Nimor nahm ein schwaches Vibrieren am Rand seiner Gedanken wahr, als versuche er sich an etwas zu erinnern, was er für einen Moment vergessen hatte. Er lehnte sich zurück und grinste das Alu-Scheusal breit an.
»Ich hoffe, Ihr verzeiht, werte Dame, aber ich wurde erst vor kurzem in ein Gespräch verwickelt, bei dem mein Gegenüber Gedanken lesen konnte. Darum habe ich Vorkehrungen getroffen, damit mir so etwas heute nicht schon wieder widerfährt. Ihr werdet Eure Antworten in meinem Kopf nicht finden.«
Aliisza runzelte die Stirn und sagte: »Nun muß ich mich fragen, welche Gedanken Ihr so gut abschirmt, Nimor. Habt Ihr Angst, mir könnte mißfallen, was ich dort vorfände?«
»Wir haben alle unsere Geheimnisse.« Nimor roch wieder an seinem Wein, um das Bukett zu genießen. Er würde ihr nicht die ganze Wahrheit sagen, aber er würde von sich geben, was unter den Umständen vertretbar war. »Ich gehöre zu einem niederen Haus in Menzoberranzan, in dem manche Dinge praktiziert werden, die die Muttermatronen nicht gutheißen würden«, setzte er an. »Unter anderem unterwerfen wir uns nicht der Tyrannei der Frauen, die Lolth anbeten. Außerdem besitzen wir alte, enge Verbindungen zu kleinen Häusern in anderen Städten, die die gleichen Praktiken hochhalten. Wir tarnen uns als Kaufleute, aber unsere wahre Art und unsere Fähigkeiten verschweigen wir.«
»Fähigkeiten?«
»Wir sind Assassinen, werte Dame, und in dem, was wir tun, sind wir sehr gut.«
Aliisza beugte sich vor und stützte ihr zartes Kinn auf die Fingerspitzen, während sie Nimor mit ihrem dunklen, schelmischen Blick studierte.
»Was macht ein Assassine aus Menzoberranzan in Gracklstugh, wenn er Horgar Stahlschatten berät, während der seine Armee für einen Krieg aufmarschieren läßt?« fragte sie. »Ist das nicht Hochverrat?«
Nimor erwiderte achselzuckend: »Wir wollen, daß die bestehende Ordnung auf den Kopf gestellt wird. Wir können ohne Armee nicht die großen Häuser unserer Stadt besiegen, und Gracklstugh ist in dieser Ecke des Unterreiches die stärkste Macht. Als uns klar wurde, daß Lolth ihre Priesterinnen im Stich gelassen hatte, erkannten wir, daß sich damit die einzigartige Gelegenheit bot, einen tödlichen Schlag gegen die großen Häuser zu führen. Wir haben alles darangesetzt, Horgar zu der Ansicht gelangen zu lassen, dies sei auch eine Gelegenheit für ihn.«
»Seid Ihr nicht besorgt, daß die Duergar die Stadt gar nicht an Euch abgeben wollen könnten, wenn sie sie erst einmal erobert haben?«
»Natürlich sind wir das«, erwiderte Nimor. »Aber wenn ich ehrlich sein soll, dann ist der Fall der Häuser Lolths ein so erstrebenswertes Ziel, da wiegt das Risiko hinsichtlich der Duergar nicht weiter schwer. Selbst wenn sich Gracklstugh gegen mein Haus wendet und Menzoberranzan für hundert Jahre besetzt hält, würden wir überleben und früher oder später die Stadt zurückerobern.«
Aliisza stand anmutig auf und ging zu einem schmalen, eher einem Schlitz gleichenden Fenster, von dem aus man die Stadt überblicken konnte.
»Glaubt Ihr wirklich, Lolth wird es zulassen, daß ihre Stadt fällt? Was wird aus dem Angriff der Grauzwerge, wenn die Priesterinnen Lolths auf einmal ihre Macht zurückerlangen?«
»Wir sind eine langlebige Rasse, werte Dame. Mein Großvater sah mit eigenen Augen Dinge, die sich vor tausend Jahren abspielten. Bei uns gerät die Vergangenheit nicht in Vergessenheit wie bei anderen Rassen. In all unseren Legenden und unserer Geschichte findet sich keine Phase des Schweigens, das so vollständig war und so lange anhielt. Selbst wenn es nur vorübergehend ist, bietet sich hier eine Chance, wie sie nur alle paar tausend Jahre wiederkehrt. Wie könnten wir diese Gelegenheit zum Zuschlagen ungenutzt lassen?«
»Vielleicht habt Ihr recht. Ich sprach mit anderen Drow, die zu glauben scheinen, sie hätten es mit einem außergewöhnlichen und noch nie dagewesenen Phänomen zu tun.« Aliisza sah ihn über die Schulter an und ergänzte: »In Ched Nasad begegnete ich sogar einer Gruppe hochrangiger Menzoberranzanyr, die in die Stadt gekommen waren, um nach dem Grund für das Schweigen Lolths zu suchen. Quenthel Baenre, die Meisterin Arach-Tiniliths, führte diese Gruppe an.«
»Ich hörte von Herrin Quenthels Mission. Sie hatte es also nach Ched Nasad geschafft?«
»Ja, nachdem sie das Territorium Kaanyr Vhoks durchquert hatten. Sie trafen gerade noch zeitig genug ein, um den Untergang der Stadt mitzuerleben.«
»Hat jemand aus der Gruppe überlebt?«
Aliisza zuckte die Achseln. »Das kann ich nicht sagen. Sie waren recht begabt. Wenn jemand der Zerstörung der Stadt entkommen konnte, dann sie.«
Nimor trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte und überlegte. War Quenthels Erkundungsmission wirklich bedeutsam gewesen? Er konnte sich auch vorstellen, daß die Muttermatronen entschieden hatten, die Herrin Arach-Tiniliths für eine Weile aus der Stadt zu schicken, weil sie vielleicht gefährlichen Bestrebungen nachgegangen war. Dennoch stellte sie eine unbekannte Größe dar, von der die Jaezred Chaulssin in Kenntnis gesetzt werden sollte. Eine Gruppe mächtiger Drow, die sich im Unterreich aufhielt, konnte für alle nur denkbaren Schwierigkeiten sorgen.
»Fanden sie Antworten auf ihre Fragen?« fragte er.
»Nicht daß ich wüßte«, sagte Aliisza. Sie wandte sich wieder vom Fenster ab und glitt zum Tisch zurück, dann wechselte sie das Thema. »Ihr wart sehr darauf aus, Euch beim Kronprinzen für mein Anliegen einzusetzen. Darf ich fragen warum?«
Der Assassine beugte sich wieder vor und betrachtete sie aufmerksam.
»Das hattet Ihr schon angesprochen«, sagte er. »Entweder ist Gracklstugh mächtig genug, um Menzoberranzan zu besiegen, oder aber nicht. Wenn nicht, dann dürfte Kaanyr Vhoks Geknechtete Legion die Waagschale zu unseren Gunsten ausschlagen lassen. Ist Gracklstugh aber stark genug, dann könnte die Geknechtete Legion helfen, Horgars Bestrebungen im Zaum zu halten. Wir möchten nicht, daß der Kronprinz die Einzelheiten unserer Abmachung vergißt.«
»Warum sollte die Geknechtete Legion in der Schlacht als Eure Armee dienen?«
»Weil Horgar Euch nicht zum Verbündeten machen wird, wenn ich ihn nicht davon überzeuge, daß er mit Vhoks Tanarukks besser bedient ist, wenn sie an seiner Seite und nicht seine Flanken angreifen«, antwortete Nimor. »Außerdem will Euer Herr nicht untätig zu Hause sitzen, während die Dinge ihren Lauf nehmen. Er hat Euch hergeschickt, um die Duergar zum Angriff auf Menzoberranzan zu drängen, nicht wahr?«
Aliisza verbarg ihr Lächeln, indem sie einen Schluck trank.
»Das ist wahr«, räumte sie ein. »Und? Werdet Ihr die Duergar bitten, unsere Hilfe anzunehmen oder nicht?«
Der Assassine betrachtete das Alu-Scheusal, während er darüber nachdachte. Agrach Dyrr war ein nützlicher Verbündeter, doch er bezweifelte, daß das Fünfte Haus Menzoberranzans stark genug war, um ein Gegengewicht zu Horgars Armee zu bilden, wenn es hart auf hart kommen sollte. Eine weitere Streitmacht auf dem Schlachtfeld würde die Erfolgsaussichten der Jaezred Chaulssin erhöhen, und wenn sie mit drei Gruppen arbeiteten, sollte es möglich sein, zwei von ihnen gegen die dritte aufzubringen, wenn das geboten schien. Im Extremfall konnten die Jaezred Chaulssin ihre eigene Macht ins Spiel bringen, aber zahlenmäßig waren sie nicht allzu gewaltig, und es war immer besser, erst die Ressourcen eines Verbündeten aufzubrauchen, ehe man die eigenen anging.
»Ich glaube«, sagte er schließlich, »wir werden Horgar gar keine Gelegenheit geben, Eure Hilfe abzulehnen. Ist Euch ein Ort namens Säulen des Leids bekannt?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Es ist eine Schlucht zwischen Gracklstugh und Menzoberranzan«, erklärte Nimor. »Ein Ort, mit dem ich Großes vorhabe. Ich bin sicher, daß einigen von Kaanyr Vhoks Spähern dieser Name vertraut ist. Ich werde dafür sorgen, daß Ihr wißt, wie Ihr hingelangt. Kehrt zurück zu Kaanyr Vhok und veranlaßt ihn, die Geknechtete Legion so schnell wie möglich zu den Säulen des Leids zu führen. Ihr werdet Eure Gelegenheit bekommen, an der Zerstörung Menzoberranzans mitzuwirken. Sollte sich der Kronprinz als unvernünftig erweisen, werden sich Euch andere Gelegenheiten bieten. Ich glaube aber, daß Horgar Eure Beteiligung akzeptieren wird, wenn er erst einmal Euer Heer gesehen hat.«