»Wir haben etwa die Hälfte der Strecke bis zu unserem Ziel zurückgelegt«, sagte Pharaun. »Ich schlage vor, wir ruhen eine halbe Stunde aus und nehmen vielleicht eine Mahlzeit zu uns, wenn unsere Vorräte die noch hergeben. Es sollte möglich sein, unsere Vorräte aufzufüllen, wenn wir Mantol-Derith erreichen.«
Ryld wies auf die verlassene Burg und fragte: »Was ist das?«
»Das?« Pharaun warf einen Blick über seine Schulter. »Wer weiß? Vielleicht das Echo einer Stadt an der Oberfläche unserer Welt, vielleicht aber auch der Widerschein einer völlig anderen Wirklichkeit. So ist der Schatten.«
Die Gruppe kauerte sich an die niedrige Steinmauer der Brücke und stellte aus den schwindenden Vorräten ein bemitleidenswertes Mahl zusammen. Die unablässig zu spürende Kälte dieses Ortes entzog Halisstras Körper die Wärme, als verzehrten sich die Steine unter ihren Füßen nach ihrer Lebensenergie. Die Finsternis schlug ihnen allen aufs Gemüt und machte jeden Versuch einer Unterhaltung zunichte. Es war kaum möglich, sich auf einen Gedanken zu konzentrieren. Als der Zeitpunkt gekommen war, sich wieder aufzumachen, war Halisstra überrascht, welche völlige Lethargie von ihren Gliedmaßen Besitz ergriffen hatte. Sie wollte sich nur noch zu Boden sinken lassen und einfach von Schatten eingehüllt liegenbleiben. Nur eine gezielte Willensanstrengung machte es ihr möglich, sich wieder in Bewegung zu setzen.
Sie waren wieder auf dem Weg durch die niemals endende Nacht und hatten die alte Brücke schon weit hinter sich gelassen, als Halisstra spürte, daß sie verfolgt wurden. Zuerst war sie sich nicht sicher. Was immer es war, das ihnen folgte, bewegte sich klammheimlich, und der fehlende Widerhall des Schattens ließ sie nicht sicher sein, ob sie tatsächlich etwas gehört hatte. Etwas schien in der Finsternis zu flüstern und zu kichern, eine Präsenz, die sich mit einer Bewegung der reglosen Luft ankündigte, das leise Rauschen des Windes irgendwo hinter ihnen. Sie wandte sich um und betrachtete den Weg, den sie gegangen waren, um nach dem Verfolger Ausschau zu halten, konnte aber dort nichts weiter sehen als die müden Gesichter ihrer Gefährten.
Valas Hune bildete die Nachhut der Gruppe und sah Halisstra an, als er zu ihr aufschloß.
Spürt Ihr es auch? signalisierte er.
»Was ist es?« fragte Halisstra. »Welche Art von Dingen lebt an einem solchen Ort?«
Der Späher zuckte mit den Schultern. »Irgend etwas, das Pharaun Anlaß gibt, sich zu fürchten, was mich wiederum mit Sorge erfüllt.« Er streckte den Arm und drehte Halisstra um, damit sie den Rest der Gruppe sehen konnte. Entsetzt stellte sie fest, wie weit die anderen sich in den wenigen Augenblicken entfernt hatten, die sie stehengeblieben war. »Kommt, wir wollen nicht zurückgelassen werden. Vielleicht ist das, was uns jagt, damit zufrieden, uns zu verfolgen.«
Sie beeilten sich, um zu den anderen aufzuschließen – und da schlug ihr Verfolger zu. Aus den Schatten hinter ihnen schälte sich eine gewaltige Gestalt, die hoch aufragte und aus reiner Finsternis geschaffen war: ein schwarzer, gesichtsloser Riese, der mehr als sechs Meter groß war. Trotz dieser Größe bewegte er sich schnell und leise auf sie zu. Zwei leuchtende silberne Ovale kennzeichneten die Augen, und lange, spinnenähnliche Klauen griffen nach Halisstra und Valas. Das zischende Flüstern erfüllte die Köpfe der beiden mit gräßlichen Dingen, als würden sich fette, bleiche Würmer durch verwesendes Fleisch fressen.
»Pharaun!« rief Halisstra.
Sie tastete nach ihrem Streitkolben, während sich der Riese näherte. Neben ihr stieß Valas einen Fluch aus und zog seine Klingen, während er die geduckte Haltung eines Kämpfers einnahm. Von der Kreatur ging ein Übelkeit erregender, greifbar kalter Hauch aus, so wie die Kälte, die die gesamte Ebene durchdrang, jedoch war sie in der Gegenwart des Monsters weitaus konzentrierter und boshafter. Der finstere Riese schimmerte und nahm ein fast öliges Aussehen an, dann machte er abrupt einen Satz nach vorn.
Noch ehe Halisstra den anderen eine Warnung zurufen konnte, schickte ein Schlag mit der ausladenden Klauenhand sie zu Boden. Die Kreatur wandte sich ab und richtete ihre fahlen Augen auf Valas. Der Späher von Bregan D’aerthe schrie vor Entsetzen auf und wandte seinen Blick ab, ließ einen Kukri fallen und die Hand sinken, in der er die zweite seiner beiden Klingen hielt.
Jeggred stieß eine Warnung aus und näherte sich mit ausgefahrenen Krallen dem Monster, das aber nur einen einzigen Schlag seiner langen schwarzen Hand benötigte, um den Halbdämon zu Boden gehen zu lassen. Der Draegloth stand sofort wieder auf und sprang vor, um tiefe schwarze Furchen in Oberschenkel und Bauch des Riesen zu schneiden, versuchte, die Kreatur auszuweiden, doch sobald die Klauen des Draegloth sich ein Stück weit in das Fleisch des Dings geschnitten hatten, schlossen sich die Wunden wieder.
»Zurück!« schrie Pharaun. »Es ist ein Nachtwandler. Ihm kann man nur mit mächtiger Magie schaden.«
Der Magier setzte zu einem Zauber an, dann nahm ein greller grüner Lichtblitz Gestalt an und schoß auf die Kreatur zu, um ihren Torso möglichst weit oben zu treffen, doch die verderbliche Energie glitt von der glatten schwarzen Haut der Kreatur ab und fügte ihr keinen Schaden zu.
Deine Zauber sind nutzlos, flüsterte eine finstere, entsetzliche Stimme in Halisstras Kopf. Deine Waffen sind nutzlos. Du gehörst nur, dumme Drow.
»Das werden wir sehen«, knurrte Halisstra.
Sie raffte sich auf und stürmte mit erhobenem Streitkolben vor. Die Waffe war mit einem Zauber belegt, und Halisstra hoffte, sie sei stark genug, um der Kreatur Schaden zuzufügen. Der lange Arm mit den todbringenden Krallen schlug nach ihr, doch Halisstra tauchte unter dem Griff des Monsters weg und hieb auf das Knie des Nachtwandlers. Von einem durchdringenden Krachen und einem Aufblitzen aktinischen Lichts begleitet detonierte die Waffe mit der Gewalt eines Donnerschlags. Der Nachtwandler gab keinen Laut von sich, doch sein Knie gab nach, und er begann zu taumeln.
Quenthels Peitsche schnitt durch die Luft und schnappte nach dem Gesicht der Kreatur. Die Vipern fraßen sich in das finstere Fleisch und rissen große, blutende Wunden. Dennoch schien das Ungeheuer von dem tödlichen Gift, das die Waffe absonderte, nicht angegriffen zu werden. Offenbar konnte selbst das stärkste Gift dem Schattengewebe nichts anhaben.
Ryld wirbelte umher und schlug mit seinem Zweihänder nach der Kreatur. Der Nachtwandler versuchte, ihm die Klinge zu entreißen, doch der Meister Melee-Magtheres tänzelte nach hinten und schlug dem Geschöpf mit einem Hieb die halbe Hand ab. Der Nachtwandler schrie tonlos auf, der erzürnte Schrei schnitt sich durch den Kopf eines jeden in der Gruppe. Die Kreatur nahm von keinem anderen mehr Notiz, sondern richtete ihren haßerfüllten Blick auf Ryld und beschwor aus dem schwarzen Boden unter ihnen einen furchterregenden dunklen Rauch herauf, der jegliche Sicht nahm.
Halisstra tastete sich durch den Nebel zurück und suchte nach dem Monster. Der Rauch brannte wie Vitriol in ihrer Nase und gab ihren Augen das Gefühl, in Flammen zu stehen. Dennoch kämpfte sie sich weiter, bis sie fühlte, daß der Riese vor ihr aufragte. Sie hob den Streitkolben und schlug erneut mit aller Kraft gegen das Bein der Kreatur. Neben sich hörte sie Quenthels Peitsche, hörte, wie sich die Vipern in finsteres Fleisch fraßen. Riesige Krallen schnitten sich durch den Rauch, zerrten an Halisstras Schild und drückten sie zu Boden.
»Hier!« rief sie in der Hoffnung, die anderen mit in den Kampf zu holen, doch die ätzenden Dämpfe brannten wie ein Feuer in ihrer Kehle.
Sie kniff die Augen zusammen und schlug blindlings nach der Kreatur. Der boshafte Wille des Nachtwandlers legte sich wie ein Tuch aus Wahnsinn über sie und versuchte, sie jeglicher Vernunft zu berauben, doch sie widersetzte sich diesem neuerlichen Angriff und schlug weiter nach ihrem Widersacher.