»Das ist lächerlich«, protestierte Valas. »Ich hätte wohl kaum die Bregan D’aerthe zur Verteidigung Menzoberranzans geführt, wenn ich ein Feind der Stadt wäre.«
»Ja, aber das ist das klassische Täuschungsmanöver«, wandte Danifae ein. »Macht Eure Opfer mit dem Agenten vertraut, den Ihr zu ihrer Vernichtung ausgewählt habt, damit sie einen Grund bekommen, ihm zu trauen. In Eurem Fall wurde dieser Plan offenbar meisterhaft ausgeführt.«
»Selbst wenn«, konterte Valas. »Warum habe ich Euch dann nicht an die Duergar ausgeliefert? Oder Euch den Minotauren überlassen? Ich hätte Euren Tod arrangieren können, statt lediglich dafür zu sorgen, daß Ihr Eure Zeit vergeudet. Wäre ich Euer Feind, dann könntet Ihr sicher sein, daß ich exakt so vorgegangen wäre.«
»Vielleicht wärst du selbst in Gefahr geraten, wenn du uns in Gracklstugh oder im Labyrinth hintergangen hättest«, überlegte Pharaun. »Dennoch hast du einen wichtigen Punkt zu deiner Verteidigung vorgebracht.«
»Nichts als die geschickten Lügen eines Verräters«, zischte Jeggred und sah zu Quenthel. »Gebt mir Euren Befehl. Soll ich ihm die Gliedmaßen ausreißen?«
Valas legte die Hände auf die Hefte seiner Kukris und leckte sich die Lippen. Er war grau vor Angst, doch in seinen Augen funkelte der Zorn. Alle sahen Quenthel an, die noch immer gegen einen Findling gelehnt stand, die Peitsche reglos an der Taille. Sie sagte nichts, während der Regen sich seinen Weg durch das Blätterdach bahnte und in der Ferne Vögel sangen.
»Ich werde mich für den Augenblick eines Urteils enthalten«, sagte sie und betrachtete Valas. »Wenn Ihr loyal seid, dann brauchen wir Euch, um Tzirik zu finden – vorausgesetzt, dieser Vhaeraun-Priester existiert überhaupt –, aber Ihr wärt gut beraten, uns die Jaelre und ihren Hohepriester schnell zu präsentieren, Meister Hune.«
»Ich habe keine Ahnung, wo sie sich aufhalten«, erwiderte Valas. »Ihr könnt mich ebensogut sofort verdammen und Euch auf die Reaktion Bregan D’aerthes gefaßt machen.«
Quenthel warf Jeggred einen kurzen Blick zu, woraufhin der Draegloth lächelte. Seine nadelgleichen Fangzähne leuchteten in seinem dunklen Gesicht.
Halisstra wußte nicht, was sie von alldem halten sollte. Sie hatte den Späher vor etwas mehr als einem Zehntag kennengelernt, daher wußte sie nichts darüber, was sich in Menzoberranzan abgespielt hatte, ehe sich die Menzoberranzanyr auf den Weg nach Ched Nasad gemacht hatten. Ihr war aber klar, daß sie alle es noch bedauern sollten, wenn Quenthel Valas töten ließ und sich anschließend herausstellte, daß seine Dienste weiter benötigt wurden oder daß seine mächtige Söldnergilde sich für den Tod ihres Spähers rächen würde.
»Was wäre die beste Methode, von hier aus den Aufenthaltsort der Jaelre ausfindig zu machen?« fragte Halisstra, die hoffte, so die Unterhaltung in eine ungefährlichere Richtung zu lenken.
Valas zögerte, dann sagte er: »Wie Herrin Quenthel schon sagte, sie sind wohl kaum allzuweit gekommen. Wir können in einem sich ausdehnenden Spiralmuster suchen, bis wir aufbessere Informationen stoßen.«
»Ein Plan, der ermüdend und langwierig klingt«, warf Pharaun ein. »Ziellos durch diesen gleißend hellen Wald zu laufen sagt mir nicht zu.«
»Wir könnten uns einen Bewohner der Oberflächenwelt vornehmen und ihm Informationen entlocken«, gab Ryld zu bedenken. »Vorausgesetzt, einer von ihnen hält sich in der Nähe auf und weiß etwas über den Verbleib des Hauses Jaelre.«
»Auch in dem Fall müßten wir umhermarschieren, um einen solchen Bewohner zu finden, da sich niemand von selbst präsentieren dürfte«, meinte Pharaun. »Dein Plan unterscheidet sich nur unwesentlich von dem Meister Hunes.«
»Was schlagt Ihr vor?« fragte Quenthel mit eisiger Stimme.
»Gestattet mir, zu ruhen und meine Zauberbücher zu konsultieren. Morgen werde ich einen Zauber vorbereiten, der enthüllen könnte, wo sich das verschwundene Haus ketzerischer Ausgestoßener befindet.« Er hob eine Hand, um dem Protest der Baenre zuvorzukommen, und fügte an: »Ja, ich weiß. Ihr wollt jetzt weiterziehen, aber wenn ich mit einem Erkenntniszauber das Ziel unserer Suche ausfindig machen kann, ersparen wir uns vermutlich viele Stunden Wanderung in die falsche Richtung. Diese Pause wird auch der reizenden Dame von Melarn Gelegenheit geben, ihre Kräfte aufzufrischen und vielleicht die ärgsten unserer Wunden zu heilen.«
»Euer Zauber könnte vielleicht nichts brauchbares ergeben«, sagte Quenthel. »Magie dieser Art ist bekannt für ihre Unzuverlässigkeit.«
Pharaun sah sie nur an.
Quenthel blickte zum Himmel auf und blinzelte in das erbarmungslose graue Licht, das durch die Wolken droben drang. Sie seufzte und sah einen nach dem anderen an, wobei sie besonders lange bei Danifae verharrte. Die Kriegsgefangene nickte so minimal, daß Halisstra nicht sicher war, ob sie diese Bewegung wirklich gesehen hatte.
»Also gut«, sagte die Herrin Arach-Tiniliths schließlich. »Es wäre wohl weise, wenn wir auf den Schutz der Dunkelheit warten. Also werden wir in der Höhle unser Lager aufschlagen, wo uns die verfluchte Sonne nicht so sehr zu schaffen machen kann. Meister Hune, Ihr werdet Euch in meiner Nähe aufhalten, bis wir diesen Tzirik gefunden haben.«
Nimor Imphraezl bewegte sich zügig auf dem breiten Vorsprung voran, passierte zur Rechten eine lange Reihe marschierender Duergar, während er genügend Abstand zum Rand des schwarzen Abgrunds zu seiner Linken hielt. Eine mehrere tausend Mann starke Armee auf den finsteren, lichtlosen Wegen durch das Unterreich zu führen war eine gewaltige Herausforderung, zumal viele der direkteren Routen nicht in der Lage waren, so immens viele Soldaten zu fassen. Damit blieben nur die geräumigeren Höhlen und Tunnel, die ihrerseits durch manch gefahrvolle Region führten, die man auf den verstohleneren Wegen meiden konnte.
Der Weg verlief entlang der Schulter einer großen unterirdischen Schlucht, die sich fünfundsechzig Kilometer von Gracklstugh entfernt durch die Finsternis zog. An diesem Tag waren sie erst gut zwei Stunden marschiert, doch die Armee aus Grauzwergen hatte bereits eine voll beladene Packechse sowie fünf Soldaten – die das Pech hatten, sich in der Nähe der Bestie aufzuhalten – verloren, als ein Schwarm hungriger Yrthaks sie attackiert hatte.
Zwar war es kein nennenswerter Verlust, doch Nimor hatte längst erkannt, daß jeder Tag ein neues Mißgeschick oder einen neuen Unfall mit sich brachte und die Armee Stück für Stück aufgerieben wurde. Dem Assassinen der Jaezred Chaulssin war bis dahin nie wirklich klar gewesen, welch gewaltiges Unterfangen es darstellte, eine große und gut ausgerüstete Armee über hundertfünfzig Kilometer weit durch das Unterreich zu führen. Er war es gewohnt, mit wenig Gepäck allein oder in der Gesellschaft einer kleinen Gruppe von Söldnern oder Spähern die düsteren Pfade zu bereisen und dabei geheime Wege und bekannte Zufluchten zu nutzen, die abseits der Hauptrouten lagen. Nachdem er nun aber mehrere Tage an der Seite einer Armee gereist war und ausreichend Gelegenheit bekommen hatte, kleinere Rückschläge, Schwierigkeiten und Herausforderungen mitzuerleben, die er sich nie hätte vorstellen können, wußte er den Umfang dieser Expedition um so mehr zu schätzen. Die Duergar waren wirklich interessiert, einem in Nöten befindlichen Nachbar einen tödlichen Schlag zu versetzen, wenn sie bereit waren, die riesigen Zahlen an Bestien, Soldaten und Gerätschaft aufzufahren, die erforderlich waren, um eine Armee in eine Schlacht ziehen lassen zu können.
Der Assassine folgte dem Verlauf einer riskanten Kurve und erreichte die Kutsche des Kronprinzen: eine schwebende Hülle aus Eisen, gut neun Meter lang und drei Meter breit, so mit Zaubern belegt, daß sie nicht nur über dem Boden schwebte, sondern sich auch so bewegte, wie die Grauzwerge es wollten, die das Objekt kontrollierten. Die gräßliche schwarze Form war mit Dornen besetzt, um Angreifer abzuwehren, und durch Schlitze in der gepanzerten Hülle konnte jeder, der sich in der Umgebung des Dings aufhielt, mit Geschossen oder tödlichen Zaubern angegriffen werden. Die Kutsche säumte eine Reihe großer, mit Läden versehener Fenster. Die Läden waren aufgestellt, und durch sie konnte Nimor einen Blick auf die ruhige Gruppe aus Duergar-Anführern und ihren Assistenten werfen. Das gesamte Konstrukt diente als Kommandoposten sowie als Schlafgemach für den Kronprinzen, der mit seiner Armee in die Schlacht zog. Es verkörperte auf perfekte Weise, wie Zwerge die Dinge angingen, dachte Nimor, ein Werk, das von hoher handwerklicher Kunst und mächtiger Magie zeugte, aber weder Anmut noch Schönheit aufwies.