»Wie lange wird Euer Nebel die Duergar aufhalten?« herrschte Quenthel Pharaun an.
»Ein paar Minuten«, antwortete er. »Natürlich können sie umkehren und ihn umfahren.«
Pharaun studierte sein Werk. In der Ferne waren die Schmerzensschreie der Duergar zu hören, die durch den weißen Nebel eigenartig dumpf klangen.
»Der Nebel wird nicht viele von ihnen töten oder ausschalten«, fügte der Magier an. »Ich glaube auch nicht, daß er ihre Boote versenken wird.«
»Dann müssen wir von Bord gehen«, entschied Quenthel und zeigte auf die Höhlenwand. »Wir suchen zwischen den Felsen Schutz und halten uns bedeckt. Das Boot schicken wir in diese Richtung« – sie wies nach Osten – »und lassen die Männer des Kronprinzen die Verfolgung aufnehmen.«
»Ich werde nicht Eure Ablenkung spielen!« warf Kohlenhauer ein. »Ihr habt mir das hier eingebrockt, Ihr werdet mich da auch wieder rausholen!«
Die Drow ignorierten den Duergar und warfen ihr Gepäck auf die nassen Felsen vor dem Bug. Jeggred sprang in das eisige Wasser und kletterte an Land, dicht gefolgt von Ryld und Pharaun. Valas kam von der Brücke geeilt und folgte ihnen.
»Ihr verschwendet meine Zeit!« herrschte Quenthel den Kapitän an. »Macht Euch auf den Weg. Versucht Euer Glück oder bleibt hier und macht Bekanntschaft mit dem Draegloth.«
Sie sprang leichtfüßig auf die Findlinge, Halisstra und Danifae taten es ihr nach.
»Aber wenn Ihr ... ach, Ihr sollt verdammt sein und in Lolths Hölle schmoren!« fluchte Kohlenhauer.
Er eilte zurück auf die Brücke und rief den Skeletten an den Rudern neue Befehle zu. Langsam entfernte sich das Boot von den Felsen.
»Wenn man mich zu fassen kriegt«, schrie er ihnen zu, »werde ich ihnen ganz genau sagen, wo sie Euch finden können!«
Quenthel kniff die Augen zusammen und wollte Jeggred losschicken, doch Halisstra schüttelte den Kopf und setzte zu einem tiefen, vibrierenden Bae’qeshel-Lied an. Sie nahm ihre Willenskraft zusammen und schleuderte es dem verärgerten Zwerg nach.
»Tretet die Flucht an«, zischte sie. »Flieht, so schnell Ihr könnt, und laßt Euch nicht festnehmen. Wenn sie Euch einholen, dann ist es besser, in Sicherheit zu schwimmen als Euch festnehmen zu lassen.«
Das unsichtbare Netz des Zaubers senkte sich wie ein Schnee aus tödlichem Gift auf den Zwerg herab. Mit aufgerissenem Mund sah er zu Halisstra, dann fuhr er herum und setzte alles daran, mit seinem Boot Fahrt aufzunehmen, ehe sich der Nebel lichtete. Quenthel sah zu Halisstra und hob eine Braue.
»Es schien mir das beste, dafür zu sorgen, daß er so flieht, wie wir es wollten«, erklärte Halisstra, während sie rasch ihre Sachen einsammelte und in den Schutz der Findlinge und Stalagmiten oberhalb des Wasserspiegels eilte.
Quenthel folgte ihr mit einem Schritt Abstand. Sie liefen durchs Wasser an Land und brachten sich hinter einem großen Felsen in Sicherheit, als soeben das erste Boot der Duergar auftauchte, das immer noch an einzelnen Stellen glühte, an denen Pharauns Feuerball es getroffen hatte. Die Drow zogen ihre Pi-wafwis eng um sich und regten sich nicht, während sie zusahen, wie die Duergar aus dem Schutz hervorkamen, den sie vor dem ätzenden Nebel aufgesucht hatten.
Einer der Duergar rief etwas und deutete in die Finsternis, woraufhin die anderen in den Lärm einstimmten. Dann beschrieben sie eine scharfe Wendung und machten sich daran, Kohlenhauers Boot zu verfolgen, das in der Dunkelheit verschwand.
Gut, signalisierte Pharaun. Ich hatte befürchtet, sie könnten Magie anwenden, um uns zu folgen. Es sieht so aus, als würde Meister Kohlenhauer uns doch noch einen letzten Dienst erweisen.
Was glaubst du, wird passieren, wenn sie ihn zufassen bekommen? fragte Ryld.
Die Boote der Duergar waren soeben außer Hörweite.
»Das wird davon abhängen, ob er schwimmen kann oder nicht«, meinte Halisstra.
9
Nach einem langen Tagesmarsch, bei dem die Gruppe nur eine kurze Pause einlegte, um Pharaun Zeit genug zu geben, damit er die Nachricht über die Armee von Gracklstugh an Gromph schicken konnte, erreichten sie endlich das Labyrinth. Sie gelangten von gewundenen, gänzlich unerforschten Gängen in ein System aus kilometerlangen natürlichen Stollen, die immer wieder von in den Fels gehauenen Wegen und kleinen, würfelförmigen Kammern unterbrochen wurden. Kohlenhauer, sein Boot und die Verfolger aus Gracklstugh hatten sie mindestens dreißig Kilometer hinter sich gelassen.
Die Tunnel waren aus schwarzem Basalt, kalt und scharfkantig, die erstarrten Überreste der gewaltigen Feuer aus der Zeit, als die Welt ihren Anfang nahm. Von Zeit zu Zeit stieß die Gruppe dort, wo Tunnel an glatten Wänden endeten, auf Hunderte von Metern hohe Klippen, in die man grobschlächtige und gefährlich aussehende Stufen gehauen hatte, die auf andere Ebenen führten, auf denen der Pfad fortgesetzt wurde. Ganze Schichten der Kruste dieser Welt waren hier in sich zusammengesunken oder zerrissen worden, hatten alte Lavatunnel abgetrennt und gewaltige, lichtlose Schächte tief im Erdinneren hinterlassen. Manche dieser Stellen wurden von schmalen Steinbrücken überspannt, oder es verliefen grob behauene Pfade um sie herum, die man in die Felswände geschlagen hatte. Egal, wohin sie sich wandten, zweigten weitere quadratische Gänge und gewundene Tunnel mit glattem Boden von ihrem Weg ab, so daß Halisstra nach gut einer Stunde einräumen mußte, jegliche Orientierung verloren zu haben.
»Ich verstehe, warum man diesen Ort als das Labyrinth bezeichnet«, flüsterte sie, als sich die Gruppe auf einem schmalen Vorsprung bewegte, der eine weitere Schlucht säumte. »Das ist wahrhaftig ein Irrgarten.«
»Es ist noch schlimmer, als Ihr glaubt«, erwiderte Valas, der an der Spitze der Gruppe ging. Er blieb stehen, um den Weg vor ihnen sowie einen der unzähligen Seitengänge zu studieren. »Von Norden nach Süden erstreckt es sich über fast dreihundertfünfzig Kilometer, und von Osten nach Westen mißt es ungefähr die halbe Strecke. Der größte Teil sieht so aus wie dieser Abschnitt hier, also ein Wirrwarr aus Lavatunneln und in den Fels gehauenen Stollen mit Tausenden von Kehren und Verzweigungen.«
»Wie kannst du eigentlich hoffen, hier das Haus Jaelre zu finden?« fragte Ryld. »Kennst du diesen Ort so gut, daß du ihn beherrschst?«
»Ihn beherrschen? Kaum. Man könnte sein ganzes Leben hier verbringen und würde doch nicht jede Stelle zu Gesicht bekommen. Aber ich kenne einige Wege. Auf den nicht allzu gewundenen Pfaden existieren ein paar häufig benutzte Karawanenrouten, allerdings liegt keine davon in unserer Nähe. Nur wenige Reisende dringen wie wir aus dem Osten ins Labyrinth vor.« Der Späher ging ein kleines Stück voraus und strich mit der Hand an der Stelle an der Wand entlang, an der sich wieder ein Tunnel öffnete. Alte, seltsame Symbole leuchteten unter seinen Fingerspitzen grünlich auf. »Zum Glück meißelten die Erbauer Runen in den Fels, um die geheimen Wege zu kennzeichnen. Es ist ein Code, der im gesamten Labyrinth Gültigkeit besitzt. Dieses Rätsel habe ich bei meinem letzten Besuch hier entschlüsselt. Dieser Tunnel ist mir nicht vertraut, aber ich glaube zu wissen, wie wir unser Ziel erreichen.«
»Du bist ein Mann mit vielen Talenten«, stellte Pharaun fest.
»Wer schuf diese Tunnel?« fragte Halisstra. »Wenn dieser Ort so groß ist, wie Ihr sagt, muß es seinerzeit ein mächtiges Reich gewesen sein, doch ich sehe auf den ersten Blick, daß diese Markierungen nicht von unseren Vorfahren stammen. Sie sind auch nicht von Duergar, Illithiden oder Abolethen.«
»Minotauren«, erwiderte Valas. »Ich weiß nicht, wann ihr Reich entstand und unterging, doch irgendwann gab es einmal ein großes Minotauren-Königreich.«
»Minotauren?« gab Quenthel verächtlich zurück. »Das sind bestialische Wilde. Sie können kaum den Verstand oder die Geduld besessen haben, um eine Arbeit von solchen Ausmaßen in Angriff zu nehmen, ganz zu schweigen davon, ein Königreich zu führen.«