»Durchaus. Ich würde mich freuen, Euch zu Diensten zu sein, doch im Moment muß ich mich in einer wichtigen Angelegenheit zum Rat begeben. Vielleicht können wir das Gespräch etwas später führen?«
Gromph sah sich im Raum um und entdeckte die Kristallkugel im Erker der Kammer. In ihr wirbelte ein perlmuttgrünes Farbenspiel.
Ach, natürlich, ging es dem Erzmagier durch den Kopf. Er konnte mich hier finden, wo meine Schutzmaßnahmen gegen feindliches Ausspähen am schwächsten sind, da ich selbst Transparenz zum Ausspähen benötige. Ich muß darüber nachdenken, wie ich den Raum gegen solche Vorkommnisse schützen kann, ohne meine eigenen Möglichkeiten einzuschränken.
Ich fürchte, ich muß jetzt mit Euch reden, drängte Dyrr. Ich werde Euch nicht lange aufhalten, und ich glaube, Ihr werdet froh sein, mir erst zugehört zu haben, ehe Ihr Euch den ränkeschmiedenden Frauen stellt. Darf ich Euch aufsuchen?
Gromph hielt inne und sah hinauf zu der unsichtbaren Präsenz, die ihn beobachtete, wobei er einen finsteren Blick unterdrücken mußte. Eine Kreatur wie Dyrr in seine eigenen Räumlichkeiten einzuladen war keine Sache, die er auf die leichte Schulter nahm. Ganz gleich, wie wichtig das sein mochte, was der alte Hexenmeister zu sagen hatte, so war es doch eine Tatsache, daß die Muttermatronen nicht erfreut darauf reagieren würden, wenn er sie warten ließ. Er trommelte mit den Fingern auf den Holzstab in seiner Hand und überlegte, was er tun sollte. Nach Möglichkeiten wollte er auch Dyrr nicht verärgern, und wer mochte schon sagen, worauf der Leichnam nach Jahrhunderten des Daseins als Untoter ärgerlich reagieren würde. Abgesehen davon war Gromph in seinem Arbeitszimmer, in dem er auf zahlreiche wirkungsvolle magische Verteidigungsmittel zurückgreifen konnte ...
»Gut, Meister Dyrr. Allerdings muß ich darauf bestehen, daß wir uns kurz fassen, denn meine Angelegenheit beim Rat ist von höchster Dringlichkeit.«
Die Luft ein Stück vor dem Erzmagier begann zu brodeln und zu vibrieren, und von einem plötzlichen Krachen und Knistern begleitet tauchte der alte tote Drow vor ihm auf. Die Kreatur stützte sich ebenfalls auf einen Stab, ein beeindruckendes Gerät, das aus vier umeinander gewickelten Diamantspatstäben bestand, die an beiden Enden miteinander verbunden waren. Ein kleiner Schild aus schwarzem Metall in Form eines zu einem idiotischen Grinsen verzerrten Dämonengesichts schwebte in Höhe seines Ellbogens in der Luft. Dyrr machte sich nicht die Mühe, sich als Lebender zu tarnen, sondern stand als gräßliches Skelett mit Augen so schwarz wie der Tod vor ihm.
»Ich grüße Euch, Erzmagier. Entschuldigt, wenn ich ungelegen komme«, sagte der Leichnam und richtete seine leeren Augenhöhlen auf Gromph. »Was gibt es, daß Ihr so rasch eine Audienz bei den Matronen begehrt, junger Gromph?«
»Bei allem nötigen Respekt, Meister Dyrr, glaube ich, daß diese Angelegenheit für ihre Ohren bestimmt sind, nicht für Eure. Welches Angebot wollt Ihr mir unterbreiten, das nicht warten kann?«
»Wie Ihr wollt«, sagte Dyrr. »Aus dem Süden marschiert eine Armee auf Menzoberranzan zu – die Duergar haben offenbar von unseren Schwierigkeiten erfahren und entschieden, diese Gelegenheit zu nutzen, die sich ihnen derzeit bietet.«
»Ich weiß«, gab Gromph schnippisch zurück. »Eben deshalb muß ich sofort aufbrechen. Wenn es sonst nichts mehr gibt ... ?«
Er ging zu dem glatten Steinschacht hinüber, der hinunter in seine Gemächer führte.
»Ich stelle fest, es gefällt mir, daß Euch meine Nachricht nicht überrascht«, sagte der Leichnam. »Hättet Ihr nichts von der Duergar-Armee gewußt, dann hätte ich sicherstellen müssen, daß Ihr auch nichts davon erfahrt, wenn Ihr versteht, was ich meine.« Dyrr drehte sich mit einem schier unerträglichen knirschenden und klickenden Geräusch aneinanderreihender Knochen zu Gromph um, der mit dem Rücken zu ihm stand. »Sicher erinnert Ihr Euch, daß wir vor ein paar Tagen über eine Zeit sprachen, wenn Ihr eine Entscheidung treffen müßt. Diese Zeit ist gekommen.«
Gromph hielt in der Bewegung inne und drehte sich langsam um. Er hatte gehofft, dies sei nicht das Motiv, weshalb der Leichnam mit ihm reden wollte, doch wie es schien, wollte Dyrr das Thema nicht auslassen, ob es dem Erzmagier gefiel oder nicht.
»Eine Entscheidung?«
»Tut nicht, als würdet Ihr mich nicht verstehen. Ich weiß, daß Ihr dafür zu intelligent seid. Ihr müßt nichts weiter tun, als Euren Bericht für ein paar Tage zurückzuhalten, dann könnt Ihr voller Panik zu den Muttermatronen eilen und ihnen von der Duergar-Armee berichten, die vor der Tür steht. Meinen Plänen wäre damit gedient, wenn Ihr es zu einer Zeit und auf eine Weise tätet, die ich Euch vorgebe.«
»Das brächte die Stadt in große Gefahr«, wandte Gromph ein.
»Sie ist bereits in Gefahr, Gromph. Meine Absicht ist es, eine gewisse Ordnung ins Unvermeidbare zu bringen. Ihr könntet mir in den kommenden Tagen eine große Hilfe sein oder ...«
»Ich verstehe«, sagte Gromph.
Er kniff die Augen zusammen und überdachte seine Alternativen. Er konnte vortäuschen, das Angebot anzunehmen, und doch tun, was er wollte, doch damit würde er den Zorn Dyrrs auf sich lenken, der sich zu einer von ihm bestimmten Zeit an einem von ihm bestimmten Ort auf Gromph entladen würde. Er konnte sich auch weigern, was wohl auf der Stelle zu einem tödlichen Wettstreit führen würde, um zu sehen, wessen Wille obsiegen würde.
Oder ich nehme sein Angebot an, dachte er. Wer kann schon sagen, daß es uns nicht gelingen wird, die gegen die Stadt gerichteten Kräfte so zu lenken, daß ein für uns nützliches Chaos, ein wertvoller Fortschritt entsteht? Der Schaden wird sicherlich beträchtlich sein, doch das Menzoberranzan, das aus einem solchen Schmelztiegel aus Blut und Feuer hervorgehen würde, mochte eine bessere und stärkere Stadt werden – eine Stadt befreit von der unerbittlichen Tyrannei durch sadistische Priesterinnen und statt dessen regiert von der kühlen, leidenschaftslosen Intelligenz pragmatischer Magier. Jede Grausamkeit, jeder Exzeß würde einem vernünftigen Zweck dienen, um eine Stadt hervorzubringen, deren Energie nicht auf interne Streitigkeiten vergeudet wurde. Wäre es eine solche Stadt nicht wert, ihr gegenüber loyal zu sein?
Gäbe es in einer solchen Stadt Platz für einen Baenre? überlegte er.
Keine Revolution von den Dimensionen, wie Dyrr sie sich erträumte, konnte einen anderen Ausgang nehmen als die vollständige Auslöschung des Ersten Hauses Menzoberranzans. Auch wenn Gromph seine Schwester verabscheute und viele der einfältigen Verwandten haßte, die Burg Baenre bevölkerten, würde er doch verdammt sein, wenn er einem niederen Haus gestattete, seine Familie als höchste Macht in der Stadt vom Thron zu stoßen. Es konnte auf dieses Angebot nur eine Antwort geben.
So schnell, wie der Gedanke benötigte, um sich zu formen, hob Gromph seine Hand und entfesselte eine verheerend grelle Farbexplosion, die er auf den Leichnam richtete – ein Zauber, dessen Energie er mit solcher Sorgfalt und Anstrengung vorbereitet hatte, daß der kleinste Willensakt genügte, um ihn anzuwenden. Farben, die in der Düsternis der Höhlenstadt noch niemand gesehen hatte, bohrten sich durch seine Beschwörung.
Jede von ihnen trug eine andere Form von Verderben, Zerstörung oder Energie mit sich. Ein zuckender blauer Blitz aus Elektrizität schoß so dicht an Dyrr vorbei, daß die alten Gewänder des Leichnams Funken sprühten, während ein greller, orangefarbener Strahl mit einer Säure verbrannte, die stark genug war, um Steine schmelzen zu lassen. Ein dritter Strahl von heimtückischem Violett wurde vom lebenden Schild der Kreatur abgewehrt. Das Ding kicherte wie ein gehässiges Kind, als der Angriff abgewehrt wurde.