Mit einem knappen Satz sprang er auf das Trittbrett der Kutsche und duckte sich durch eine dicke Eisentür. Drinnen verbreiteten blaue Kugeln ein dämmriges Licht und beleuchteten einen großen Tisch, auf dem sich eine Darstellung der Tunnel und Höhlen zwischen Gracklstugh und Menzoberranzan befand. An diesem Tisch beobachteten die Fürsten und Hauptmänner der Duergar, wie die Armee vorankam, und dort planten sie auch die kommenden Schlachten. Mit einem raschen Blick nahm der Assassine zur Kenntnis, welche Offiziere und Diener anwesend waren, dann wandte er sich dem erhöhten zentralen Bereich der Kutsche zu. Der Fürst der Stadt der Klingen saß mit seinen wichtigsten Beratern an einem Tisch hoch über den anderen und verfolgte die Planungen, die unterhalb von ihm abliefen.
»Gute Neuigkeiten«, verkündete Nimor und trat in den Kreis aus Hauptmännern und Wachleuten, von denen Horgar Stahlschatten umgeben war. »Mir ist bekannt geworden, daß der Erzmagus von Menzoberranzan, Gromph Baenre persönlich, vom Sava-Brett unserer kleinen Partie entfernt worden ist. Die Muttermatronen ahnen noch nichts von unserem Vordringen in ihr Territorium.«
»Wenn Ihr meint«, gab der Duergar-Fürst schroff zurück. »Im Umgang mit Dunkelelfen habe ich gelernt, daß es ratsam ist, so lange die Präsenz eines Erzmagus nicht auszuschließen, solange ich ihn nicht von meinem eigenen Hammer erschlagen vor mir sehe.«
Die um Horgar versammelten Duergar nickten zustimmend und sahen Nimor mit unverhohlenem Argwohn an. Ein Drow-Überläufer mochte in einem Krieg gegen Menzoberranzan ein nützlicher Verbündeter sein, doch hieß das nicht zwangsläufig, daß sie in Nimor einen verläßlichen Partner sahen.
Nimor entdeckte eine goldene Karaffe, die auf dem hohen Tisch stand, und schenkte sich großzügig Dunkelwein in einen Kelch ein.
»Gromph Baenre ist nicht der einzige begabte Magier in Menzoberranzan«, knurrte Borwald Feuerhand. Der Marschall, der sogar für einen Grauzwerg klein und stämmig war, packte mit großen, starken Händen die Tischkante und beugte sich vor, um dem Assassinen einen stechenden Blick zuzuwerfen. »Deren verdammte Magierschule ist voller begabter Magier. Eure Verbündeten haben voreilig gehandelt, Drow. Wir sind noch fünfzehn Tage von Menzoberranzan entfernt, und Gromphs Tod wird sie warnen.«
»Eine verständliche Überlegung, aber nicht zutreffend«, erwiderte Nimor und trank einen tiefen Schluck aus seinem Kelch, während er den Augenblick auskostete. »Gromph wird sicher bald gesucht werden. Doch statt den arkanen Blick auf das Unterreich zu werfen, ob sich von dort der Feind nähert, wird jeder Meister Sorceres ergebnislos nach dem Erzmagier suchen und dabei gegen seine Kollegen arbeiten. Während sich die Armee des Kronprinzen nähert, ist der Blick der mächtigsten Magier der Stadt starr auf die eigenen Reihen gerichtet, und mancher von ihnen wird danach streben, Kollegen zu töten, wenn so die Chance entsteht, den frei gewordenen Platz des Erzmagiers einzunehmen.«
»Die Meister Sorceres werden sicherlich ihren Ehrgeiz zurückstellen, wenn ihnen klar wird, in welcher Gefahr sie schweben«, sagte der Kronprinz und hielt Nimor mit einer knappen Geste davon ab, etwas zu erwidern. »Ja, ich weiß, Ihr werdet sagen, daß ihnen das womöglich gar nicht klar ist. Dennoch wären wir gut beraten einzukalkulieren, daß wir auf eine organisierte und gut geführte magische Verteidigung in der Stadt stoßen könnten. Trotz allem war das ein guter Schlag.«
Er erhob und schob sich zwischen den Gutsherrn und Wachen hindurch zum Kartentisch, wobei er Nimor bedeutete, ihm zu folgen. Der Assassine begab sich auf die andere Seite des Tisches, um von dort den Ausführungen des Duergar-Herrschers zuzuhören. Mit einem Finger zeichnete Horgar ihre Route nach.
»Wenn die Magier Menzoberranzans unser Herannahen nicht bemerken«, sagte Horgar, »dann erhebt sich die Frage, an welchem Punkt ihnen klar wird, daß ihnen Gefahr droht.«
Gutsherr Borwald drängte sich an eine Seite des Tisches vor und wies auf eine Stelle, an der zwei Höhlen zusammentrafen.
»Angenommen, wir begegnen nirgends einer Drow-Patrouille, dann ist diese Höhle, die den Namen Rhazzts Dilemma trägt, der Punkt, an dem wir zum ersten Mal auf den Feind treffen werden. Die Menzoberranzanyr haben dort schon vor langer Zeit einen Außenposten eingerichtet, um den Weg im Auge zu behalten, da er als einer von nur wenigen einer Armee genug Platz bietet. Unsere Vorhut sollte in fünf Tagen dort ankommen. Danach gabelt sich unser Weg, und wir müssen die erste Entscheidung treffen. Wir können nach Norden zwischen den Säulen des Leids hindurchziehen oder sie westlich umgehen, was unseren Marsch mindestens um sechs Tage verlängert. Die Säulen werden wahrscheinlich gegen uns gerichtet werden und könnten uns auf unbestimmte Zeit aufhalten.«
»Die Säulen des Leids ...«, sagte Horgar und zog an seinem eisengrauen Bart, während er die Karte betrachtete. »Wenn die Drow erfahren, daß wir auf dem Weg sind, werden sie zweifellos mehr Truppen nach dort verlegen und den Paß gegen uns verteidigen. Daher taugt dieser Weg nichts. Wir werden in westlicher Richtung weiterziehen müssen, um uns seitlich zu nähern. Es läßt sich nicht vermeiden, daß durch diese Vorgehensweise unser Marsch länger dauert.«
»Ich bin der Meinung, Ihr solltet den direkteren Weg nehmen«, warf Nimor ein. »Der Weg durch die Säulen des Leids spart Euch sechs Tage, und wenn Ihr Euch erst einmal auf der anderen Seite befindet, werdet Ihr vor der Tür nach Menzoberranzan stehen. Der Weg über die westlichen Pässe führt durch weit unwegsameres Gelände.«
Der Duergar-Fürst schnaubte verächtlich und gab zurück: »Womöglich seid Ihr dort noch nicht gereist. Ihr habt einen schwierigen Weg gewählt, wenn es Euer Plan ist, Euch durch die Säulen des Leids zu kämpfen. Die Schlucht wird dort eng und führt steil nach oben. Zwei mächtige Säulen versperren das obere Ende, zwischen ihnen führt nur ein schmaler Weg hindurch. Selbst eine kleine Drow-Streitmacht kann es beliebig lange halten.«
»Ihr könnt vor den Menzoberranzanyr bei den Säulen sein«, sagte der Assassine. »Ich werde Euch den Außenposten bei Rhazzts Dilemma ausliefern. Wir werden den Verteidigern dieses Außenpostens Gelegenheit geben zu melden, daß eine Duergar-Streitmacht vorrückt. Doch noch während die Nachricht den Muttermatronen überbracht wird, wird Eure Streitmacht voreilen, um bei den Säulen des Leids eine tödliche Falle vorzubereiten. Dort werdet Ihr die Armee vernichten, die von den Herrschern dorthin geschickt wird, um die schmale Öffnung zu verteidigen.«
»Wenn Ihr uns den Außenposten ausliefern könnt, warum wollt Ihr dann den Soldaten dort Gelegenheit geben, eine Warnung weiterzugeben?« brummte Borwald. »Es ist doch besser, wenn wir so lange wie möglich unentdeckt bleiben.«
»Das Wesen der Täuschung«, erklärte Nimor, »besteht nicht darin, dem Gegner Informationen vorzuenthalten, sondern ihm zu zeigen, was er zu sehen erwartet. Auch wenn wir einen erfolgreichen Schlag gegen die Magier der Stadt geführt haben, werden sie früher oder später merken, daß wir uns der Stadt nähern. Daher ist es am besten, wenn wir die Kontrolle darüber haben, unter welchen Umständen von der Armee des Kronprinzen berichtet wird, da wir so ihre Reaktion einschätzen können.«
»Das klingt faszinierend. Fahrt fort«, forderte Horgar ihn auf.