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»Meister Dyrr«, sagte er ruhig. »Sicherlich habt Ihr selbst festgestellt, daß die Listen der Spinnenkönigin unendlich sind. Die einzige Gewißheit in unserer Existenz ist die, daß Lolth eine launenhafte und fordernde Gottheit ist, eine Göttin, die sich daran erfreut, sehr harte Lektionen auszuteilen. Was, wenn ihr Schweigen nur eine Täuschung ist, um die auf die Probe zu stellen, die ihr treu sind? Ist es nicht möglich oder sogar wahrscheinlich, daß Lolth ihren Priesterinnen ihre Gunst versagt, nur um zu sehen, wie sie reagieren? Oder – schlimmer noch – daß sie sehen will, ob die Feinde ihres Klerus den Mut aufbringen, um aus dem Schatten zu treten und ihre Anhänger offen anzugehen? Wenn das der Fall ist, was wird dann aus dem, der dumm genug ist, der Spinnenkönigin zu trotzen, wenn sie ihrer Prüfung müde wird und den Priesterinnen wieder ihre volle Gunst erweist – und das so plötzlich, wie sie sie ihnen entzogen hat? Ich will nicht bei einem solchen Schachzug ertappt werden – ganz und gar nicht.«

»Eure Logik ist schlüssig, auch wenn ich glaube, daß die Gewohnheit, vorsichtig zu sein, Eure Gedankengänge hinken läßt«, sagte Dyrr. »Ich könnte Euch fast zustimmen, Junge, wenn da nicht diese eine Tatsache wäre. In den mehr als zweitausend Jahren, die ich auf dieser Welt zugebracht habe, ist so etwas noch nie geschehen. Sicher, ich kann mich an eine ganze Reihe von Begebenheiten erinnern, als Lolth ihren Klerikern für einige Tage ihre Zauber verwehrte, und es gab viele Fälle, in denen sie ganz bewußt entschied, dieser einen Priesterin oder jenem Haus dort ihre Gunst gänzlich zu verweigern, um sie ihren Feinden zu überlassen, doch noch nie ließ sie Monat um Monat unsere ganze Rasse im Stich.« Der Leichnam sah nachdenklich auf. »Es erscheint mir eine klägliche Art und Weise, den eigenen Anhängern zu begegnen. Sollte ich jemals den Status eines Gottes erlangen, dann glaube ich, ich werde versuchen, bessere Arbeit zu leisten als sie.«

»Was exakt schlagt Ihr vor, Meister Dyrr?«

»Ich schlage überhaupt nichts vor, aber ich erwäge, Baenre, ob man machtlosen Klerikern noch allzulange die Herrschaft über diese Stadt anvertrauen sollte. Ihr und ich, wir verfügen doch immer noch über eine immense, schreckliche Macht, nicht wahr? Die mystischen Geheimnisse unserer Kunst haben uns nicht im Stich gelassen, und sie werden es wohl auch in Zukunft nicht. Vielleicht ist der Zeitpunkt gekommen, an dem wir die Sicherheit unserer Zivilisation erwägen müssen, die Verteidigung unserer Stadt, indem wir die Zügel der Macht in die Hand nehmen, die die Muttermatronen nicht länger halten können. Die Gefahr für unsere Stadt wächst von Stunde zu Stunde. Schließlich haben wir Rivalen jenseits unseres Dunklen Reiches, andere Rassen, andere Reiche, die uns bedrohen.«

»Genau das ist der Grund, warum ich zögere, Drow-Magier gegen Drow-Priesterinnen ins Feld zu führen«, erwiderte Gromph. »Die einzige Sache, die möglicherweise unsere momentane Verwundbarkeit noch erhöhen könnte, wäre ein Bürgerkrieg. Wenn wir uns das Schicksal Ched Nasads ersparen wollen, dann müssen wir die bestehende Ordnung beibehalten, bis die Krise vorbei ist.«

»Was glaubt Ihr, was Euch diese blinde Loyalität einbringen wird – von den Priesterinnen oder von Lolth?« Dyrr drehte sich wieder um und tippte ihm mit einem knochigen Zeigefinger auf die Brust. Gromph konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. »Ihr habt Potential, Gromph. Ihr seid begabt, und Ihr blickt über das Haus Baenre hinaus auf ganz Menzoberranzan. Bringt Eure Fähigkeiten ins Spiel und erwägt sorgfältig, wie Ihr in den nächsten Tagen entscheidet. Es stehen Ereignisse an, die Euch die Gelegenheit bieten, zu Ruhm aufzusteigen oder zu scheitern. Trefft nicht die falsche Entscheidung.«

Gromph machte einen behutsamen Schritt nach hinten, bewegte sich über den Abgrund der Höhle und schwebte in der Luft.

»Ich fürchte, ich muss mich um Narbondel kümmern, Meister Dyrr. Ich werde jetzt gehen ... und gründlich über Eure Worte nachdenken. Ihr könntet die Situation zutreffender erfaßt haben als ich.«

Der intensiv grüne Blick des Leichnams folgte Gromph hinab in die Dunkelheit, während er dem Grund entgegensank. Er würde lange und gründlich über die Worte des Untoten nachdenken. Er konnte Dyrr durch Höflichkeit und Vorsicht vertrösten, aber nicht unendlich lange. Gromph war sicher, daß der Leichnam bei ihrer nächsten Begegnung eine andere Antwort hören wollte.

Der Dunkelsee war ein merkwürdiger, gräßlicher Ort. Eine Schwärze, die größer war als alles, was Halisstra je gesehen hatte, umschloß sie und ihre Gefährten, ein Raum, dessen gewaltige Ausmaße ihrem Verstand zu schaffen machten. Die Höhlen der Drow maßen oft viele Kilometer im Durchmesser und beherbergten immens große Städte, in denen Tausende von Drow lebten. Doch wenn Kohlenhauer nicht übertrieb, dann füllte der Dunkelsee eine Höhle, die von einem Ende bis zum anderen über hundertfünfzig Kilometer maß und eine Höhe von dreihundert Metern aufwies. Das Wasser des Sees füllte fast die gesamte Höhle aus, und als sie sich über den See fortbewegten, war die Decke oft nur einen Speerwurf weit über ihnen, was bedeutete, daß viele hunderte Meter eines schwarzen Mysteriums unter ihnen lauerten. Es war unbehaglich.

Kohlenhauers Boot war weit davon entfernt, bequem zu sein. Es war ein asymmetrisches Wasserfahrzeug, das größtenteils aus Planken bestand, die aus den holzigen Stämmen einer bestimmten Pilzsorte des Unterreiches geschnitten und dann lackiert worden waren, was ihnen Stärke und Festigkeit verlieh. Das Zurkhholz bildete eine breite Plattform, die auf einer Ansammlung von Luftblasen trieb, die der Wasserspezies eines Riesenpilzes entnommen worden waren. Das alles wurde mittels der hervorragenden Metallbearbeitungskunst der Duergar zusammengehalten.

Vier wuchtige Skelette – zu Lebzeiten wohl Oger oder vielleicht Trolle – kauerten in dem einem Brunnen ähnelnden Bereich in der Mitte des Bootes und drehten unablässig zwei große Kurbeln, die ein Paar Schaufelräder aus Zurkhholz antrieben. Die geistlosen Untoten ermüdeten nie, klagten nie und wurden niemals langsamer, es sei denn, Kohlenhauer wies sie dazu an. So bewegten sie das Boot über den See, und die einzigen Geräusche waren das leise Plätschern des Wassers, wenn es von den Schaufelrädern bewegt wurde, und das kaum wahrnehmbare Schaben und Kratzen der Knochen, die aneinander rieben. Der Duergar stand nahe dem Heck auf einer kleinen, erhöhten Brücke, die genügte, um über die Schaufelräder hinwegzublicken. Mit vor der massigen Brust verschränkten Armen stand er da und spähte gedankenverloren in die Finsternis.

Die Passagiere kauerten auf dem kalten, unbequemen Deck oder gingen hin und her, wobei sie immer auf Distanz zum Rand der Plattform blieben, die nicht von einem Geländer umgeben war. Die Reise von Mantol-Derith aus verlief nicht besonders schnell, da das Gefährt keine hohen Geschwindigkeiten erreichen konnte, und Kohlenhauer mußte zudem an den Stellen vorsichtig manövrieren, an denen die Decke so niedrig war, daß das Boot dort nicht weiterkam.

Valas verbrachte die meiste Zeit damit, neben dem Zwerg auf der Brücke zu stehen und ein Auge auf den Kurs zu werfen. Pharaun saß im Schneidersitz am Fuß der Brücke, tief in Trance versunken, während Ryld und Jeggred an Backbord und Steuerbord Wache hielten, um darauf zu achten, daß sich ihnen keiner der Bewohner dieses Gewässers näherte. Die Priesterinnen blieben für sich, ebenfalls in Trance versunken, wobei sie auf das dunkle Wasser blickten und ihren Gedanken nachgingen.

Fast zwei Tage vergingen so, nur unterbrochen von kurzen Pausen, um zu essen oder um dem Duergar-Kapitän Zeit zu geben, sich auszuruhen. Kohlenhauer achtete sehr darauf, kein Licht zu entzünden. Daher mußten sie ihre Feuerstelle zum Kochen auch in eine kleine, abgeschlossene Kiste verlagern, damit von den Flammen nichts zu sehen war.