»Nordfaerûn«, sagte er. »Es ist Winteranfang, so wie es sein sollte. Man kann die Sonne nicht gut genug sehen, um ihre Position am Himmel zu bestimmen, aber ich kann sie so gut spüren wie wohl jeder von uns. Wir befinden uns in etwa auf dem gleichen Breitengrad wie die Länder über Menzoberranzan – wohl höchstens einige hundert Meilen nördlich oder südlich davon.«
»Also irgendwo im Hochwald?« fragte Danifae.
»Möglicherweise ja. Ich bin nicht sicher, ob die Bäume so aussehen, wie sie sollten. Ich bin durch die Länder an der Oberfläche gewandert, die sich in der Nähe unserer Stadt befinden. Das Laub sieht anders aus als das, was ich aus dem Hochwald in Erinnerung habe. Wir könnten weit von Menzoberranzan weg sein.«
»Großartig«, murmelte Pharaun. »Wir reisen durchs Unterreich nach Ched Nasad, müssen ein Portal durchschreiten, das uns Hunderte von Kilometern von zu Hause entfernt an die Oberfläche verschlägt, dann reisen wir durch Schatten und Gefahr zurück ins Unterreich, benutzen ein zweites Portal und landen wieder an der Oberfläche, möglicherweise noch weiter weg von zu Hause. Da stellt sich doch die Frage, ob wir nicht einfach von Hlaungadath hierher hätten reisen können, ohne den Umweg über die Schattenebene zu machen, ohne die Gastfreundschaft Gracklstughs in Anspruch zu nehmen und ohne einen reizenden Spaziergang durch ein von Minotauren bevölkertes Labyrinth zu unternehmen.«
»Deine Laune muß sich gebessert haben, Pharaun«, stellte Ryld fest. »Du hast zu deinem Sarkasmus zurückgefunden.«
»Eine schärfere Waffe als Splitter, mein Freund, und genauso verheerend, wenn sie richtig eingesetzt wird«, sagte der Magier. Er strich sich über den Oberkörper und zuckte zusammen. »Ich bin halbtot. Jedes Mal, wenn ich mich umdrehte, wollte mich eine stierköpfige Gestalt mit einer Axt in zwei Teile schlagen oder mich durchbohren. Dürfte ich Euch um eines Eurer heilenden Lieder angehen, werte Dame?« fragte er Halisstra.
»Heilt ihn nicht«, herrschte Quenthel sie an. Sie stand noch immer da, eine Hand auf den Oberkörper gedrückt. Blut lief zwischen den Fingern hindurch. »Niemand ist tödlich verletzt. Spart Eure Magie auf.«
»Das ist genau die Art ...«, begann Pharaun, sah sie finster an und erhob sich.
»Hört auf!« ging Halisstra dazwischen. »Ich habe all meine Gesänge aufgebraucht, also ist es völlig egal. Wenn ich meine magische Kraft wiedererlangt habe, werde ich jeden heilen, der es nötig hat, weil es dumm wäre, wenn wir uns in unserer Verfassung noch weiterschleppen würden. Bis dahin werden wir uns alle auf eine gewöhnliche Heilung verlassen müssen. Danifae, hilf mir, die Wunden zu verbinden.«
Die Kriegsgefangene wandte sich Jeggred zu und bedeutete ihm, sich hinzusetzen. Sie nahm den Rucksack ab und begann, nach Verbandszeug und Salben zu suchen. Der Draegloth widersprach nicht, ein deutliches Zeichen dafür, wie erschöpft er war.
Halisstra sah sich die anderen an und entschied, daß der Magier von allen am dringendsten versorgt werden mußte. Nachdem sie ihn zurück auf den Findling gedrückt hatte, holte sie ihren eigenen Vorrat an Verbandszeug heraus. Sie betrachtete Pharauns Oberarm, wo Jeggreds Klauen sich durch das Fleisch geschnitten hatten, dann trug sie eine Salbe auf, die sie wie einige andere in Gracklstugh erworben hatte.
»Das wird stechen«, sagte sie sanft.
Pharaun stieß einen Fluch aus und machte einen Satz, als hätte man ihn mit einem Messer traktiert, während er vor Schmerz aufschrie.
»Das habt Ihr absichtlich getan!« sagte er.
»Natürlich«, erwiderte Halisstra.
Während sie und Danifae die anderen versorgten, klomm Valas einen schmalen Weg hinauf, der an der Wand des Schlundlochs verborgen war. Aufmerksam studierte er den Boden und blieb immer wieder stehen, um nachdenklich in den Wald zu blicken.
Halisstra sah zu ihm auf und rief: »Habt Ihr etwas Interessantes gefunden, Meister Hune?«
»Es gibt hier einen Pfad, der hinauf zum Höhleneingang führt«, erwiderte der Mann von Bregan D’aerthe. »Aber ich kann nicht sagen, wohin die Jaelre gegangen sind. Es führen mehrere Trampelpfade von hier weg, doch keiner von ihnen scheint von einer größeren Zahl Wanderer benutzt worden zu sein.«
»Im Jaelre-Palast im Labyrinth sagtet Ihr, Ihr hättet deutliche Zeichen dafür entdeckt, daß sie das Portal benutzt haben. Wie kann es dann auf dieser Seite keine geben?« wollte Quenthel wissen.
»Der Staub und Schmutz im Unterreich kann Spuren, die zeigen, daß jemand einen bestimmten Weg genommen hat, viele Jahre lang konservieren, doch an der Oberfläche ist das nicht so einfach. Es regnet, es schneit, Pflanzen wachsen schnell genug, um Pfade zu überwuchern, die seit einiger Zeit nicht mehr benutzt wurden. Wären die Jaelre in den letzten ein oder zwei Zehntagen in großer Zahl hier entlanggegangen, könnte ich wohl noch Hinweise darauf entdecken. Wenn sie aber vor fünf oder zehn Jahren hier waren, dann gibt es keine Zeichen mehr zu lesen.«
»Sie werden sich nicht weit an der Oberfläche bewegt haben«, überlegte Quenthel. »Sie können nicht weit gekommen sein.«
»Vermutlich ist das richtig«, erwiderte Halisstra. »Die Jaelre dürften zweifellos vorgezogen haben, bei Nacht zu wandern und am Tag unter den Bäumen Schutz zu suchen. Wenn es sich um einen sehr großen Wald wie den Hochwald oder Cormanthor handelt, dann könnten sie einige hundert Kilometer entfernt sein.«
»Welch aufmunternder Gedanke«, murmelte Pharaun. »Was um alles in der Welt hat die Jaelre überhaupt hier heraufgeführt? Haben sie nicht die Möglichkeit in Erwägung gezogen, daß die Oberflächenbewohner sie genauso bereitwillig abschlachten könnten wie die Minotauren?«
»Als ich sie vor vielen Jahren besuchte, sprachen Tzirik und seine Gefährten von Zeit zu Zeit davon, eines Tages an die Oberfläche zurückzukehren«, sagte Valas. Er wandte sich vom Wald ab und sprang leichtfüßig zurück in die Höhlenöffnung. »Die Welt an der Oberfläche zurückzuerobern ist Teil der Doktrin des Maskierten Fürsten, und die Hauptmänner und die Herrscher des Hauses Jaelre fragten sich, ob der sogenannte Rückzug unserer lichtblinden Verwandten an der Oberfläche nicht womöglich eine Einladung war, die Länder zu beanspruchen, die von den dortigen Elfen aufgegeben wurden.«
»Konnte Euch nicht in Ched Nasad einfallen, daß Eure ketzerischen Freunde ihrem Wunsch gefolgt sein und jenen finsteren, von Dämonen heimgesuchten Ort verlassen haben könnten, den sie ihr Zuhause nannten?« fragte Quenthel. »Ist Euch nicht bewußt gewesen, daß Ihr uns in diesem Labyrinth in eine Sackgasse führen könntet?«
Der Späher aus Bregan D’aerthe wich Quenthels Blick nervös aus und erwiderte: »Ich sah keine bessere Alternative, Herrin. Jedenfalls nicht, wenn wir den Dingen auf den Grund gehen wollen.«
»Du bist so sehr darauf aus, das Rätsel zu lösen, warum die Spinnenkönigin schweigt, daß du einfach blind darauf vertraust, deinen Freund Tzirik noch im Labyrinth anzutreffen, obwohl du wußtest, daß sein Haus schon seit Jahren die Flucht plante?« fragte Ryld. »Wir sind in der Stadt der Duergar große Risiken eingegangen und haben viel Schmerz im Reich der Minotauren erduldet, nur damit du deine Neugier befriedigen konntest!«
»Vielleicht hatten wir diesen Tzirik ohnehin nie finden sollen«, gab Quenthel zu bedenken. »Vielleicht hat Meister Hune uns über viele Zehntage hinweg von unserer Mission abgehalten, und vielleicht geschah das nicht mal zufällig.«
»Als wir über die Frage nachdachten, ob wir nach Menzoberranzan zurückkehren sollten«, warf Jeggred ein, »hat der Bregan D’aerthe darauf gedrängt, daß wir uns auf die Suche nach diesem Priester Tzirik machen – einem ketzerischen Priester, von dem außer Valas noch niemand etwas gehört hatte.« Der Draegloth kniff die Augen zusammen, stand auf und ballte die vier Hände zu Fäusten, während er Danifae aus dem Weg schob. »Nun wird alles klar. Unser Führer ist ein vhaeraunitischer Ketzer, der dem Maskierten Fürsten gut gedient hat, indem er uns tagelang endlosen Gefahren ausgesetzt hat.«