Der Sonnenaufgang war grandios und schrecklich. Eine Stunde lang oder länger war es immer heller und heller geworden, die Sterne waren am rosafarben gestreiften Himmel immer blasser geworden, und der eisige Wüstenwind hätte endlich nachgelassen. Halisstra wartete darauf, daß die Sonne aufging, und betrachtete das Schauspiel von einer zum Teil eingestürzten, zum Teil verschütteten Mauer aus. Lange bevor sich die Sonne über den Horizont hob, wunderte sich Halisstra darüber, wie weit sie sehen konnte, als sie dunkle, schroffe Berge ausmachte, die vielleicht fünfzehn, vielleicht aber auch hundertfünfzig Kilometer entfernt waren. Als endlich die Sonne aufging, kam es ihr so vor, als ergieße sich ein Brunnen aus flüssigem Gold über die karge Landschaft, der Halisstra so sehr blendete, daß sie keuchend die Handflächen auf die Augen preßte. Die schmerzten von dem kurzen Moment so sehr, als hätte ihr jemand weißglühende Dolche in den Kopf gejagt.
»Das war nicht sehr klug, Herrin«, murmelte Danifae, die dicht bei ihr stand. »Unsere Augen sind nicht für einen solchen Anblick gemacht. Ihr könntet Euch verletzen ... und ohne Lolths Gunst könnte es schwierig sein, Euch zu heilen.«
»Ich wollte den Tagesanbruch sehen«, erwiderte Halisstra.
Sie wandte sich vom Licht des Tages ab und schirmte ihre Augen ab, dann sprang sie in den Sand und damit in den Schatten der Mauer. Dort konnte sie die Helligkeit der Sonne noch aushalten, doch wie würde es erst mitten am Tag sein? Würden sie überhaupt noch etwas erkennen können, oder würden sie völlig geblendet sein?
»Früher«, sagte sie, »betrachteten unsere Ahnen am hellichten Tag diese Welt, ohne sich vor der Sonne zu schützen. Sie bewegten sich ohne Angst unter dem freien Himmel, unter den Feuern des Tages. Für sie war die Finsternis Grund, sich zu fürchten. Kannst du dir das vorstellen?«
Danifae reagierte mit einem schwachen Lächeln, das sich aber nicht in ihren Augen widerspiegelte. Halisstra kannte diesen Blick nur zu gut. Ihre Dienerin setzte diese Miene immer auf, wenn sie ihrer Herrin gefallen wollte, indem sie einer Bemerkung zustimmte, auf die sie keine Erwiderung wußte. Danifae deutete mit einer Kopfbewegung auf den zerfallenen Palast und seinen Hof.
»Baenre hat Pharaun und die anderen zu sich gerufen«, erklärte ihre Gefangene. »Ich glaube, sie will entscheiden, was als nächstes geschehen soll.«
»Hat sie mich dazugerufen?« fragte Halisstra.
»Nein.«
Halisstra riß den Kopf hoch, aber Danifae zuckte nur verlegen mit den Schultern. »Ich dachte, Ihr würdet in jedem Fall anwesend sein wollen.«
»Allerdings«, erwiderte Halisstra.
Sie strich ihren Mantel glatt und sah sich noch einmal in den zerfallenden Ruinen um, die sich erstreckten, so weit das Auge reichte. In den langen Schatten, die die Morgensonne warf, leuchteten die Oberkanten der Ruinen orangefarben auf, während sich hinter ihnen eine Lache aus völliger Schwärze erstreckte. Seit der Wind sich gelegt hatte, spürte Halisstra eine Aura der Wachsamkeit, möglicherweise ausgehend von einer alten Feindseligkeit, die irgendwo inmitten der Mauern und eingefallenen Kuppeln lauerte.
Die beiden machten sich auf den Weg zurück zum Lager der Gruppe auf dem Hof und schlossen sich wortlos der Diskussion an. Quenthel warf beiden einen Blick zu, als sie sich ihr näherten, konzentrierte sich aber weiter auf die anderen.
»Wir haben herausfinden können, daß die Priesterinnen Ched Nasads Lolths Gunst ebenso verloren haben wie wir selbst. Den Grund konnten wir nicht eruieren. Wir haben erfahren, daß Häuser, die mit uns Handelsbeziehungen unterhielten und dadurch sowie durch Blutsbande mit uns verbündet waren, sich entschlossen, jene Güter, die wir dringend benötigten, sich selbst einzuverleiben und sich gegen uns zu wenden. Es gelang uns nicht, die Transporte nach Menzoberranzan wieder auf den Weg zu bringen ...«
»Was man kaum uns zur Last legen kann«, warf Pharaun ein. »Die Stadt wurde zerstört. Der Status der Handelsinteressen der Baenre in Ched Nasad ist hinfällig.«
Quenthel fuhr fort, als hätte der Magier nichts gesagt: »Schließlich finden wir uns in einem gottverlassenen Teil der Welt an der Oberfläche wieder, wir wissen nicht, wie weit es bis nach Hause ist, wir haben praktisch keine Vorräte mehr und wir sind in einer ungastlichen Wüste gestrandet. Habe ich die Ereignisse zutreffend zusammengefaßt?«
Valas rutschte unbehaglich hin und her. »Bis auf den letzten Punkt. Ich vermute, wir befinden uns in der Wüste Anauroch, genauer gesagt, im nordwestlichen Teil. Wenn ich nicht irre, dann liegt Menzoberranzan etwa achthundert Kilometer westlich von hier ... und dann natürlich noch ein ganzes Stück in die Tiefe.«
»Du warst hier schon?«
»Nein«, erwiderte Valas, »aber es gibt in Faerûn nur wenige Wüsten, vor allem so weit im Norden, daher stehen die Chancen recht gut, daß wir uns in der Anauroch befinden. Fünfundsechzig bis siebzig Kilometer westlich von uns gibt es eine Gebirgskette mit schneebedeckten Gipfeln, die man bei Tageslicht recht deutlich sehen kann. Ich halte sie für die Graugipfelberge oder die Nesserberge. Es könnte sich auch um das Eisgebirge handeln, aber wenn wir so weit nördlich wären, daß wir sie sehen könnten, dann müßten wir uns eigentlich schon im Hocheis befinden, aber nicht in diesem sandigen, steinigen Abschnitt der Großen Wüste.«
»Ich vertraue auf deinen Orientierungssinn, aber ich kann nicht behaupten, daß mir der Gedanke gefällt, achthundert Kilometer in der Welt an der Oberfläche zurückzulegen, um nach Hause zu gelangen«, meinte Ryld und fuhr sich durch sein kurzgeschnittenes Haar. In seiner Rüstung bewegte er sich steif, denn unter dem Kettenzeug war er von der verzweifelten Flucht aus Ched Nasad übel zugerichtet. »Die Zitadelle Adbar, Sundabar und Silbrigmond lägen auf unserem Weg, und nirgends ist unsereins gern gesehen.«
»Sollen sie versuchen, uns aufzuhalten«, knurrte Jeggred. »Wir reisen nachts, wenn Menschen und Licht-Elfen blind sind. Selbst wenn uns jemand über den Weg laufen sollte – die Wesen von der Oberfläche sind schwach. Ich habe keine Angst vor ihnen, und das solltet Ihr auch nicht.«
Ryld nahm Anstoß an den Worten des Draegloth, doch Quenthel brachte ihn mit erhobener Hand zum Schweigen.
»Wir werden tun, was nötig ist«, erklärte sie. »Wenn wir die nächsten zwei Monate damit verbringen müssen, uns im Schutze der Nacht durch die Reiche an der Oberfläche zu schleichen, dann werden wir das tun.«
Sie wandte sich elegant ab und stolzierte davon, während ihr Blick gedankenverloren über die Ruinen wanderte.
Die Gruppe verfiel in Schweigen, als die Drow Quenthel nachblickten. Pharaun erhob sich und zog seinen Piwafwi enger um seinen schlanken Leib. Der schwarze Mantel flatterte im eisigen Wind.
»Die Frage, die mich beschäftigt«, sagte Pharaun, ohne einen aus der Gruppe gezielt anzusprechen, »ist die, ob wir erreicht haben, was wir uns vorgenommen hatten. Mir gefällt der Gedanke nicht, nach Menzoberranzan zurückzukriechen und dort nach Monaten nur mit der Nachricht aufzutauchen, daß Ched Nasad gefallen ist.«
»Keine Priesterin Lolths kennt die Antworten, die wir suchen«, gab Quenthel zurück. »Wir werden nach Menzoberranzan zurückkehren. Ich kann nur darauf vertrauen, daß die Göttin den Grund für ihr Schweigen erklärt, wenn ihr danach ist.«
Pharaun verzog das Gesicht und sagte: »Blinder Glaube ist ein schwacher Ersatz für einen Plan, mit dem Ihr an die gesuchten Antworten gelangen könnt.«
»Der Glaube an Lolth ist das einzige, was wir noch haben«, fuhr Halisstra ihn an. Sie näherte sich dem Meister Sorceres um einen halben Schritt. »Ihr habt offenbar vergessen, welchen Rang Ihr einnehmt, wenn Ihr eine Hohepriesterin Lolths so ansprecht. Vergeßt es nie wieder.«