»Du wirst diesen Raum nicht lebend verlassen, Assassine!« schrie Vadalma. »Wachen! Wachen!«
Nimor hörte, wie die Wachen sich an der Tür zu schaffen machten. Er duckte sich und schoß davon, wobei er sich von dem Dämon fernhielt, mit dem er sich nicht anlegen wollte. Es war sinnlos, einen Wachdämon zu töten. Ihm blieben nur noch Augenblicke, und die wollte er nutzen. Der Assassine machte einen schnellen Schritt und rollte sich unter der Deckung des Dämons hindurch, so daß er gleich neben Sil’zet auftauchte, die soeben die Worte von ihrer Schriftrolle vorzulesen begonnen hatte. Er rammte ihr den Dolch ins Kreuz, während er mit seinem schwarzen Rapier den Säbel des Knochendämons abwehrte. Sil’zet schrie vor Schmerz und wollte sich losreißen, doch Nimor brachte sie sofort zu Fall, so daß sie sich windend auf dem Boden landete. Nimor vollzog ihre Bewegung nach und stach die Spitze des Rapiers in ihre Kehle.
Diesmal ließ der Dämon ihn dafür bezahlen, daß er ihn ignoriert hatte. Er schrie vor Zorn und schlug mit seinem Knochenschwert nach ihm, wodurch er Nimor eine lange, brennende Schnittwunde quer über das Schulterblatt zufügte, als der sich wegzudrehen versuchte. Er preßte die Lippen zusammen, um den Schmerz lautlos zu ertragen, dann rollte er zur Seite weg, ehe die Kreatur ihn in Stücke hauen konnte.
Vadalma brüllte den Befehl für den Stab ihrer Mutter und feuerte die Sphäre blindlings in Nimors Richtung ab, so daß schwarze Ranken, kalt und scharf wie Rasierklingen, an seinem Fleisch rissen.
Die Wachen stürmten mit gezückten Klingen in die Kapelle, ihre Gesichter gefaßt und ausdruckslos. Sie kamen mit unglaublicher Schnelligkeit heran und fuchtelten mit den Schwertspitzen, während sie sich Nimor näherten. Hastig drehten sie die Köpfe und folgten ihm dann, als verrieten ihn das Schaben seiner Stiefelsohlen oder sein Atem.
Ich habe getan, wofür ich hergekommen bin, entschied er.
Ghenni war tot, und Sil’zet lag im Sterben. Sie zuckte und trommelte mit den Hacken auf den Marmorfußboden, während sie in ihrem eigenen Blut ertrank. Er hätte noch gern Vadalma umgebracht, doch der Dämon und die Wachen – um welche Kreaturen es sich bei ihnen auch immer handeln mochte – machten die Situation zu kompliziert, als daß sie noch praktikabel zu lösen gewesen wäre.
Resigniert wich Nimor einige Schritte zurück und verschwand dank der Macht seines Rings, der ihn im nächsten Moment nahe dem Balkon wieder auftauchen ließ, über den er in den Palast eingedrungen war. Der Zauber, der ihm den Zutritt verwehrt hatte, verhinderte seine Flucht mit einem einzigen Dimensionssprung, doch der Assassine packte einfach den Leichnam des Tlabbar-Magiers, den er gleich hinter dem Durchgang zurückgelassen hatte, und eilte nach draußen. Der Schnitt an seiner Schulter schmerzte unerträglich, und seine Beine stachen, wo die eisigen Ranken der Sphäre ihn getroffen hatten. Nimor atmete dennoch tief durch und gestattete sich ein wildes, triumphierendes Grinsen.
»Ihr hattet Glück«, sagte er zu den beiden Toten, die vor ihm lagen. »Wenn die TIabbar herausfinden, daß ihr die Tür bewacht habt, durch die ich hineingelangt bin, wärt ihr liebend gern tot.«
Natürlich kam von den Leichen keine Reaktion – wie immer.
Er sah hinaus zu dem Feenfeuer, das über den Zinnen der Burg schimmerte und lauschte den Entsetzensschreien und Rufen aus dem Inneren des Gebäudes. Er hätte diese Geräuschkulisse gern noch lange genossen, doch die Verfolger konnten nicht mehr weit entfernt sein. Seufzend schloß er die Faust um den schwarzen Ring und brachte sich durch bloße Willenskraft fort von der Burg.
4
Halisstra und Ryld spielten zwei Partien auf einem kleinen Reisespielbrett, das der Waffenmeister in einer Gürteltasche mit sich trug. Ryld gewann beide Partien, jedoch setzte ihn Halisstra im Spiel schwer unter Druck. Sie hatte schon immer eine Schwäche für Sava gehabt, doch sie merkte früh, daß sie es mit einem Meister des Spiels zu tun hatte. Viele Stunden verstrichen in der Dunkelheit, ohne daß es ein Zeichen dafür gab, daß die Lamien ihr Versteck ausfindig gemacht hatten.
Ich kann nicht glauben, daß sie uns nicht gefolgt sind, merkte Halisstra nach dem Ende der zweiten Partie an.
Ich vermute, wir haben viele ihrer liebsten Untergebenen getötet. Die Lamien sind sehr sorglos mit dem Leben ihrer Sklaven umgegangen. Vielleicht haben sie nicht mehr genug, um die Stadt gründlich nach uns zu durchsuchen. Ryld lächelte. Wir haben auch einige Lamien getötet. Vielleicht sind sie gar nicht versessen darauf, uns zu finden.
Hauptsache, sie lassen uns in Ruhe, erwiderte Halisstra.
Als sie keine Lust mehr hatte, Sava zu spielen, wurde ihr bewußt, daß sie entsetzlichen Hunger hatte. Vor Sonnenaufgang hatten sie ein Frühstück zu sich genommen, das aus den wenigen aus Ched Nasad mitgenommenen Vorräten bestand, doch Halisstra war sicher, daß sich der Tag dem Ende näherte. Drow konnten Entbehrungen besser als die meisten anderen Lebewesen aushalten, doch ein schwerer Kampf gefolgt von stundenlangem Wachen hatte sie körperlich erschöpft.
Ich verhungere, bedeutete sie Ryld. Es scheint alles ruhig zu sein. Ich werde zum Lager zurückhuschen und Vorräte holen. Bleibt wachsam.
Ryld nickte und flüsterte: »Beeilt Euch.«
Halisstra erhob sich und zog ihren Piwafwi eng um sich. Im Gang war es ruhig und finster, so wie schon seit Stunden. Sie schlich so lautlos wie möglich zurück in den Saal, in dem die anderen darauf warteten, daß Pharaun seine Zauber vorbereitete. Von vorn drangen Stimmen zu ihr. Quenthel und Danifae unterhielten sich.
Eine düstere Vorahnung huschte wie ein finsterer Schatten über Halisstras Herz, denn als sie einen Augenblick darüber nachdachte, fiel ihr kaum etwas ein, worüber sich Danifae und Quenthel unterhalten konnten.
Ich hätte sie nicht allein lassen sollen, schalt sie sich. Ich ließ mich von Quenthel herumkommandieren wie ein Mann!
Langsam schlich sie weiter, ein lautloser Schatten in der Finsternis. Sie sah Pharaun, der in eine Decke gewickelt dasaß, vertieft in seine Träumerei, gegen die Wand gelehnt und die Augen halb geschlossen. Quenthel und Danifae saßen dicht zusammen, ein wenig von Pharaun abgewandt, womit sie sich in der Nähe des Gangs aufhielten, in dem Halisstra stand und lauschte.
»Was glaubst du, was du tun wirst, wenn wir nach Menzoberranzan zurückkehren? Glaubst du, dort wartet auf deine Herrin ein hoher Posten?« fragte Quenthel mit verächtlichem, spöttischem Tonfall.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Danifae nach einer Weile. »So weit habe ich nicht gedacht.«
»Unsinn! Du denkst intensiv nach, seit ich dich zum ersten Mal im Audienzsaal des Hauses Melarn sah. Ich wage sogar zu raten, was in diesem Augenblick in deinem Kopf vorgeht! Du fragst dich, wie du es schaffen kannst, mit Halisstra Melarn als deine Kriegsgefangene ins Haus Yauntyrr in Eryndlyn zurückzukehren.«
»Ich würde nie wagen, so etwas zu denken ...«
Quenthel lachte gehässig. »Spar dir deine unschuldigen Proteste für jemanden, der leichtgläubiger ist als ich. Du hast noch immer nicht meine Frage beantwortet. Warum sollte ich dich und deine Herrin nach Menzoberranzan mitnehmen?«
»Meine Hoffnung ist«, sagte Danifae mit versagender Stimme, »daß ich eine Gelegenheit bekomme, Euch zu zeigen, von welchem Nutzen ich für Euch sein kann, damit Ihr entscheidet, mir die Chance zu geben, Euch zu dienen.«