»Er kann uns sicher durch Gracklstugh bringen?« fragte Ryld.
Valas spreizte die Hände und erwiderte: »Wir müssen Dokumente oder Briefe mitführen, die Kohlenhauer für uns beschaffen kann. Ich glaube, so eine Art Händlerlizenz.«
»Wir führen keine Waren mit«, stellte Pharaun fest. »Ist das nicht eine etwas dürftige Erklärung?«
»Ich habe ihm erklärt, Herrin Quenthels Familie sei an Geschäften in Eryndlyn beteiligt, und sie solle dort nach dem rechten sehen. Wenn sie alles in bester Ordnung vorfindet, könnte sie daran interessiert sein, mit den Duergar eine Abmachung auszuhandeln, damit die ihre Güter durch das Territorium von Gracklstugh transportieren. Ich deutete auch an, Kohlenhauer könne gut daran tun, sich in diese Abmachung einbeziehen zu lassen.«
Pharaun hatte keine Zeit, etwas zu erwidern, da in der Höhle verstohlene Schritte von mehr als einer Person widerhallten. Die Dunkelelfen blickten auf und sahen, daß sich ihnen eine große Gruppe von Grottenschrat-Kriegern näherte. Angeführt wurden diese von den Söldnern, die nur Minuten zuvor die Flucht ergriffen hatten. Mindestens ein Dutzend Artgenossen hatte sich hinter ihnen versammelt, Äxte und dornenbesetzte Flegel in den haarigen Pfoten, einen mörderischen Blick in den Augen. Die anderen Gäste begannen, sich zurückzuziehen, um sich in Sicherheit zu bringen. Die massigen Humanoiden flüsterten in ihrer eigenen Sprache.
»Sagt«, begann Valas. »Hat irgend jemand einen Grottenschrat getötet, verstümmelt oder gedemütigt, während ich mit Kohlenhauer sprach?« Der Späher sah die anderen an, dann blieb sein Blick an Jeggred hängen, der nur die Achseln zuckte. Er seufzte. »Habe ich mich unklar ausgedrückt, als ich sagte, wir sollten hier keinen Streit anfangen?«
»Es gab ein Mißverständnis, was die Verteilung der Sitzplätze anging«, erklärte Quenthel.
Ryld erhob sich und schlug seinen Mantel nach hinten, damit seine Waffen griffbereit waren. »Ich hätte wissen müssen, daß noch mehr von ihrer Art in der Nähe sein würden.«
»Es ist an der Zeit, diese Geschöpfe daran zu erinnern, wer das Sagen hat«, meinte Halisstra.
Quenthel stand auch auf, zog ihre fünfköpfige Peitsche und betrachtete die Krieger mit einem ironischen Lächeln.
»Jeggred?« sagte sie nur.
Gromph stand auf einem Balkon hoch über Menzoberranzan und betrachtete das schwache Feenfeuer in der Stadt der Drow. Er wartete jetzt seit fast einer Stunde, und seine Geduld war erschöpft. Unter normalen Umständen wäre eine Stunde mehr oder weniger bedeutungslos für einen Dunkelelfen gewesen, der bereits auf ein jahrhundertelanges Leben zurückblicken konnte, doch dies war eine andere Situation. Der Erzmagier wartete voller Angst, er fürchtete die Ankunft dessen, der ihn zu diesem heimlichen Treffen bestellt hatte. Es war kein Gefühl, mit dem Gromph vertraut war, und er stellte fest, daß es ihm auch in keiner Weise behagte. Selbstverständlich hatte er die größten Sicherheitsvorkehrungen getroffen, um sich zu schützen. Er hatte sich mit einer Fülle hervorragender Verteidigungszauber umgeben und mit großer Sorgfalt magische Gegenstände ausgewählt, die ihm Schutz bieten sollten. Doch der Erzmagier war nicht sicher, ob diese Vorsichtsmaßnahmen reichen würden, um denjenigen abzuschrecken, der auf dem Weg war, um sich mit ihm an diesem einsamen, stürmischen Ort zu treffen.
»Gromph«, begrüßte ihn eine kalte, rasselnde Stimme. Ehe der Erzmagier sich umdrehen konnte, fühlte er bereits die Präsenz des anderen – ein eisiger Schauer, dem es irgendwie gelang, alle Abwehrmaßnahmen zu durchdringen, der Gestank einer gewaltigen, schrecklichen Magie. »Gut, daß Ihr meine Einladung angenommen habt. Es ist lange her, nicht wahr?«
Der alte Dyrr näherte sich ihm aus dem Schatten im hinteren Teil des Balkons und stützte sich auf seinen großen Stab. Er glitt mit raschelndem Gewand vorwärts und war dabei nicht schneller als ein schlurfender alter Mann, obwohl sich seine Füße nicht zu bewegen schienen.
Inmitten der ehrgeizigen Drow seines eigenen Hauses paßte es zu Dyrr, daß er das Aussehen eines ehrwürdigen Dunkelelfen von unglaublichem Alter zur Schau trug, doch Gromphs arka-ner Blick durchdrang die Tarnung und ließ ihn die Wahrheit dahinter sehen. Dyrr war tot, tot schon seit Jahrhunderten. Von staubigen Knochen und den Fetzen mumifizierten Fleisches darauf abgesehen, war von dem alten Magier nichts mehr übrig. Seine Hände waren die Klauen eines Skeletts, sein Gewand war verblaßt und zerschlissen, und sein Gesicht war nur ein abscheulich grinsender Schädel. In den schwarzen Augenhöhlen leuchtete die grellgrüne Flamme seines mächtigen Geistes.
»Wie ich sehe, laßt Ihr Euch von meiner Tarnung nicht täuschen«, rasselte der Leichnam. »Ehrlich gesagt wäre ich auch enttäuscht gewesen, wenn Ihr Euch so leicht an der Nase hättet herumführen lassen, Erzmagier.«
»Meister Dyrr«, grüßte Gromph zurückhaltend. Er neigte den Kopf, ohne den Blick von dem Leichnam abzuwenden. »Ehrlich gesagt bin ich überrascht, daß Ihr immer noch unter uns weilt. Mir kamen Gerüchte zu Ohren, Ihr würdet nach wie vor abgeschieden in Eurem Heim ... nun ja ... leben. Von Zeit zu Zeit glaubte ich festzustellen, daß die Geschicke Agrach Dyrrs von einer alten und geschickten Hand geleitet wurden. Aber ich bin in den letzten fast zweihundert Jahren niemals jemandem begegnet, der behauptet hat, Euch gesehen zu haben, und es ist fast doppelt so lange her, daß wir uns das letzte Mal gesprochen haben.«
»Ich lege Wert auf meine Privatsphäre und halte meine Nachfahren dazu an, dies auch zu tun. Es ist für alle Beteiligten am besten, wenn meine führende Hand verborgen bleibt. Wir wollen ja jetzt nicht die Muttermatronen verängstigen, nicht?«
»Das ist wahr. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß sie auf Überraschungen sehr unangenehm reagieren.«
Der Leichnam lachte in einem Tonfall, der das Blut in den Adern gefrieren ließ. Er kam näher, bis er neben Gromph stand und auf die Stadt hinabblicken konnte. Der Erzmagier empfand die unnatürliche Anwesenheit dieser untoten Kreatur als ein wenig beunruhigend – auch ein Gefühl, das er nicht oft verspürte.
Welche Geheimnisse birgt dieser wandelnde Geist in seinem leeren Schädel? fragte sich Gromph. Was weiß er über diese Stadt, woran sich sonst niemand mehr erinnert? Welche einsamen, schrecklichen Geschichten hat er allein in den trostlosen Jahrhunderten seiner Existenz erlebt, die ihm den Tod verweigert?
Diese Fragen beschäftigten Gromph, aber er beschloß, seine Spekulationen zurückzustellen.
»Nun, Meister Dyrr, Ihr habt um dieses Treffen gebeten. Worüber sollen wir reden?«
»Ihr wart schon immer bewundernswert direkt, Baenre«, sagte der Leichnam. »Eine erfrischende Eigenschaft bei unserer Art. Kommen wir zur Sache: Wie denkt Ihr über die Schwierigkeiten, von denen unsere Stadt in jüngster Zeit heimgesucht wurde? Genauer gefragt, was glaubt Ihr, was angesichts der Machtlosigkeit getan werden sollte, von der unsere Priesterinnenkaste heimgesucht wurde?«
»Was sollte getan werden?« gab Gromph zurück. »Schwer zu sagen, wenn man bedenkt, daß die Frage eigentlich lauten müßte, was überhaupt unternommen werden kann. Es liegt nicht in meiner Macht, die Königin über den Abgrund der Spinnennetze dazu zu bewegen, den Priesterinnen wieder ihre Gunst zu erweisen. Lolth tut, was sie will.«
»Wie stets. Ich will nicht unterstellen, daß Ihr etwas ändern könntet.« Der Leichnam schwieg kurz, das grüne Feuer in seinem Blick richtete sich auf den Erzmagier. »Was seht Ihr, wenn Ihr heute Menzoberranzan seht?«
»Unordnung. Gefahr. Verleugnung.«
»Vielleicht auch eine Gelegenheit?«
Gromph zögerte, ehe er erwiderte: »Ja.«
»Ihr habt gezögert. Seid Ihr nicht meiner Meinung?«
»Damit hat es nichts zu tun.«
Der Erzmagier legte die Stirn in Falten und wählte seine Worte mit Bedacht. Er wollte die mächtige Erscheinung nicht vor den Kopf stoßen. Dyrr schien vernünftig zu sein, doch der Verstand litt von Fall zu Fall unter dem hohen Alter eines Untoten. Er mußte davon ausgehen, daß der Leichnam zu wirklich allem in der Lage war.