»Das klingt riskant.«
»Risiko ist der Preis für eine Gelegenheit. Es läßt sich nicht vermeiden.«
Aliisza sah ihn nachdenklich an.
»Nun gut«, sagte sie schließlich. »Aber ich warne Euch. Kaanyr wird wütend auf mich sein, wenn er seine Armee in die Wildnis des Unterreiches führt und er den ganzen Spaß versäumt.«
»Ich werde Euch nicht enttäuschen«, versprach Nimor. Er genehmigte sich einen großen Schluck Wein und schob seinen Stuhl zurück. »Damit hätten wir unsere Angelegenheit wohl besprochen. Ich danke Euch für das köstliche Essen und die angenehme Gesellschaft.«
»Ihr wollt schon gehen?« fragte sie mit dem Anflug eines Schmollmunds.
Sie kam näher, ein schelmisches Feuer flammte in ihren Augen auf, und Nimor merkte, wie sein Blick über die üppigen Kurven ihres Körpers glitt. Sie beugte sich vor und legte ihre Hände auf die Armlehnen seines Stuhls, dann schloß sie die Flügel um ihn. Mit schlangengleicher Anmut glitt sie weiter nach vorn, um an seinem Ohr zu knabbern, und ihr zartes, heißes Fleisch gegen ihn zu drücken.
»Wenn wir unsere Angelegenheiten schon besprochen haben, Nimor, dann muß jetzt die Zeit für das Vergnügen gekommen sein«, flüsterte sie in sein Ohr.
Nimor sog den köstlichen Duft ihres Parfüms ein und merkte, wie seine Hände sich anschickten, über ihre Hüften zu streichen und Aliisza zu sich heranzuziehen.
»Wenn Ihr darauf besteht«, murmelte er und küßte ihre Kehle.
Sie schauderte in seinen Armen, während er die Hände hob, um ihr Korsett zu öffnen.
Die grobschlächtigen Schaufelräder an den Seiten von Kohlenhauers Boot schlugen in der Finsternis lautstark auf das Wasser und verursachten, daß es weiß aufschäumte. Die großen Skelette in der Mitte des Gefährts bewegten sich unablässig auf und nieder, während ihre knochigen Hände die Kurbeln umklammert hielten, die die Räder antrieben. Unermüdlich gingen sie ihrer geistlosen Arbeit nach, die ihnen durch nekromantische Magie vor Jahren oder vielleicht sogar Jahrzehnten auferlegt worden war. Halisstra hatte von Reisen zu Wasser keine Ahnung, dennoch kam es ihr so vor, als bewege sich Kohlenhauers Boot mit einer Geschwindigkeit vorwärts, mit der man es nur schwer würde aufnehmen können.
Sie warf einen Blick über die Schulter, um zu sehen, ob ihre Gefährten Anzeichen dafür bemerkt hatten, daß sie verfolgt wurden. Ryld, Jeggred und Pharaun standen am Heck und beobachteten, was sich hinter dem Boot abspielte, Quenthel saß auf einer Truhe unter der gerüstgleichen Brücke, den Blick ebenfalls gen Gracklstugh gerichtet, während Valas auf der Brücke neben Kohlenhauer stand und darauf achtete, daß der Duergar-Kapitän auf dem gewünschten Kurs blieb.
Halisstra und Danifae hatten sich an den Bug begeben, um darauf zu achten, daß sie nicht in voller Fahrt in eine gefährliche Situation gerieten. Halisstra hatte sich nicht die Mühe gemacht, etwas gegen diese Verteilung einzuwenden. Die Männer waren am besten an einer Stelle aufgehoben, an der sie sich zwischen dem Rest der Gruppe und den möglichen Verfolgern befanden. Zudem war Pharaun vermutlich ihre beste Waffe gegen jeden Angreifer aus Richtung Gracklstugh.
Von der Stadt war nichts mehr zu sehen, wenn man von dem langgestreckten rötlichen Lichtschein absah. Das Feuer der Schmieden war auf dem gewaltigen schwarzen Dunkelsee auf viele Kilometer zu sehen und vermittelte ein Gefühl von Entfernungen, das Halisstra an den unnatürlichen Anblick in der Welt an der Oberfläche erinnerte. Seit Stunden bereits bewegten sie sich in südöstlicher Richtung von Gracklstugh fort, und es war kein Hinweis auf mögliche Verfolger zu sehen. Dennoch konnte sich Halisstra des Eindrucks nicht erwehren, sie seien dem Zugriff der Duergar noch längst nicht entronnen. Widerwillig richtete sie ihren Blick wieder auf die unergründliche Finsternis vor dem Boot und überprüfte ihre Armbrust, ob sie auch wirklich feuerbereit war.
Aufmerksam suchte Halisstra ihre Seite des Bugs ab, wobei sie mit der Wasseroberfläche unmittelbar am Boot begann und sich dann nach außen weiter vorarbeitete, bis selbst sie in der Schwärze nichts mehr sehen konnte. Dann kehrte ihr Blick zum Bug zurück, und sie begann erneut, nach Gefahren zu suchen. Große Stalaktiten, vielleicht auch Säulen – es war unmöglich, das zu bestimmen – reichten von der Decke herab und verschwanden im pechschwarzen Wasser. Sie bildeten Hindernisse, um die das Boot herumnavigiert werden mußte. An anderen Stellen ragten die Spitzen von Stalagmiten aus dem Wasser wie Speere. Kohlenhauer hielt sich von ihnen fern und erklärte, auf jede Spitze, die über den Wasserspiegel reichte, kämen zwei, die sich dicht unter der Oberfläche befanden.
»Nicht zu fassen, daß ich auf dem Deck eines Duergar-Boots kauere, in Lebensgefahr schwebe und auf der Flucht bin aus einer Duergar-Stadt, die ich bis vor drei Tagen noch nie gesehen hatte«, murmelte Halisstra und brach das lang anhaltende Schweigen. »Noch vor zwei Zehntagen war ich Erbin eines großen Hauses in einer Adelsstadt. Vor einem Zehntag war ich eine Gefangene, verraten von der gehässigen Faeryl Zauvirr, und nun bin ich hier, eine entwurzelte Wanderin, deren Name nichts weiter besagt und die nur das besitzt, was sie in ihrem Gepäck mit sich führt. Ich verstehe nur nicht, warum es dazu gekommen ist.«
»Ich bin sehr vertraut damit, daß sich Umstände ändern und das Glück umschlägt«, entgegnete Danifae. »Welchen Sinn hat es, nach dem Warum zu fragen? Es ist der Wille Lolths.«
»Ist das so?« fragte Halisstra. »Haus Melarn existierte seit zwei Jahrhunderten oder noch länger, und es ging in nur einer Stunde unter, nachdem Lolth unserer Rasse ihre Gunst verweigert hatte. Erst während ihrer Abwesenheit konnten unsere Feinde uns schlagen.«
Danifae erwiderte nichts, und Halisstra hatte das auch nicht erwartet. Immerhin kam der Gedanke an sich einer Form von Ketzerei schon bedenklich nahe. Zu unterstellen, irgend etwas könnte gegen den Willen Lolths geschehen sein, bedeutete, die Macht der Spinnenkönigin in Frage zu stellen, und wer das tat, der forderte Tod und Verdammnis heraus, da er ein ungläubiger Schwächling war. Das Schicksal, das die Ungläubigen im Leben nach dem Tod erwartete, war zu schrecklich, um auch nur darüber nachzudenken. Wenn Lolth nicht entschied, die Seele eines Anhängers mitzunehmen in ihr göttliches Reich in den Gruben der Dämonennetze, war der Geist eines Drow zu Qual und Vergessen in den Einöden verdammt, wo über die Toten aller Art geurteilt wurde. Nur unerschütterliche Anbetung konnte Lolth dazu bringen, sich für einen Drow einzusetzen und ein Leben nach dem Leben zu gewähren, eine ewige Existenz als Angehörige von Lolths göttlichen Heerscharen.
Wenn Lolth tot ist, überlegte Halisstra, dann werden Verdammnis und Vergessen unvermeidbar, oder nicht?
Bei dem Gedanken wurde sie blaß und begann vor Entsetzen zu zittern, woraufhin sie rasch aufstand und von der Brücke wegging, damit die anderen ihr Gesicht nicht sehen konnten.
Ich darf so etwas nicht denken, ermahnte sie sich. Es wird besser sein, wenn ich mich von allen Gedanken befreie, statt zur Blasphemie zu neigen.
Sie schloß die Augen und atmete tief ein, um ihre heimtückischen Zweifel zu verdrängen.
»Wir bekommen Ärger«, rief Ryld vom Achterdeck. Der Waffenmeister kniete sich hin und spähte in die Finsternis. »Drei Boote, alle diesem hier ähnlich.«
»Ich sehe sie«, sagte Pharaun und sah zur Brücke. »Kohlenhauer, Ihr hattet doch gesagt, Eures sei das schnellste Boot auf dem Dunkelsee. Darf ich annehmen, daß Ihr etwas übertrieben habt?«
Der Zwerg sah mit finsterer Miene in die Finsternis und erwiderte: »Bis heute hat man mich noch nie eingeholt oder überholt. Woher hätte ich wissen sollen, daß sich das heute ändern wird?«
Er stieß eine Reihe saftiger Verwünschungen aus und schritt von einer Seite der Brücke zur anderen, ohne den Blick von den sie verfolgenden Booten zu nehmen.