Nimor verließ Menzoberranzan – für den Fall, daß es nötig wurde, seinen Aufenthalt in der Stadt zu rechtfertigen – mit einer Reihe von Zahlungen und Belegen, die zeigten, daß Reethk Vaszune sich auf eine Vereinbarung eingelassen hatte, die die Magier von Agrach Dyrr mit bestimmten Zauberreagenzien und Komponenten versorgte. Die Einzelheiten, die die von ihm ausgehandelten eigentlichen Abmachungen betrafen, fanden sich dagegen einzig in seinem Kopf. Die Gesalbte Klinge der Jaezred Chaulssin war mit den Ergebnissen ihrer Arbeit sehr zufrieden. Auch wenn er Agrach Dyrr nicht unbedingt für das brauchte, was ihm vorschwebte, würde die Vereinbarung, die er mit dem alten Meister des Hauses getroffen hatte, die vor ihm liegende Arbeit spürbar vereinfachen.
Nimor wechselte von Qu’ellarz’orl in eine kleine Seitenhöhle, die hinaus in das Dunkle Reich führte. In den letzten Monaten hatte er sich mit dem Irrgarten aus gefährlichen Passagen rings um die große Stadt vertraut gemacht, so daß er rasch eine ruhige, dunkle Ecke fand, die von den Verteidigern der Stadt nicht eingesehen werden konnte. Die Gesalbte Klinge streckte eine Hand nach der Wand aus. Der Ring der Schatten leuchtete in seiner linken Hand, ein kleiner Kreis aus pechschwarzer Finsternis, der mehr wie ein kleines Loch in der Welt wirkte, weniger wie ein Schmuckstück. Neben seinen anderen Fähigkeiten erlaubte der Ring es ihm, sich auf der Ebene der Schatten zu bewegen, so daß er von vielen Einschränkungen und Hindernissen befreit war, die eine Reise zu Fuß mit sich gebracht hätte.
Er machte einen Schritt auf die Wand zu und verschwand in der Randzone der Schatten. Sein Ziel war nur ein paar hundert Kilometer von Menzoberranzan entfernt. Er hatte diese Reise bereits einige Male unternommen und benötigte selten mehr als eine Stunde. Kein Sohn Chaulssins mußte sich fürchten, wenn er sich inmitten der Schatten bewegte, deshalb konzentrierte sich Nimor darauf, den Wert seiner Allianz mit Agrach Dyrr zu beurteilen und sich zu fragen, ob er dem alten Hexenmeister, dem heimlichen Herrscher über das Haus, wirklich so vertrauen konnte, wie der behauptete.
Nimor folgte für eine unermeßliche Zeitspanne dem finsteren Pfad, den der Ring ihm durch die Randzone bahnte, und schließlich wand sich der Weg zurück in die Welt der Sterblichen. Es war in der Randzone fast unmöglich zu sagen, wieviel Zeit verstrichen war, doch es war auch nicht von Bedeutung, weil die Magie des Zaubers so ausgerichtet war, daß der geschaffene Pfad ihn in jedem Fall zum gewünschten Zielort führte. Der Assassine legte die Hand um das Heft seines Rapiers und erreichte die letzte Phase seiner Reise, für die er einen Schleier aus Düsternis durchschritt und in eine große, gewölbeartige Kammer gelangte, die aus sorgfältig zusammengefügten Steinblöcken erbaut war. Nur eine Tür führte aus diesem Raum, ein großes Eisentor, das mit Zaubern verstärkt war. Nimor zog unter dem Kettenhemd einen großen Bronzeschlüssel hervor und steckte ihn ins Schloß. Fast augenblicklich öffnete sich die Tür mit einem rostigen Knarren.
Auf der anderen Seite der Tür lag ein großer, düsterer Saal, der von rotglühenden Kohlen in Rosten schwach erhellt wurde. Wie das Gewölbe war auch dieser aus behauenem Stein gebaut. Es fehlte an jedweden Dekorationen oder Verzierungen. Nimor spürte die Präsenz mehrerer Wächter, doch keiner von ihnen wollte sich zeigen.
»Ich bin es, Nimor«, sagte er. »Laßt den Kronprinzen wissen, daß ich hier bin.«
Neben ihm nahmen mehrere Duergar-Wachen Gestalt an, die bis gerade eben noch unsichtbar gewesen waren. Die Duergar waren einen Kopf kleiner als der Drow, doch sie waren breitschultrig und hatten einen langen Torso, dazu kurze, aber kräftige Beine und muskulöse Arme. Sie trugen schwarze Rüstungen, in den Händen hielten sie Streitäxte und Schilde, auf denen das Symbol Gracklstughs prangte. Eine Duergar-Frau, auf deren Dienstgrad nur ein einzelner Streifen Goldfiligran auf ihrem Helm hinwies, beobachtete ihn aufmerksam.
»Der Kronprinz hat Anweisung gegeben, Euch ins Gästequartier des Palastes zu bringen. Er wird sich in Kürze melden.«
Sie ließ die höfliche Mitteilung wie einen Befehl klingen.
Der Assassine verschränkte die Arme und ließ sich von zwei Steinwachen der Leibgarde des Prinzen abführen. Die Duergar betrachteten ihn mit Unbehagen, als erwarteten sie von Nimor etwas Bösartiges. Auch wenn Menzoberranzan und Gracklstugh seit Jahrtausenden Nachbarn waren, herrschte zwischen Duergar und Drow keine Freundschaft. Duergar und Dunkelelfen hatten mehr als einmal erbittert um die Kontrolle über die sich gut hundertfünfzig Kilometer erstreckenden Höhlen und Felsspalten zwischen den beiden Städten gekämpft. Die Tatsache, daß es seit über einem Jahrhundert nicht mehr zum Krieg gekommen war, hing nur mit einer widerwilligen Anerkenntnis der Kraft des jeweils anderen zusammen, nicht etwa damit, daß sich an der Feindschaft irgend etwas gebessert hätte.
Die Wachen führten ihn durch die labyrinthartigen Korridore des Palastes und brachten ihn in eine große Suite in einem nicht benutzten Teil der Festung. Die Einrichtung war einfach, zweckmäßig und entsprach dem Geschmack der Duergar. Nimor ließ sich nieder, um zu warten, und trat schließlich ans Fenster, das nur wenig mehr war als ein schmaler Schlitz, um einen Blick auf die graue Zwergenstadt unterhalb des Palastes zu werfen. Die zeigte sich reizlos wie immer und präsentierte sich als stinkender Hexenkessel aus Rauch und Lärm.
Nach einer Weile hörte Nimor Schritte, und als er sich umdrehte, betrat soeben Horgar Stahlschatten die Suite, begleitet von einem Paar Steinwachen.
»Ah«, sagte der Drow und deutete mit dem Kopf eine Verbeugung an. »Ich grüße Euch, mein Fürst. Wie laufen die Geschäfte?«
»Ich bezweifle, daß Euch das interessiert«, gab Horgar zurück. Für den Herrscher einer so mächtigen Stadt war der Kronprinz in vieler Hinsicht unscheinbar. Mit seinem mürrischen Blick und seinem kahlen Schädel sah er den anderen Duergar im Raum verblüffend ähnlich. Er trug ein Zepter, aber keine Rüstung, das einzige Merkmal, das ihn von seinen Leibwächtern unterschied. Den Wachen bedeutete er, an der Tür zu warten, dann durchquerte er den Raum, um sich leise mit Nimor zu unterhalten. »Welche Neuigkeiten bringt Ihr?«
»Ich glaube, ich habe die Verbündeten gefunden, nach denen ich in Menzoberranzan gesucht hatte, werter Prinz. Ein starkes Haus, das gewillt ist, die Ordnung der Dinge auf den Kopf gestellt zu sehen, dessen Loyalität dort aber nicht angezweifelt wird. Die Stunde des Sieges naht.«
»Ha! Haus Zauvirr war sehr erpicht darauf, unsere Söldner in Ched Nasad einzusetzen, aber nur verdammt wenige von Khorrl Xornbanes Stamm sind zurückgekehrt. Ich bin sicher, daß Ihr oder dieser Zammzt die gleichen Worte in Khorrls Ohr geflüstert habt, als Ihr seine Männer in Euren Dienst nahmt.«
»Xornbanes Verluste sind bedauerlich, doch ehrlich gesagt hatten wir nicht erwartet, daß Eure Steinbrandbomben in Ched Nasad so durchschlagende Wirkung zeigen würden. Wäre es nicht so weit gekommen, hätte Khorrl zusammen mit Haus Zauvirr die Stadt eingenommen.«
Der Duergar-Prinz warf ihm einen finsteren Blick zu, sein Bart ragte vor wie eine Flaschenbürste.
»Ich warnte Khorrl, daß Drow die Gewohnheit haben, Söldner und ganz besonders Zwerge sehr schlecht zu entlohnen. Ich möchte keine weitere unserer Söldnertruppen in eine solche Gefahr schicken. Xornbane machte ein Achtel der Streitmacht dieser Stadt aus.«
»Ich benötige keine weitere Eurer Söldnertruppen, Prinz, ganz gleich, wie groß und kampflustig sie auch ist«, versicherte Nimor ihm. »Ich brauche Eure ganze Armee. Marschiert mit Eurer Streitmacht ein, und Ihr müßt Euch über eine Niederlage keine Gedanken machen.«
»Das riecht immer noch nach einer heimtückischen Falle der Drow.«
Nimor runzelte die Stirn. »Prinz Horgar, wenn Ihr zögert, ein Risiko einzugehen, werden Ihr auch nur selten gewinnen können, wenn die Würfel fallen. Euch bietet sich die Gelegenheit, etwas Großes zu erreichen, aber ich kann Euch keine Erfolgsgarantie geben und Euch auch nicht vormachen, unser Unternehmen sei frei von Risiken.«