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»Zu viele Dinge werden vom Licht angelockt«, murmelte er. »Selbst das kann schon zuviel sein.«

Nach der dritten derart zubereiteten Mahlzeit, die sie spät am zweiten Tag der Reise zu sich nahmen, zog sich Halisstra zum Bug des Schiffs zurück, damit sie ihren Blick auf das Wasser richten konnte, anstatt unentwegt einen ihrer Gefährten anzustarren. Durch den heftigen Kampf bei der Flucht aus Hlaungadath und durch die Reise auf der Ebene der Schatten war ihr bislang nur wenig Zeit geblieben, um die neue Situation zu begreifen, in der sie sich befand. Die endlosen Stunden, in denen nichts anderes zu hören war als das leise Plätschern des Wassers und die fast insektengleichen Geräusche, die der skelettartige Antrieb des Bootes verursachte, hatten sie von jeglichen Beschäftigungen abgehalten, so daß sich vor ihrem geistigen Auge immer wieder der Untergang Ched Nasads abspielte.

Was ist aus meinem Haus geworden? fragte sie sich. Haben sich Diener und Soldaten durch die Flucht aus Ched Nasad retten können? Sind sie gemeinsam unterwegs? Wer führt sie an? Oder sind sie alle in den Flammen und Trümmern umgekommen?

Der Tod der Muttermatrone Melarn machte Halisstra zum Oberhaupt des Hauses, vorausgesetzt, keine ihrer jüngeren Basen hatte bislang den Führungsanspruch angemeldet. Wenn ja, dann war sich Halisstra sicher, daß sie ihr diesen Anspruch würde abringen können. Sie war stets die Lieblingstochter des Hauses Melarn gewesen, die älteste, die stärkste, und sie wußte, ihre Basen konnten ihr nicht vorenthalten, was ihr durch Geburt zustand.

Doch es schien in der Tat sehr wahrscheinlich, daß ihr Geburtsrecht nur Asche und Schutt am Grund der großen Spalte von Ched Nasad war. Selbst wenn ein Teil ihres Hofstaats entkommen war – würde sie die Dienerschaft wirklich suchen und sich ihr anschließen wollen, um mit ihr in einem elenden, verdreckten und gefährlichen Exil im Unterreich zu leben?

So hatte es nicht kommen sollen, dachte sie. Ich sollte den Platz meiner Mutter einnehmen und die Macht erhalten, die zuvor die ihrer Mutter und davor die ihrer Großmutter gewesen war. Die tausend Fäden Ched Nasads hätten mir zu Füßen gelegen. Ein Wort, ein Blick, ein Stirnrunzeln hätten genügt, damit der geringste meiner Wünsche erfüllt worden wäre. Doch jetzt bin ich statt dessen zur Wanderin ohne Wurzeln geworden.

Warum, Lolth? rief sie im Geiste. Warum? Was haben wir getan, dich so zu verärgern? Welche Schwäche haben wir gezeigt?

Früher hatte Halisstra das finstere Flüstern Lolths in ihrem Herzen gehört, doch dieser Ort war nun leer. Lolth wollte nicht antworten. Sie bestrafte Halisstra nicht einmal dafür, daß sie die Verwegenheit besaß, eine Antwort zu verlangen.

Wenn Lolth sie wirklich verlassen hatte, was wäre dann aus ihr geworden, wenn sie ihrem Haus in den Untergang gefolgt wäre? Ihr ganzes Leben lang hatte Halisstra geglaubt, ihr Dienst als Priesterin und als Bae’qeshel für die Königin des Abgrunds der Dämonennetze werde ihr nach dem Tod einen Platz weit oben in Lolths Reich bescheren, doch was würde nun aus ihr werden? Würde ihr entwurzelter Geist mit den anderen unglücklichen Seelen gefangen sein, die kein Gott im Leben nach dem Tode für sich beanspruchte? Würde es ihr Schicksal sein, jenes wahren, ewigen Todes in den grauen Weiten zu sterben, der den Ungläubigen vorbehalten war? Halisstra schauderte es. Lolths Glaube verlangte Härte, Weichlinge hatten dort keinen Platz, doch eine Priesterin hatte immer erwarten können, für den Dienst zu Lebzeiten im Tode belohnt zu werden. Wenn dem nicht mehr so war ...

Danifae kam zu ihr und kniete neben ihr nieder. Sie sah Halisstra in die Augen und senkte nicht ihren Blick.

»Die Trauer ist ein süßer Wein, Herrin Melarn. Wenn Ihr nur einen kleinen Schluck davon trinkt, seid Ihr versucht, mehr zu trinken. Es wird nie besser, wenn Ihr Euch einem von beiden im Übermaß hingebt.«

Halisstra sah weg, um sich zu sammeln. Sie wollte nicht ihr Entsetzen mit Danifae teilen.

»Trauer beschreibt nicht annähernd, was in meinem Herzen vorgeht«, sagte sie. »Ich kann seit Beginn dieser unendlichen Reise an kaum etwas anderes denken. Ched Nasad war mehr als nur eine Stadt. Es war ein Traum, ein düsterer und zugleich strahlender Traum Lolths. Elegante Burgen, grandiose Netze, Häuser voller Reichtum, Stolz und Ehrgeiz, alles binnen weniger Stunden verbrannt. Die Stadt, ihre Matronen und Töchter, die schön gesponnenen Paläste, alles verloren – und warum?« Sie schloß die Augen und kämpfte gegen den Schmerz an, der sie zu überwältigen drohte. »Es waren nicht die Zwerge, die uns zerstörten. Wir waren es.«

»Ich werde nicht den Untergang Ched Nasads betrauern«, sagte Danifae. Halisstra sah auf, wobei sie der leidenschaftslose Tonfall der Frau tiefer traf als die Worte. »Es war eine Stadt voller Feinde, von denen die meisten nun tot sind, während die anderen wie Bettler in die Wildnis des Unterreiches geflohen sind. Ich werde nicht um Ched Nasad trauern. Wer wird das schon – bis auf die wenigen Überlebenden, deren Zuhause es war?«

Halisstra wollte darauf nichts sagen. Niemand trauerte um eine Stadt der Drow, nicht einmal die anderen Drow. So waren die Drow eben. Die Starken überlebten, die Schwachen gingen unter, ganz so, wie die Spinnenkönigin es verlangte. Danifae wartete lange Zeit, ehe sie weitersprach: »Habt Ihr darüber nachgedacht, was wir als nächstes tun sollen?«

Halisstra warf ihr einen kurzen Blick zu: »Unser Schicksal ist doch von diesen Menzoberranzanyr längst besiegelt, nicht wahr?«

»Für heute ja, aber werden Eure und ihre Interessen morgen übereinstimmen? Was werdet Ihr tun, wenn Lolth Euch morgen wieder ihre Gunst erweist? Wohin wollt Ihr gehen?«

»Ist das wichtig?« fragte Halisstra. »Vermutlich werde ich nach Ched Nasad zurückkehren und die Überlebenden zusammenbringen, die ich finde. Es wird eine schwere Aufgabe werden, mehr, als ich im Lauf eines Lebens zu bewältigen hoffen könnte, aber mit dem Segen Lolths könnte Haus Melarn wieder auferstehen.«

»Glaubt Ihr, Quenthel würde so etwas zulassen?«

»Warum sollte sie kümmern, was ich mit dem Rest meines Lebens anfange? Vor allem, wenn ich mein Leben damit verbringe, einen kläglichen Bruchteil eines Hauses aufzubauen, das in Schutt und Asche liegt?« gab Halisstra bitter zurück.

Danifae spreizte nur die Hände. Halisstra verstand. Welchen Grund brauchte eine Baenre schon, um irgend etwas zu tun?

Die Menzoberranzanyr mochten sie zwar aus Ched Nasad gerettet haben, doch ein Wort Quenthels genügte, um aus ihr eine Gefangene zu machen oder um ihr das Leben zu nehmen. Die junge Frau sah hinüber, wo die anderen meditierten oder Wache hielten, dann wechselte sie zur Zeichensprache und achtete darauf, daß niemand sonst sie beobachten konnte.

Vielleicht wäre es ratsam zu überlegen, auf welche Weise wir uns für die Menzoberranzanyr unentbehrlich machen können, bedeutete sie. Es wird der Tag kommen, an dem wir nicht länger auf Quenthel Baenres Mildtätigkeit angewiesen sein wollen.

»Vorsicht«, warnte Halisstra.

Sie setzte sich auf und unterdrückte den Impuls, einen Blick über die Schulter zu werfen. Danifae besaß ein untrügliches Gespür dafür, wie sie andere manipulieren konnte. Doch wenn Quenthel den Eindruck bekam, Halisstra und Danifae strebten danach, ihre Autorität zu untergraben – oder auch nur ihre Handlungsfreiheit zu beschneiden –, dann würde die Baenre zweifellos schnell und drastisch einschreiten, um dem zuvorzukommen.

Du schlägst etwas sehr gefährliches vor, Danifae. Quenthel würde nicht zögern, eine Herausforderin zu töten, und wenn ich getötet würde ...

Würde ich das nicht überleben, führte Danifae für sie den Satz zu Ende. Mir sind die Bedingungen meiner Gefangenschaft bekannt, Herrin Melarn. Doch Untätigkeit im Angesicht einer Gefahr für uns ist sicher nicht weniger riskant als das, was ich vorschlagen will. Hört mich an, dann könnt Ihr entscheiden, was ich tun soll.

Halisstra betrachtete die junge Frau mit den perfekt geschnittenen Zügen und der verführerischen Figur. Sie mußte an die Unterhaltung zwischen Quenthel und Danifae denken, die sie in den Katakomben Hlaungadaths belauscht hatte. Sie konnte Danifaes Plan mit einem Wort stoppen. Sie konnte das sogar durch die Magie des Medaillons erreichen ... aber dann würde sie nie erfahren, was Danifae sich zurechtgelegt hatte, um ihre eigene Absicht in die Tat umzusetzen.