Halisstra wollte ihm folgen, doch Danifae sagte: »Soll ich hier Wache halten, Herrin?«
Die Dienerin kniete zwischen dem Magier und der Priesterin auf dem Boden, der Dolch steckte in ihrem Gürtel. Sie sah zu Halisstra auf, ihr Gesicht war völlig ausdruckslos und vermittelte den Eindruck, sie hätte eine völlig harmlose Frage gestellt.
Die Melarn-Priesterin zwang sich, nicht das Gesicht zu verziehen. Einer Kriegsgefangenen eine Waffe zu geben kam dem Eingeständnis gleich, daß man nicht länger die Kraft hatte, sie zur Unterwürfigkeit aufzufordern. Sie vermutete, Danifae würde später einen hohen Preis dafür fordern, ihr weiter zu gehorchen. Danifae selbst blickte ruhig drein, während ihre Herrin über das Angebot nachdachte. Halisstra spürte, daß Quenthels Blick auf ihr ruhte. Sie mußte sich zusammenreißen, um die Priesterin nicht zornig anzusehen.
»Du kannst den Dolch behalten, um dich zu verteidigen – für den Augenblick«, gestand ihr Halisstra zu. »Deine Wachsamkeit ist nicht erforderlich. Komm nicht auf den Gedanken, je wieder so etwas vorzuschlagen.«
»Selbstverständlich, Herrin«, erwiderte Danifae.
Das Gesicht der jungen Frau ließ keine Gefühlsregung erkennen, doch Halisstra mißfiel der nachdenkliche Ausdruck in Danifaes Augen, während die sich darauf einstellte, einfach nur zu warten.
Wird ihr Bindezauber halten? fragte sich Halisstra.
Im Herzen des Hauses Melarn, umgeben von der geballten Kraft ihrer Feinde, hätte Danifae es nicht gewagt, den magischen Zwang abzuschütteln, der sie unterwarf, selbst wenn es ihr möglich gewesen wäre. Doch die Dinge hatten sich geändert. Danifaes Sorgfalt in dem Punkt, wie sie ihre Herrin in Quenthels Gegenwart ansprach, war Halisstra nicht entgangen. Ohne ihr Haus, ihre Stadt, die Halisstra die absolute Herrschaft über alles gaben, was ihr eigen war – ihr Leben, ihre Loyalität, ihre Besitztümer, zu denen auch Danifae zählte –, konnten ihr all diese Dinge abgerungen werden. Der Gedanke bescherte ihr ein Gefühl der Leere, und sie kam sich vergänglich vor wie ein verwestes Stück Fleisch.
Was, wenn Danifae auf die Idee kommt, ernsthaft die Grenzen ihrer Gefangenschaft zu testen? fragte sie sich. Würde Quenthel zulassen, daß Halisstra ihre Kontrolle über die junge Frau wahrte oder würde Quenthel einschreiten, einfach nur, um etwas gegen Halisstra zu unternehmen und einen weiteren Stützpfeiler ihres Status zu zerschmettern? War Quenthel vielleicht gar in der Lage, Danifae zu befreien und Halisstra selbst zur Kriegsgefangenen zu erklären?
Danifae betrachtete Halisstra mit gesenktem Blick. Sie war unterwürfig, hübsch – und geduldig.
»Kommt Ihr?« rief Ryld, der im Durchgang stand und auf sie wartete.
»Natürlich«, erwiderte Halisstra, die nur mit Mühe einen finsteren Blick unterdrücken konnte.
Bewußt langsam kehrte sie ihrer Dienerin den Rücken und folgte Ryld in den Tunnel, der von ihrer Zuflucht wegführte. Im Moment war sie in Sicherheit. Danifae konnte das Silbermedaillon nicht ablegen, das um ihren Hals hing, ganz gleich, wieviel Willens- und körperliche Kraft sie aufgebracht hätte. In dem Moment, in dem sie das Schmuckstück berührte, sorgte der Zauber dafür, daß sich all ihre Muskeln versteiften, bis sie wieder davon abließ. Ebensowenig konnte sie jemanden bitten, es ihr abzunehmen, denn in dem Augenblick, da sie über den Anhänger sprach, würde ihr die Zunge im Mund erstarren und sie so zum Schweigen bringen. Solange sie das Medaillon trug, war Danifae gezwungen, Halisstra zu dienen und notfalls sogar ihr Leben zu opfern, um das ihrer Herrin zu retten. Danifae hatte ihre Unterwerfung mit Würde über sich ergehen lassen, doch hatte Halisstra nicht vor, ihr das Medaillon in Gegenwart der Gruppe aus Menzoberranzan abzunehmen – wenn sie es ihr überhaupt jemals abnehmen würde.
Sie und Ryld bezogen Stellung in einem kleinen Rundbau, der ein Stück entfernt den Tunnel unterbrach, eine dunkle, freie Stelle, die es ihnen erlaubte, darauf zu achten, ob sich jemand ihrem Versteck näherte, ohne selbst gesehen zu werden. In ihre Piwafwis gehüllt, konnte man sie praktisch nicht von dem sie umgebenden dunklen Stein unterscheiden. Trotz des launigen Chaos und des quälenden Ehrgeizes, die in jedem Drow-Herzen brannten, war jeder gebildete Drow in der Lage, Geduld und eiserne Disziplin bei der Ausübung einer wichtigen Aufgabe walten zu lassen, und so machten sich auch Halisstra und Ryld daran, in wachsamer Stille zu warten und zu beobachten.
Halisstra versuchte, ihren Geist von allem zu befreien und nur das zuzulassen, was ihre Sinne ihr mitteilten, damit sie besser wachen konnte. Sie mußte aber feststellen, daß sich in ihrem Kopf Gedanken angesammelt hatten, die sich nicht leicht verdrängen ließen. Es wurde Halisstra klar, daß – ganz gleich, was von diesem Tag an aus ihr werden sollte – ihr Erfolg oder Mißerfolg einzig von ihrer Kraft, ihrer List und ihrer Rücksichtslosigkeit abhingen. Das Mißvergnügen des Hauses Melarn bedeutete nichts. Wenn sie mit Respekt behandelt werden wollte, würde sie das Mißvergnügen Halisstra Melarns zu etwas machen müssen, was gefürchtet wurde, und das alles nur, weil Lolth entschieden hatte, die auf die Probe zu stellen, die ihr am treuesten dienten. Wegen einer Laune Lolths war Haus Melarn aus Ched Nasad zerstört worden, jenes Haus, dessen Herrscherinnen über Jahrhunderte hinweg auf Lolths Altar Blut und Reichtümer dargebracht hatten.
Wieso? fragte sie sich. Wieso?
Die Antwort war natürlich kalt und leer: Lolths Wege waren nichts, was ihre Priesterinnen verstehen konnten, und ihre Prüfungen konnten wahrlich grausam sein. Halisstra knirschte mit den Zähnen und versuchte, ihre Fragen aus ihrem Herzen zu verdrängen. Wenn Lolth entschieden hatte, Halisstras Glauben auf die Probe zu stellen, indem sie ihr alles nahm, was ihr wichtig war, nur um zu sehen, ob die Erste Tochter des Hauses Melarn fähig war, es zurückzugewinnen, dann würde sie feststellen, daß sie jemanden ausgewählt hatte, der dieser Herausforderung gewachsen war.
Wollt Ihr darüber reden? signalisierte Ryld diskret in der hochentwickelten Zeichensprache der Drow.
Worüber?
Über das, was Euch solche Sorgen macht. Etwas macht Euch zu schaffen, Priesterin.
Es ist nichts, was einen Mann angeht, gab sie zurück.
Natürlich. Wie immer.
In der kleinen Kammer trafen sich ihre Blicke. Halisstra stellte überrascht fest, daß Rylds Gesicht zu einer Mischung aus verbitterter Resignation und sarkastischer Belustigung verzogen war. Sie betrachtete ihn eindringlich und versuchte zu ergründen, was ihn dazu bewegte, sich mit ihr unterhalten zu wollen.
Für einen Mann – genaugenommen sogar für einen Drow überhaupt – war er kräftig gebaut und sehr groß, in etwa so groß wie sie selbst. Sein kurzgeschnittenes Haar war eine exotische Affektiertheit in der Drow-Gesellschaft, eine sonderbar asketische Nüchternheit für ein Volk, das sich an Schönheit und persönlicher Kultivierung erfreute. Im Umgang miteinander waren Drow rücksichtslos pragmatisch, doch nicht, wenn es um ihr Äußeres ging. Halisstras Erfahrungen mit Männern nach putzten sich die meisten von ihnen doch nur fein heraus und hatten eine Vorliebe für einschmeichelnde Eleganz und tödliche Tücke. Pharaun stand genau für diesen Typ. Doch Ryld – das wurde ihr nun klar – war von einem anderen Schlag.
Ihr kämpft gut, erklärte sie – es war keine Entschuldigung, die an einen Mann gerichtet war, und doch war es ... etwas. Ihr hättet mich in Ched Nasad sterben lassen können, und doch habt Ihr Euer Leben aufs Spiel gesetzt, um mich zu retten. Wieso?