Quenthels Augen blitzten wütend, als sie erwiderte: »Wir werden ausruhen, wenn ich das sage. Bis dahin ziehen wir weiter.«
»Ich glaube, Ihr versteht nicht, was ich zu sagen versuche«, konterte Pharaun abgehackt und stand auf.
»Ich glaube, Ihr versteht nicht, was ich Euch befehle!« herrschte Quenthel ihn an. Sie wirbelte herum und kam näher, während die Schlangen an ihrer Peitsche sich aufgeregt wanden. »Ihr werdet endlich aufhören, unablässig meine Entscheidungen in Frage zu stellen.«
»Das werde ich, sobald Ihr anfangt, intelligente Entscheidungen zu treffen«, gab Pharaun, dessen Gelassenheit mit einem Mal deutliche Risse zeigte, zurück. »Nun hört mir gut zu ...«
Jeggred sprang knurrend auf, umfaßte die Oberarme des Magiers mit seinen riesigen Klauen und zerrte ihn von Quenthel fort, während er ihn gleichzeitig zu Boden zog.
»Zeigt Respekt!« fuhr der Draegloth ihn an. »Vor Euch steht die Hohepriesterin Quenthel Baenre, Herrin Arach-Tiniliths, Meisterin der Akademie, Herrin Tier Breches, Erste Schwester des Hauses Baenre von Menzoberranzan ... ungehorsamer Hund!«
Pharauns Augen blitzten, als er aufsprang. Jeglicher Humor war verschwunden und kaltem, allumfassenden Haß gewichen.
»Faß mich nie wieder an!« zischte er.
Seine Hände nahmen eine Haltung ein, die zeigte, daß er bereit war, schreckliche Zauber gegen Jeggred zu schleudern. Der kauerte sprungbereit vor ihm.
Quenthel veränderte den Griff um ihre Peitsche und kam näher, während die Schlangenköpfe nach vorn schossen und zuschnappten, aber nur Luft zu fassen bekamen. Ryld legte eine Hand um Splitters Heft und beobachtete die drei. Sein Gesicht war reglos wie ein Maske und verriet nicht, was in seinem Kopf vorging.
»Das ist Wahnsinn«, sagte Halisstra, die ein Stück zurückwich und die Armbrust auf den Boden gerichtet hielt. »Wir müssen zusammenarbeiten, wenn wir hier lebend herauskommen wollen!«
Quenthel öffnete den Mund, um etwas zu sagen, womöglich um Jeggred den Befehl zu geben, ohne Rücksicht auf die Folgen Pharaun anzugreifen. In dem Augenblick jedoch kam Valas zu der Gruppe zurück. Der Späher blieb stehen und erfaßte mit einem Blick die Lage.
»Was ist hier los?« fragte er.
Als niemand antwortete, sah der Mann von Bregan D’aerthe einen nach dem anderen an.
»Es ist nicht zu fassen. Habt Ihr in den letzten Stunden noch nicht genug gekämpft? Wie könnt Ihr nur auf den Gedanken kommen, Euch mit dem letzten Rest an Kraft, Magie und Blut gegenseitig abzuschlachten, nachdem wir schon die Hälfte des Weges durch das Labyrinth nichts anderes getan haben als zu kämpfen?«
»Wir sind nicht in der Stimmung, uns Vorhaltungen machen zu lassen«, entgegnete Quenthel. »Schweigt.« Ihr Blick ruhte auf Pharaun, als sie die Peitsche wieder in den Gürtel schob. »Es führt zu nichts, wenn wir uns gegenseitig bekämpfen.«
»Stimmt«, gab Pharaun die wohl knappste Antwort, die Ha-lisstra von ihm je gehört hatte. Eine unerwartete Disziplin erfüllte den Magier, der seine Wut unter Kontrolle brachte und sich entspannte. »Allerdings werde ich mich von Euch nicht länger wie ein dahergelaufener Goblin behandeln lassen. Das werde ich nicht dulden.«
»Ich werde mich von euch meinerseits nicht bei jedem Schritt verhöhnen und verspotten lassen«, gab Quenthel zurück und wandte sich Valas zu. »Meister Hune, habt Ihr im Palast etwas entdecken können?«
Der Späher sah wie Halisstra und Danifae nervös zu Quenthel und Pharaun.
»Ja«, antwortete er. »Im großen Saal des Palastes befindet sich ein Portal. Wenn ich die Zeichen nicht falsch gedeutet habe, wurde es von einer großen Zahl Personen benutzt, so daß zu vermuten ist, daß das Haus Jaelre sich nun in irgendeinem neuen Reich auf der anderen Seite dieses Portals befindet.«
»Wohin führt das Portal?« fragte Ryld.
Valas zuckte die Achseln. »Ich habe keine Ahnung, aber es gibt eine Methode, es herauszufinden.«
»Gut«, erklärte Quenthel. »Wir werden Euer Portal testen, ehe die Minotauren und ihre Dämonen zurückkehren. In wenigen Minuten wird jeder Ort besser sein als dieser hier.«
Sie ließ ihren Blick lange auf Pharaun ruhen, der schließlich so vernünftig war, in eine andere Richtung zu sehen, was einer Verbeugung gleichkam.
Halisstra atmete aus, obwohl ihr nicht bewußt gewesen war, daß sie den Atem angehalten hatte.
10
»Das hätte ich jetzt nicht erwartet«, bemerkte Pharaun.
Der Magier seufzte und setzte sich auf einen Felsen, während er sein Gepäck auf den mit Moos bewachsenen Boden fallen ließ. Die Gruppe stand an der Öffnung einer niedrigen Höhle, von der aus sie einen Wald an der Oberfläche überblicken konnten, der in helles Tageslicht getaucht war. Das Portal der Jaelre lag einige hundert Schritt hinter ihnen in einer feuchten, gewundenen Höhle, die zu einem großen, steil abfallenden Schlundloch mit von Flechten überzogenen Findlingen und Rinnsalen aus kaltem Wasser, das vom Hügel darüber herablief, führte.
Der Himmel war wolkenverhangen, und es regnete leicht. Die geschlossene Wolkendecke und die leichte Düsternis des Waldes trugen maßgeblich dazu bei, die unerträglich grelle Sonne abzuschwächen. Es war hier nicht so gleißend hell wie vor Zehntagen in der wolkenlosen Wüste Anauroch, doch für Augen, die seit Ewigkeiten an die völlige Lichtlosigkeit im Unterreich gewohnt waren, war der trübe Schein immer noch so grell wie ein Blitz, der die Nacht erhellte.
»Sollten wir weiterziehen?« fragte Ryld, der zwar Splitter in die Scheide zurückgesteckt hatte, die er sich auf den Rücken gebunden hatte, aber dennoch die Armbrust im Anschlag hielt und mit zusammengekniffenen Augen in das Grün der weit aufragenden Bäume spähte. »Die Minotauren werden nicht lange brauchen, um herauszufinden, wo wir sind.«
»Es ist egal, ob sie dahinterkommen«, erwiderte Pharaun. »Das Portal war so eingerichtet, daß es nur von Drow benutzt werden kann. Unsere Freunde im Labyrinth werden nur eine nackte Steinwand vorfinden – eine sinnvolle Vorsichtsmaßnahme von Seiten der Jaelre. An ihrer Stelle hätte ich allerdings wohl nicht ausgeschlossen, auch von meinesgleichen angegriffen zu werden.«
»Seid Ihr da sicher?« fragte Quenthel.
Pharaun nickte. »Ich habe mir das Portal aufmerksam angesehen, ehe wir es durchschritten. Blindlings durch Portale zu springen ist eine schlechte Angewohnheit, die man sich nur für die gravierendsten Situationen vorbehalten sollte, beispielsweise für die lebensrettende Flucht aus einer Stadt, die im Begriff ist, zerstört zu werden, und bevor sich jemand die Mühe macht zu fragen – ja, wir können den gleichen Weg zurückgehen. Das Portal arbeitet in beide Richtungen.«
»Ich habe es nicht eilig, in das Labyrinth zurückzukehren. Lieber die sonnenbeschienene Oberfläche als das«, murmelte Halisstra.
Sie schritt bedächtig über den Grund des Schlundlochs und betrachtete den Wald über ihnen. Die Luft war kühl, und sie sah, daß die Bäume in unmittelbarer Nähe überwiegend Nadelbäume waren, die – wenn sie sich recht erinnerte – in der Winterzeit nicht ihr Laub abwarfen. Ein Stück weiter standen einige kahle Bäume, die zu einer anderen Art gehörten, Bäume mit schmalen weißen Stämmen und nur noch einer Handvoll verschrumpelter rotbrauner Blätter in der Krone. Tot? überlegte sie. Oder einfach während des Winters kahl? Sie hatte vieles über die Welt an der Oberfläche gelesen, über die Bewohner, die grünen Pflanzen und die Tiere, die wechselnden Jahreszeiten, doch es war ein gewaltiger Unterschied, ob man über etwas las oder es aus erster Hand erfuhr.
»Wo sind wir?« fragte Quenthel.
Valas betrachtete die Bäume, und nach einiger Zeit kniff er die Augen zusammen, um zu den schwach leuchtenden Wolken zu blicken, die sich vor die Sonne geschoben hatten. Dann drehte er sich langsam im Kreis, um sich die Hügellandschaft ringsum anzusehen, schließlich kniete er sich hin und betastete das weiche grüne Moos auf den Steinen am Höhleneingang.