Dem Erzmagier war ein langer Blick auf den siegreichen Leichnam vergönnt, der über ihm thronte, dann begann er zu fallen. Gromph konnte sich nicht regen und sank im nächsten Moment durch den Boden, um dann durch die flackernden Räume Sorceres zu fallen, bis er in den klaffenden schwarzen Fels eindrang, der sich unter dem Turm, unter der Stadt, unter der ganzen Welt befand. Einen entsetzlichen Augenblick lang hatte Gromph das Gefühl, sich am Grund eines gewaltigen Brunnens zu befinden und unzählige Kilometer über sich die stecknadelgroße Gestalt seiner Nemesis zu sehen. Dann stürzte die Finsternis auf ihn ein und erstickte ihn in ihrer Umarmung.
In der Kammer des Erzmagiers in Sorcere stand der Leichnam Dyrr und sah hinab auf die Stelle des Bodens, an der er Gromph Baenre verdammt hatte. Wäre Dyrr ein lebender Magier gewesen, hätte er jetzt vielleicht um Atem gerungen, vor Erschöpfung am ganzen Leib gezittert oder wäre angesichts der tödlichen Wunden, die er in dem gnadenlosen Duell erlitten hätte, vielleicht sogar zu Boden gegangen. Doch die schwarze Magie, die seine untoten Sehnen und Knochen band, wies keine der Schwächen auf, von denen Sterbliche betroffen waren.
»Verharrt dort eine Weile, Gromph«, sagte er in die Leere. »Vielleicht habe ich noch mal Verwendung für Euch, in ein oder zwei Jahrhunderten.«
Mit einer knappen Geste löste er sich dann in Nichts auf.
Der Lärm gewaltiger Donnerschläge hallte durch die in den schwarzen Stein gehauenen Gänge. Es war ein so tiefes, durchdringendes Poltern, daß Halisstra es mehr zu spüren als zu hören glaubte. Sie kauerte im Schatten eines großen steinernen Bogens und riskierte einen raschen Blick in die weitläufige Höhle. Am anderen Ende, ein Stück unterhalb der Drow-Gruppe, erhob sich eine Gruppe wuchtiger Monster und suchte Deckung, während viele mehr inmitten des Gerölls und der Felsblöcke lagen, in die der untere Teil der Höhle verwandelt worden war.
»Das hat den Ansturm gestoppt«, rief Halisstra ihren Gefährten zu. »Aber sie formieren sich neu.«
»Unerschrockene Bastarde«, meinte Pharaun.
Der Magier hatte hinter einer gewaltigen Steinsäule Schutz gesucht und wirkte erschöpft. Im Verlauf der letzten eineinhalb Tage hatte die Gruppe im endlosen Gewirr der Korridore im Labyrinth mindestens fünfzig Kilometer zurückgelegt und war an jeder neuen Abzweigung von scheinbar nicht enden wollenden Horden von Minotauren und Dämonen bestürmt worden. Bei zwei Angriffen waren die Drow nur knapp den teuflischen Anstrengungen ihrer Widersacher entkommen, den jeweiligen Tunnel zu versiegeln, durch den sie die Flucht angetreten hatten.
»Solche Zauber habe ich nur noch wenige in Reserve«, erklärte Pharaun. »Wir müssen eine Stelle finden, an der ich ruhen und neue Zauber vorbereiten kann.«
»Ihr werdet Euch ausruhen, wenn wir alle das tun, Magier«, knurrte Quenthel. Die Baenre und ihre Peitsche waren blutüberströmt, und ihre Rüstung wies mehr als eine häßliche Beule auf, an der ein tödlicher Schlag mit letzter Kraft abgewehrt worden war. »Wir sind den Jaelre so nahe. Wir müssen uns in ihrer Nähe befinden. Laßt uns weiterziehen, ehe die Minotauren den nächsten Angriff organisiert haben.«
Die anderen Drow tauschten flüchtige Blicke aus, erhoben sich dann aber doch und folgten Quenthel und Valas Hune in den nächsten Gang. Der erstreckte sich über eine Länge von gut vierhundert Schritten, ehe er in eine weitere große Höhle überging. Die war geprägt von hohen, geriffelten Säulen, und der Boden war mit exakt gefügten Steinfliesen gepflastert worden. Elegant geschwungene Treppen führten an den Höhlenwänden nach oben, bis sie auf lange, geschützte Galerien trafen, die von einem schwachen Feenfeuer beleuchtet wurden, in dessen Schein Räume erkennbar waren, die an einstige Werkstätten, Handelshäuser oder einfach nur bescheidene Unterkünfte erinnerten.
»Schon wieder die Arbeit von Drow«, stellte Ryld fest, »und abermals verlassen. Bist du sicher, daß wir hier richtig sind?«
Der Späher nickte. Seine rechte Hand bedeckte eine oberflächliche, aber stark blutende Wunde an seiner linken Schulter.
»Ich war schon einmal hier«, erwiderte er. »Das sind Gebäude der Jaelre. Dort oben lebten mehrere Waffenschmiede, und an der Wand da drüben gab es ein Gasthaus, in dem ich selbst schon übernachtete. Der Palast der Jaelre-Adligen liegt am Ende dieses Gangs dort drüben.«
Quenthel eilte eine kurze, geschwungene Treppe hinauf und sah in ein Geschäft, dessen Fenster dunkel und leer waren. Sie fluchte und ging an einer Reihe weiterer Läden vorbei, ehe sie zu den anderen zurückkehrte.
»Wenn das hier Häuser der Jaelre sind, wo bei allen Höllen sind dann die Jaelre?« fragte sie laut. »Haben diese verfluchten Minotauren sie alle getötet?«
»Das bezweifle ich«, sagte Halisstra. »Hier wurde kein Kampf ausgetragen, sonst würden wir dafür Hinweise finden. Selbst wenn die Minotauren alle Leichen weggeschafft hätten, gäbe es Brandstellen, zerborstene Fliesen, die Überreste irgendwelcher Waffen. Ich glaube, die Jaelre haben diesen Ort verlassen.«
»Wie lange ist es her, daß du zum letzten Mal hier warst, Valas?« fragte Ryld.
»Fast fünfzig Jahre«, antwortete der Späher. »Also nicht sehr lange. Die Jaelre lieferten sich schon damals immer wieder kleine Kämpfe mit den Minotauren, aber die Höhlen waren durch stoffliche und magische Verteidigungsmaßnahmen gesichert.« Er sah sich aufmerksam um. »Laßt mich ein Stück vorgehen, vielleicht kann ich im Palast etwas finden, das Licht in dieses Geheimnis bringt.«
»Sollen wir alle gehen?« überlegte Ryld.
»Besser nicht. Es gibt nur einen Eingang zum Palast, und wenn die Minotauren in großer Zahl zurückkehren, könnten wir in der Falle sitzen. Bleibt draußen, damit ihr fliehen könnt. Ich bin gleich zurück.«
Der Späher tauchte in die Finsternis ein und ließ die Gruppe in der leeren Höhle zurück.
»Ich glaube, ich muß Herrin Melarn zustimmen«, sagte Ryld. »Es sieht wirklich so aus, als hätten die Jaelre alles zusammengepackt und seien aufgebrochen.«
»Dann haben wir uns umsonst angestrengt«, stellte Pharaun fest. »Ich glaube, es gibt nichts, was so enttäuschend ist wie vergebliche Mühen.«
Die Gruppe stand einen Moment lang schweigend da, jeder ging seinen Gedanken nach.
Halisstra war so erschöpft, daß es wehtat, und ihre Beine zitterten wie Espenlaub. Sie hatte es zwar gescharrt, jeglicher schwerer Verletzung zu entgehen, doch im Verlauf der letzten Stunden hatte sie fast sämtliche magischen Vorräte aufgebraucht, als sie ihre Bae’qeshel-Lieder eingesetzt hatte, um die angreifenden Horden zu verwirren, ihre Gefährten zu stärken und die schlimmsten Wunden zu heilen.
Jeggred, der die Nachhut der Gruppe bildete und sich am Eingang zu dem Tunnel befand, der zurück in die vorherige Höhle führte, brach das herrschende Schweigen.
»Wenn Valas nicht bald zurückkehrt, werden wir wieder kämpfen müssen«, sagte der Draegloth. »Ich kann die Minotauren nicht mehr hören, was bedeuten dürfte, daß sie sich um uns herum bewegen, um uns aus einer anderen Richtung anzugreifen.«
»Ich denke, wir haben ihnen klargemacht, daß sie uns nicht durch lange, gerade Tunnel angreifen sollten«, stellte Ryld fest und sah sich mit kenntnisreichem Blick die Jaelre-Höhle an. »Es wäre am besten, wenn wir uns nicht ungeschützt von ihnen überraschen lassen. Sie könnten uns durch schiere zahlenmäßige Überlegenheit überwältigen.«
»Was, wenn das eine Sackgasse ist?« flüsterte Danifae.
»Unmöglich«, sagte Quenthel. »Irgendwo in diesen Höhlen werden wir eine Erklärung finden, wohin die Jaelre geflohen sind, und ihnen dann folgen. Ich bin zu weit gereist, um mit leeren Händen nach Menzoberranzan zurückzukehren.«
»Das ist ja alles schön und gut«, warf Pharaun ein. »Ich sehe mich allerdings gezwungen, darauf hinzuweisen, daß wir gänzlich erschöpft sind und fast unsere gesamte magische Kraft aufgebraucht haben. Durch diese Höhlen und Gänge zu irren, bis uns die Minotauren in eine Falle locken und töten, ist pure Dummheit. Warum verstecken wir uns nicht im Heim eines Handwerkers wie zum Beispiel dort oben auf der Galerie und ruhen uns aus, bis wir uns in der Lage fühlen, weiterzuziehen? Ich glaube, ich kann unser Versteck vor unseren Verfolgern tarnen.«