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Die anderen in der Gruppe warfen einander finstere Blicke zu.

»Jetzt verstehe ich, warum er diesen Zauber so ungern wirkt«, kommentierte Ryld. Er trat einen Schritt vor und packte Pharauns schwach winkenden Arm, drehte ihn auf den Rücken und untersuchte ihn auf äußerlich erkennbare Verletzungen. Pharaun sah auf und brachte ein flüchtiges Grinsen zustande.

»Gute und schlechte Nachrichten, würde ich sagen«, meinte er. »Tzirik scheint noch zu leben.«

»Die Anweisungen waren eindeutig«, sagte Valas. »Ich glaube, ich kann uns in eine ausreichend westliche Richtung führen.«

»Was habt Ihr mit den letzten Worten gemeint?« wollte Jeggred wissen, der von Valas keine Notiz nahm. »Was den Verrat angeht?«

Der Draegloth ballte die Fäuste.

»Daß jeder von uns jemanden verraten wird? Da könnte ich nur raten«, sagte Pharaun. Er hustete und setzte sich auf. Mit einer Handbewegung bedeutete er Ryld, daß er keine weitere Hilfe benötigte. »Es liegt in der Art dieser Magie, derart kryptische Vorhersagen zu machen, bedrohliche kleine Rätsel, bei denen man kaum hoffen kann, sie zu lösen, bis einem auf einmal bewußt wird, daß das gefürchtete Ereignis bereits hinter einem liegt.« Er stieß ein trockenes Kichern aus. »Wenn nur einer von uns in nächster Zeit keinen schockierenden Verrat zu begehen vorhat, dann wüßte ich gerne, wer da so nachlässig ist. Er wird unseren Ruf schädigen, wenn er nicht aufpaßt.«

Halisstra betrachtete den Rest der Gruppe, sah die ausdruckslosen Gesichter und die nachdenklichen Blicke. Danifae reagierte mit einem flüchtigen Lächeln und ließ ihre Augen für einen winzigen Moment zu Quenthel zucken. Es war eine so winzige und verstohlene Geste, daß niemand außer Halisstra sie wahrnehmen konnte.

Auch wenn der Magier die exakten Worte seines Erkenntnis-Zaubers wie beiläufig abtat, war sie nicht erfreut über die Aussicht, daß jeder ihrer Gefährten in nächster Zeit irgendeinen Verrat begehen würde. Oder jeder bis auf einen. Nur weil Halisstra im Moment nicht vorhatte, jemanden zu verraten, bedeutete das nicht zwangsläufig, daß sie nicht doch eine Gelegenheit nutzen würde, die sich ihr bieten mochte. Schließlich hatte sie es bis zur Ersten Tochter des Hauses Melarn geschafft, weil sie einen erbarmungslosen Instinkt für solche Dinge besaß. Wäre Ched Nasad nicht zerstört worden, wäre zweifellos irgendwann der Augenblick gekommen, an dem sie einen Plan gegen ihre Mutter geschmiedet hätte, um die Führung des Hauses für sich zu beanspruchen. Matrone Melarn hatte auf die gleiche Weise und aus dem gleichen Motiv vor Jahrhunderten den Platz von Halisstras Großmutter eingenommen. Es war Lolths Art.

»Nun«, sagte Pharaun und erhob sich noch immer zitternd. Der Magier nahm sehr behutsam von Ryld sein Gepäck entgegen. »Wie es scheint, habe ich ein Ziel vorgegeben. Wo ist Westen, Meister Hune?«

Valas wies mit einem Kopfnicken zu einer Seite der Lichtung und erwiderte: »Es gibt eine Reihe von Wildfährten, die mehr oder weniger der untergehenden Sonne folgen.«

»Kommt«, sagte Quenthel. »Je eher wir aufbrechen, desto früher kommen wir an. Ich will keine Stunde mehr als nötig in diesem vom Licht versengten Land zubringen. Meister Hune, Ihr werdet Euren gewohnten Platz als unser Führer einnehmen. Meister Argith, Ihr begleitet ihn. Halisstra, Ihr bildet die Nachhut und achtet darauf, daß uns niemand folgt.«

Halisstra zog die Brauen zusammen und trat von einem Fuß auf den anderen. Was sie tun sollte, schien ihr eher eine Aufgabe für einen Mann zu sein. In den letzten Tagen hatte Jeggred die Nachhut gebildet. Ihr entging nicht, daß Jeggred durch die neue Marschordnung nun dicht bei Quenthel war, um die Baenre bei einem Angriff zu beschützen. Ebenso war ihr aufgefallen, daß Quenthel sowohl Valas als auch Ryld mit »Meister« angesprochen hatte, während sie selbst von ihr nur »Halisstra« genannt worden war.

Natürlich wäre es sinnlos gewesen, Protest einzulegen, also wartete sie, bis sich die Gruppe aufgestellt hatte, um Valas zu folgen. Sie nahm die Armbrust von der Schulter und stellte sicher, daß sie sofort einsatzbereit war. Nachdem die Gruppe gut fünfzig Schritt zurückgelegt hatte, machte sich Halisstra daran, den anderen zu folgen.

11

Die Waldlandschaft an der Oberfläche entpuppte sich als ein fremdartiger und beunruhigender Ort. Als sich die Gruppe vom Rand der Lichtung entfernte, wich das dichte Unterholz einer schier endlosen Halle aus runden Stämmen, die sich bis hinauf zum Laubdach erstreckten und wie die Säulen einer düsteren Elfenhalle in den Ländern unter ihnen wirkten. Umgestürzte Bäume lagen kreuz und quer und waren von leuchtend grünem Moos überzogen. Manche von ihnen waren so groß, daß die Gruppe einen großen Umweg machen oder sich unter dem Hindernis hindurchzwängen mußte. Schnee hatte sich seinen Weg durch das dichte Laub gebahnt, und von den Zweigen hoch über ihnen tropfte ständig kaltes Wasser auf sie herab. Anders als die leblose Abgeschiedenheit Anaurochs war der Wald nicht nur voller Bäume und Sträucher, sondern wurde auch von allen möglichen kleinen Tieren und Vögeln bevölkert. Nachdem sie mehrmals erschrocken stehengeblieben war, hatte Halisstra es schließlich geschafft, etliche der leisen Vogelrufe und der anderen Geräusche zu identifizieren. Das befähigte sie, sie ins Reich der Bedeutungslosigkeit zu verbannen.

Anfangs hatte sie befürchtet, sie könnte die Gruppe vor ihr allzuschnell aus den Augen verlieren. Doch abgesehen vom dichteren Laub an den vereinzelten Lichtungen bestand das Unterholz vorwiegend aus Farnen und anderen Grünpflanzen, die nur selten über Hüfthöhe hinausgingen. Als sich die Nacht über den Wald herabsenkte, konnte Halisstra sofort wieder besser sehen und fühlte sich mit zunehmender Finsternis wohler.

Die Drow marschierten die ganze Nacht hindurch, und erst kurz vor Tagesanbruch schlugen sie ihr Lager in der Ruine eines alten Turms auf, dessen geborstener weißer Stein von Moos überzogen war. Der Turm ließ eine bemerkenswert elegante Form erkennen, in den Sturz der seit langem fehlenden Tür war ein Muster aus Ranken und Blüten eingraviert – eindeutig das Werk von Elfen, die an der Oberfläche gelebt hatten. Nachdem Pharaun die Lagerstatt auf verbliebene Zauber abgesucht hatte, die ihnen gefährlich werden konnten, aber auf nichts Verdächtiges gestoßen war, ließen sie sich nieder, um die schmerzhaft grellen Stunden des Tages abzuwarten. Quenthel wies Jeggred und Pharaun an, Wache zu halten, während die anderen den Schatten und die Sicherheit genossen, die die zum Teil erhalten gebliebenen Decken und die eleganten Mauern ihnen boten.

Als die Sonne unterging, aßen sie, bauten ihr Lager ab und machten sich auf. Sie behielten die gleiche Marschordnung bei und marschierten wieder die ganze Nacht hindurch. Die folgenden zwei Tage und zwei Nächte vergingen im gleichen Rhythmus. Valas gelang es sogar, ein kleines Huftier zu erlegen, kurz bevor die dritte Nacht ihrer Reise endete. Halisstra nahm überrascht zur Kenntnis, wie zart und saftig das Fleisch dieses Tiers war, das besser schmeckte als eine junge Rothé.

Gegen Ende des Tages zogen wieder Wolken auf, dunkler und dichter als zuvor, und als das Tageslicht verschwunden war und sich die Drow für ihren vierten Marsch durch die Welt an der Oberfläche bereitmachten, begann es erneut zu schneien. Diesmal waren es schwere, nasse Flocken. Im Wald wurde es so ruhig, daß die Stille etwas Beängstigendes hatte. Es war, als hielte der Wald den Atem an, um den Augenblick nicht zu stören. Halisstra sah sich immer wieder um, machte ein Dutzend Schritte nach vorn und blieb dann stehen, um zu beobachten, ob ihnen jemand folgte. Zeitweise ging sie sogar für Minuten rückwärts und sah nur in kurzen Abständen nach vorn, um sicher zu sein, daß nichts ihren Weg versperrte. Wenn Pharauns Erkenntniszauber zutraf, dann würden sie am Ende dieser oder der nächsten Nacht den Fluß erreichen, was bedeutete, daß das Haus Jaelre und der Vhaeraun-Priester nur noch einen Tag entfernt sein konnten.