine Zuflucht vor den Monstern gefunden, die über Hlaungadath herrschten. Im Schutz eines quadratischen Turms entdeckten sie eine vom Sand fast verdeckte Treppe, die hinab in die kühlen, lichtlosen Katakomben unter der Stadt führte. Von dieser Entdeckung angespornt bahnten sich die Drow ihren Weg durch ein Labyrinth aus Schreinen, unterirdischen Quellen und widerhallenden Säulengängen aus braunem Stein, bis sie schließlich einen tief gelegenen Gang entdeckten, der durch nichts darauf schließen ließ, daß er in jüngster Zeit benutzt worden war. Es war ein trostloser, abgeschiedener Flecken, aber weder gab es hier blendendes Sonnenlicht noch Geschöpfe, die den Verstand beeinflußten – und mehr hatten sie im Moment nicht nötig.
»Pharaun, bereitet rasch Zauber vor«, befahl Quenthel, nachdem sie sich in der Kammer umgesehen hatten. »Halisstra, Ihr und Ryld werdet Wache halten. Jeggred, du wirst mit Valas am Torbogen aufpassen.«
»Bedauerlicherweise müßt ihr etwas länger Wache halten«, erklärte der Magier und machte eine bedauernde Geste. »Ich war bereit, meine Zauberbücher zu studieren, als ich im Palast Zeit zum Ausruhen hatte. Aber die schlechten Umgangsformen der Lamien als Gastgeber haben mich ein wenig erschöpft. Ich muß eine Weile ruhen, ehe ich meine Zauber wieder vorbereiten kann.«
»Wir sind alle müde«, zischte Quenthel. »Wir haben keine Zeit, uns auszuruhen. Bereitet gefälligst Eure Zauber vor!«
Die Schlangen an ihrer Peitsche zuckten und zischten erregt.
»Das wäre vergeblich, liebe Quenthel. Ihr müßt unsere Feinde von mir fernhalten, bis ich mich von den Anstrengungen erholt habe.«
»Wenn er so machtlos ist«, polterte Jeggred, »wäre das doch jetzt eine gute Gelegenheit, ihn für sein respektloses Verhalten und seine Verfehlungen zu bestrafen.«
»Dumme Kreatur«, schnaubte Pharaun. »Töte mich, und ihr alle werdet keinen Tag in dieser vom Licht heimgesuchten Einöde überleben. Oder hast du vielleicht plötzlich einen Hang fürs Arkane entwickelt?«
Jeggred reagierte ungehalten, doch Quenthel brachte ihn mit einem strengen Blick zum Schweigen. Der Draegloth entfernte sich, um am anderen Ende des langen, staubigen Raums Position zu beziehen, und hockte sich in ein Chaos aus herabgestürzten Steinen am Eingang. Valas seufzte und trottete los, um sich zu ihm zu setzen.
»Bereitet Eure Zauber so schnell wie möglich vor, Magier«, sagte die Priesterin mit gepreßter Stimme, da sie eine todbringende Wut unterdrücken mußte. »Ich habe nicht viel Geduld, was Eure spitzfindigen Bemerkungen angeht. Gebt Halisstra Euren Blitze schleudernden Stab für den Fall, daß wir Zauber dieser Art benötigen, um einen weiteren Angriff abzuwehren.«
Es war ein deutliches Zeichen dafür, wie erschöpft Pharaun wirklich war, daß er nicht mal versuchte, das letzte Wort zu haben. Er wandte sich Halisstra zu und ließ mit einem Lächeln den schwarzen Eisenstab in ihre Hand fallen.
»Ich nehme an, Ihr wißt, wie er funktioniert. Ich möchte ihn natürlich zurück, also versucht bitte, ihn nicht ganz zu verbrauchen. So etwas ist schwer herzustellen.«
»Ich werde ihn nur einsetzen, wenn ich muß«, sagte Halisstra.
Sie sah zu, wie sich der Magier einen im Schatten gelegenen Punkt neben einer großen Säule suchte, sich im Schneidersitz hinsetzte und gegen den kalten Stein lehnte. Sie schob den Stab in ihren Gürtel. Quenthel begab sich zur gegenüberliegenden Wand und beobachtete Pharaun, als wolle sie sicherstellen, daß er nicht nur vortäuschte, eine Pause nötig zu haben. Ryld stützte sich auf seinen Zweihänder, erhob sich und machte sich auf den Weg zu dem Durchgang, der zurück zur von den Monstern heimgesuchten Oberfläche führte.