»Wird es den Lamien möglich sein, uns zu folgen?« fragte Ryld, der nach wie vor den Gang im Auge hatte, der zu den Ruinen über ihnen führte.
»Nein, es sei denn, sie hätten einen so erfahrenen und netten Magier wie mich, der zudem noch einen Zauber kennt, mit dem es ihm möglich ist, Schattenwandler aufzuspüren – einen Zauber also, der mir nicht bekannt ist.« Pharaun lächelte. »Du wirst in der Lage sein, den Staub von deinen Stiefeln zu schütteln, Freund Ryld. Sorge dich nicht mehr um die Gefahren an diesem Ort hier, sondern spar dir deine Bedenken für das auf, was uns am Rand begegnen könnte.« Pharaun sah sich um und nickte zufrieden. »Nun denn. Faßt Euch an der Hand – ja, das ist gut, Jeggred, du kannst alle gleichzeitig festhalten, nicht wahr? – und wahrt Ruhe, während ich den Zauber wirke.«
Pharaun hob die Hände und murmelte eine Reihe arkaner Silben, als er seinen Zauber durchging.
Halisstra stand zwischen Danifae und Valas Hune und hielt sie an den Händen. Der große unterirdische Gang wurde auf eine seltsame Weise noch finsterer, wenn so etwas in einem unbeleuchteten Raum unter der Erde überhaupt möglich sein konnte. Drow konnten auch in der tiefsten Finsternis noch gut sehen, doch Halisstra kam es vor, als hinge eine Art Nebel in der Luft. Auf den ersten Blick sah es aus, als wäre es Pharaun gerade mal gelungen, die Gruppe mit einem düsteren Schein zu umgeben, doch als sie ihre Umgebung genauer betrachtete, erkannte sie, daß sie sich nicht länger auf Faerûn befand. Ein unnatürlicher Schauder lief über ihre Haut, der von dem kalten Staub unter ihren Füßen ausging. Die hohen, runenüberzogenen Säulen, die den Raum gesäumt hatten, waren zu Zerrbildern geworden, die bizarr über die Kammer hinaus nach oben ragten.
»Seltsam«, murmelte sie. »Ich hatte erwartet, es würde irgendwie ... anders sein.«
»So ist der Schatten, werte Dame«, erwiderte Pharaun. Seine Stimme klang tonlos und weit entfernt, obwohl er keine zwei Meter von ihr entfernt stand. »Die Ebene besitzt keine eigene Substanz. Sie besteht aus den Echos unserer eigenen Welt und denen anderer, fremdartigerer Orte. Wir stehen im Schatten der Ruinen über uns, aber es sind nicht die gleichen Ruinen, durch die wir erst vor kurzem noch gereist sind. Die Lamien und ihre Diener existieren hier nicht. Nun denkt daran, was ich gesagt habe: Bleibt zusammen und verliert mich nicht aus den Augen.«
Der Magier machte sich auf den Weg durch den Gang, der an die Oberfläche führte. Halisstra blinzelte. Er machte nur einen kleinen Schritt, als er sich von der Gruppe wegdrehte, doch im nächsten Moment stand er schon am anderen Ende des Raums, und ein weiterer Schritt brachte ihn bedenklich weit in den Gang davor. Sie beeilte sich, zu ihm aufzuschließen, mußte aber feststellen, daß ein Schritt genügte, um den Raum in Dunkelheit verwischen zu lassen. Sie stand im gleichen Augenblick so dicht vor Pharaun, daß sie sich zwingen mußte, nicht zurückzuweichen und so den Abstand zu ihm nur wieder zu vergrößern.
Pharaun lächelte angesichts ihrer Verwirrung und sagte: »Ich fühle mich von dieser Aufmerksamkeit geschmeichelt, meine Dame, aber Ihr müßt nicht ganz so dicht bei mir bleiben.« Er lachte. »Macht einfach nur dann einen Schritt, wenn ich einen mache, dann werdet Ihr leichter in meiner Nähe bleiben.«
Er machte einige langsame, gemäßigte Schritte und hielt sich zurück, bis der Rest der Gruppe allmählich den Dreh fand. Augenblicke später gingen sie bereits unter einem kalten und sternenlosen Himmel durch die staubigen Straßen von Hlaungadath. Jeder Schritt schien Halisstra zehn, vielleicht sogar fünfzehn Meter auf dem düsteren Gelände voranzubringen. Die schwarzen Umrisse der Ruinen starrten sie an und streckten sich ihnen von allen Seiten entgegen, sie waren dicht über die Straße gebeugt, als wollten sie die Reisenden einschließen, um dann beim nächsten vorsichtigen Schritt zu schwarzen Flecken zu verwischen.
Als sie die Ruinen hinter sich gelassen hatten, hielt Pharaun kurz an, um einen Blick auf die Gruppe zu werfen. Mit einem Nicken deutete er auf die Wüste, die sich im Westen bis zu den eisigen Bergen erstreckte, dann begann er rasch zu marschieren und legte ein Tempo vor, das sein erschöpftes Verhalten und seine Abneigung gegen die Mühen des Reisens Lügen strafte. Halisstra, die nun endlich Gelegenheit bekam, ihre Beine zu strecken, bekam allmählich ein Gefühl dafür, wie schnell sie vorankamen. Nach fünf Minuten hatten sie die nesserische Stadt, die nur noch ein dunkler Fleck in der düsteren Sandlandschaft war, bereits kilometerweit hinter sich gelassen. Nach einer halben Stunde ragten die Berge, die kurz zuvor noch wie ein ferner Zaun aus schneebedeckten Spitzen ausgesehen hatten, wie ein nächtlicher Wall vor ihnen auf. Das Schattenwandeln erleichterte auch die Bewältigung jedes noch so unwegsamen Geländes auf ihrem Weg. Ohne zu zögern machte Pharaun einen Schritt über eine steile Schlucht, als gäbe es sie gar nicht. Die Magie seines Zaubers und die seltsame Ebene, auf der sie sich bewegten, sorgten dafür, daß er seinen Fuß sicher auf die andere Seite des Hindernisses setzen konnte. Die zerklüfteten Hänge zu bezwingen, die hinauf zu den Bergen führten, war nicht mühsamer, als würde man von Stein zu Stein springend einen Fluß überqueren.
»Sagt, Pharaun«, fragte Quenthel nach einer Weile, »warum sind wir Kilometer um Kilometer durch das gefährliche Unterreich gekrochen, um nach Ched Nasad zu gelangen, wenn Ihr mit diesem Zauber unsere Reise deutlich hättet verkürzen können?«
Trotz der Finsternis entlang des Randes des Schattens fühlte Halisstra den Zorn in der Stimme, den die Baenre nur schwer bändigen konnte.
»Aus drei Gründen, liebe Quenthel«, erwiderte Pharaun, ohne seinen Blick von dem unsichtbaren Pfad abzuwenden, dem er folgte. »Erstens habt Ihr mich nicht gebeten, etwas in dieser Art zu machen. Zweitens hatten die Magier Ched Nasads gewisse Vorkehrungen gegen ein Eindringen auf diese oder ähnliche Weise getroffen, und wie ich eben bereits erklärte, ist der Rand ein gefährlicher Ort. Ich habe dies hier erst vorgeschlagen, nachdem wir alle der Meinung waren, ein monatelanger Marsch über die von der Sonne beschienene Oberfläche sei eine noch unerfreulichere Aussicht.«
Quenthel schien über die Antwort Pharauns nachzudenken, während die Berge rasch hinter ihnen zurückfielen und um sie herum verdrehte schwarze Bäume auftauchten.
»In Zukunft«, erklärte die Herrin Arach-Tiniliths, »erwarte ich von Euch, daß Ihr nützliche Informationen oder Vorschläge zu einem früheren Zeitpunkt preisgebt. Euer Widerwille, Ideen mitzuteilen, kann uns das Leben kosten. Ist das das billige Vergnügen wert, das Ihr dabei habt, etwas zu wissen, was wir nicht wissen?«
Die Zähne des Meisters Sorceres leuchteten in seinem dunklen Gesicht, während er weiterging, ohne auf diese Bemerkung einzugehen. Eine Weile richtete er seine ganze Aufmerksamkeit darauf, sich entlang des Randes zu bewegen. Unter normalen Umständen war Pharaun der geschwätzigste der Gruppe, doch da er sich völlig auf seinen Zauber konzentrieren mußte, verfielen alle Dunkelelfen, die ihm folgten, in ein ungewöhnliches Schweigen. Aufmerksam marschierten sie hinter ihm her und bildeten eine lange Schlange, die dem Magier folgte, während sich die unermeßliche Reise durch die Finsternis dahinzog und Stunden oder gar Tage dauern mochte. Halisstra begann, sich dem sonderbaren Gedanken zu widmen, dies hier sei die wirkliche Welt, die wahre Substanz aller Dinge, und die fade Starrheit ihrer eigenen Welt sei die eigentliche Illusion. Sie stellte fest, daß der Gedanke sie in keiner Weise berührte.
Viel Zeit verstrich, ehe Pharaun die Hand hob und die Gruppe anhalten ließ. Sie befanden sich auf einer kleinen grauen Steinbrücke, die eine tiefe Schlucht überspannte, durch die ein düsterer, gurgelnder Strom verlief. In der Nähe ragten die schwarzen Zinnen einer verlassenen Stadt in den lichtlosen Himmel, ein Ort, der mehr nach einer Festung als nach einer Stadt aussah und dessen massive Mauern von mit Türmen besetzten Toren unterbrochen wurden.