Nun, da das Ziel ihrer langen Reise plötzlich zum Greifen nah war, wurde Halisstra klar, daß sie nicht wußte, warum der Ketzer ihnen helfen sollte. Valas mochte ein alter Bekannter von ihm sein, doch kein Kleriker des Maskierten Gottes würde Priesterinnen Lolths einfach aus purer Güte heraus helfen. Daß dafür ein Preis gezahlt werden mußte, war klar, doch welcher? überlegte Halisstra. Würde Reichtum genügen? Quenthel und ihre Gefährten führten wertvolle Edelsteine mit sich. In der Wildnis des Unterreichs war es die einfachste und platzsparendste Methode, um Vermögen zu transportieren. Halisstra hatte unmittelbar vor der Flucht aus Ched Nasad auch ihre Taschen vollgepackt. Dennoch bezweifelte Halisstra, daß sich ein so mächtiger Vhaeraunit derart leicht kaufen lassen würde.
Zwang war eine andere Möglichkeit, vielleicht würden sie ihm aber auch irgendeinen Dienst erweisen müssen. Danifae war bei solchen Vereinbarungen gelegentlich recht nützlich. Jeder Drow hatte mindestens einen Feind, dem er etwas heimzahlen wollte.
Sie merkte, daß sie ein Stück zurückgefallen war, also beschleunigte sie ihre Schritte, um wieder ihre Position hinter der Gruppe einzunehmen. Mühelos eilte sie durch den Wald, wobei ihre Stiefel sie immer wieder ein Stück durch den Schnee rutschen ließen. Dann endlich sah sie Jeggreds hünenhafte Gestalt und die kleineren Begleiter bei ihm. Halisstra wurde langsamer und warf einen erneuten Blick über die Schulter.
Jemand befand sich hinter ihr.
Von allen Seiten hörte sie Schritte, die kaum lauter als ein Flüstern waren, bis sie abrupt einer völligen Stille wichen, die nur magischen Ursprungs sein konnte.
Halisstra stieß einen Warnruf aus, konnte aber nichts hören. Sie hob die Armbrust. Auf dem Weg direkt vor ihr kam ein schlaksiger Elf herangestürmt, dessen Haut so weiß wie Schnee war. In einer Hand hielt er eine wundervoll geschwungene Streitaxt, in der anderen eine Handaxt. Seine Augen funkelten in der Nacht wie grüner Tod.
»Achtung!« schrie sie, um ihre Gefährten zu warnen, doch wieder durchdrang kein Laut die vollkommene Stille.
Ohne zu zögern wirbelte sie herum und feuerte ihre Armbrust auf Jeggred ab, der wie der Rest der Gruppe gut fünfzig Schritte vor ihr war. Beim Abfeuern bewegte sie die Waffe ausreichend vom Ziel weg, um ihn nicht zwischen den Schulterblättern zu treffen, sondern den Bolzen in einen Baum neben dem Kopf des Halbdämons zu jagen, wo er zitternd steckenblieb. Der Draegloth machte einen Satz und schrie auf – jedenfalls vermutete sie das, denn hören konnte sie ihn noch immer nicht. Entscheidend war jedoch, daß er sich umdrehte, um zu sehen, was sich hinter ihm abspielte. Dabei entdeckte er die Oberflächen-Elfen, die sich von hinten anschlichen.
Im nächsten Augenblick hatte der elfische Axtkämpfer Halisstra erreicht und wirbelte seine beiden geschwungenen Klingen in einem tödlichen Muster aus funkelndem Stahl durch die Luft. Er schrie etwas, womöglich ein Kriegsgeheul. Halisstra wehrte mit ihrer feingearbeiteten Armbrust den ersten Hieb der Streitaxt ab, machte einen Satz nach hinten, um der kleineren Klinge auszuweichen, und zog dann hastig ihren Streitkolben, während sie zugleich den Schild von ihrer Schulter nahm. Der blasse Elf sprang vor, damit er wieder angreifen konnte. Die beiden umkreisten einander und ließen schnelle Hiebe auf den jeweils anderen niederregnen, die aber allesamt nicht ihr Ziel trafen.
Halisstra sah weitere grüngepanzerte Schemen durch den Wald in ihre Richtung huschen. In der Finsternis blitzten Schwerter und Speere auf. Sie verstärkte ihre Anstrengungen und drängte den Kämpfer mit den zwei Äxten in die Defensive. Sie hoffte, seine Verteidigung durchbrechen zu können, ehe sie von den übrigen Gegnern umzingelt war.
Hinter ihr auf dem Pfad blitzte ein gleißendes Leuchten auf, das den finsteren Wald mit blendender Helligkeit erfüllte. Das letzte, was sie sah, bevor das Licht ihr die Sicht nahm, war eine Gruppe von Oberflächen-Elfen und menschlichen Kriegern, die sich in das Getümmel stürzten.
Jetzt konnte Halisstra nur noch eines tun. Sie hob den Schild, um Zeit zu schinden, dann duckte sie sich, nahm eine Handvoll Schmutz und getrocknete Blätter vom Boden auf und erfüllte sie mit magischer Finsternis. Über diese Fähigkeit verfügten alle Drow. Ein kraftvoller und auch weiterhin lautloser Schlag traf ihren Schild. Rasch wich sie zurück, blieb dicht am Boden und tastete, wohin sie ging. Einige ihrer Feinde warteten zweifellos darauf, daß sie aus der undurchdringlichen Finsternis hervortrat – zumindest hätte Halisstra das an ihrer Stelle getan. Am sinnvollsten war es daher, so lange wie möglich in der Finsternis zu verharren und darauf zu hoffen, daß die Bewohner der Oberfläche über keine Magie verfügten, die angetan war, ihren Kreis aus Dunkelheit aufzuheben.
Wie jede adlige Drow, die mit dem Kämpfen bestens vertraut war, wußte auch Halisstra, wie lange die Dunkelheit um sie herum Bestand haben würde. Sie konnte die magische Schwärze für fast drei Stunden aufrechterhalten. Wenn sie lange völlig ruhig blieb, würden die Angreifer vielleicht glauben, sie sei ihnen doch irgendwie entkommen. Zumindest war sie zuversichtlich, daß ihr Zauber länger anhalten würde als der Stillezauber, der sich über die Umgebung gelegt hatte. Sobald sie wieder hören konnte, würde sie besser überlegen können, was sie als nächstes machen sollte.
Mit dem Streitkolben in der Hand tastete sie sich an einen großen Baum heran, lehnte sich einen Moment gegen den Stamm und ließ sich dann nieder, um einfach nur abzuwarten.
Nimor stand geduldig im Gang vor dem Ratssaal, ließ gezielt die Schultern hängen und setzte eine schlaffe Miene auf. Er sollte müde und erschöpft sein dürfen. In der Uniform eines Offiziers der Hauses Agrach Dyrr hatte er sich vorgeblich den Weg aus der Schlacht bei Rhazzts Dilemma freigekämpft, um die Nachricht von diesem Angriff den Muttermatronen zu überbringen. Natürlich hatte die Garnison von Agrach Dyrr den Außenposten längst an die Armee aus Gracklstugh übergeben, doch das mußten die Muttermatronen noch nicht wissen.
Es fiel ihm schwer, im angemessenen Verhältnis abgekämpft, verzweifelt und unerschrocken zugleich zu wirken, zumal sein Herz vor Begeisterung raste und sein Körper vor freudiger Erwartung kaum zu bändigen war. Seit langem gehegte Pläne wurden in die Tat umgesetzt und liefen auf ein schreckliches Ziel hinaus. Durch seine Anstrengungen war es ihm gelungen, das Schicksal gleich zweier großer Städte zu beeinflussen und zu verändern. Beide bewegten sie sich langsam, aber unausweichlich auf eine schreckliche Kollision zu, die er sich schon vor Monaten ausgemalt hatte, und mit jeder Stunde, die verstrich, nahmen die Ereignisse einen immer schnelleren Verlauf, der es ihm ermöglichte, nur hin und wieder lenkend eingreifen zu müssen. Bald würde sein Werk getan sein. Dann konnte er abtreten und sich darauf vorbereiten, die Früchte seiner Arbeit zu emten.
Um sich etwas abzulenken, während er darauf wartete, vom Rat in den Saal nebenan gerufen zu werden, betrachtete Nimor aufmerksam die Halle. Immerhin konnte niemand sagen, ob nicht eine halb vergessene Tür und ein anderer Fluchtweg den Unterschied zwischen Leben und Sterben ausmachen würde. Der sogenannte Raum der Bittsteller bildete den Eingangsbereich zum geheimen Ratssaal der Muttermatronen. Die hochwohlgeborenen Damen selbst durchschritten selten diesen Raum, da sie über diverse geheime und magische Möglichkeiten verfügten, die Strecke von ihren Palästen und Burgen nach hierher zurückzulegen. Statt dessen war der Raum der Bittsteller der Raum, in dem sich alle einfanden, die etwas mit dem Rat zu besprechen hatten und darauf warteten, von den Muttermatronen empfangen zu werden. Natürlich war der Saal fast leer.
Jeder Drow, der etwas benötigte, erbettelte es sich von einer der Muttermatronen, und das erledigte er auf behutsamste und respektvollste Art und Weise. Nur die Drow, die vor den Rat zitiert wurden, warteten in dieser Halle, und selbst in diesen Fällen hatte praktisch jeder, der herbestellt wurde, zuvor einer Muttermatrone Bericht erstattet. Für gewöhnlich war der Saal ein praktischer Ort für all jene, die für den Rat von Interesse waren. Hier hatten sie zu warten, bis sie gerufen wurden, um ihre Berichte abzuliefern, eine Bitte vorzutragen oder um einen Fall vorzutragen und ein Urteil zu hören.