Sechzehn stolze Krieger und Magier standen im Saal verteilt, zwei von jedem der Häuser, deren Muttermatronen dem Rat angehörten. Sie waren vorgeblich als Wache für den Rat aufgestellt, aber in Wahrheit verbrachten sie die meiste Zeit damit, die Männer der rivalisierenden Häuser zu beobachten, damit die keinen heimlichen Angriff starteten.
Der Boden aus poliertem schwarzen Marmor wurde von Goldadern durchzogen und schimmerte im schwachen Schein der Feenlicht-Kugeln, die hoch oben an der Decke hingen. An den Wänden erzählten große Friese die Geschichte von der Gründung Menzoberranzans.
Mehrere unbedeutende Beamte eilten durch die Halle und verbeugten sich vor allen, denen diese Form der Unterwürfigkeit entgegenzubringen war, während alle anderen, denen kein Respekt entgegengebracht werden mußte, ignoriert wurden. In seiner Uniform eines Unteroffiziers des Hauses Agrach Dyrr fiel Nimor zwischen diese beiden Kategorien.
Zu seiner großen Überraschung ließ man ihn nur vierzig Minuten warten, bis ein Haushofmeister zu ihm kam und auf die Tür wies.
»Der Rat erwartet Euren Bericht«, sagte er.
Nimor folgte ihm in den Ratssaal und verbeugte sich vor den hohen Sitzen der acht Muttermatronen. Jede von ihnen fand sich in der Begleitung von ein oder zwei Töchtern, Nichten oder anderen Lieblingen. Ein großer Torbogen zu einer Seite des Saals führte zu einer Reihe kleinerer Schreine und Räume, die an den Ratssaal angrenzten und in die die Begleiter der Muttermatronen oder die Sekretäre geschickt werden konnten, wenn Dinge zu besprechen waren, die vertraulich zu behandeln waren.
»Muttermatronen, Hauptmann Zhayemd von Hause Agrach Dyrr«, verkündete der Haushofmeister.
Nimor verbeugte sich erneut und verharrte in dieser Haltung, während er heimlich die Muttermatronen beobachtete.
Triel Baenre saß natürlich auf dem wichtigsten Platz des Rates. Sie war klein, zierlich und hübsch und wirkte viel zu jung für einen solchen Ehrenplatz, auch wenn sie natürlich Hunderte von Jahren alt war. Mez’Barris Armgo vom Haus Del’Armgo saß gleich neben ihr, dann folgte der Platz, auf dem bislang die Muttermatrone des Hauses Faen Tlabbar gesessen hatte. Nimor verkniff sich ein Lächeln, ließ jedoch seinen Blick einen Moment länger auf der jungen Frau ruhen, die nun Ghennis Platz einnahm – Vadalma, die fünfte Tochter des Hauses. Entweder hatten sich die anderen vier im Ringen um den Platz ihrer Mutter gegenseitig ausgelöscht, oder Vadalma war weitaus erfahrener als sie aussah.
Gegenüber der neuen Matrone Faen Tlabbars hatte Yasraena Dyrr ihren Platz, die anmutig und gewandt war und sich auf dem Stuhl sehr wohl zu fühlen schien, der ihr nach Auro’pols Tod zugefallen war.
»Wie ich sehe, ist mein Hauptmann eingetroffen«, sagte Yasraena zu ihresgleichen. »Willkommen. Ihr habt heute viel erduldet, doch ich fürchte, ich muß Euch noch einer weiteren Qual aussetzen, ehe Ihr Euch zur Ruhe begeben könnt. Sagt dem Rat, was Euch zu mir geführt hatte.«
»Wie Ihr wollt, verehrte Matrone«, sagte Nimor. Er sah zu den anderen hochwohlgeborenen Frauen rings um ihn und täuschte eine Spur von Angst vor. »Muttermatronen, ich komme aus der Garnison bei Rhazzts Dilemma. Wir wurden von einer großen Streitmacht aus Duergar und ihren Verbündeten angegriffen, darunter Derro, Durzagons, Riesen und viele Sklaventruppen. Wir gehen davon aus, daß wir sie allenfalls noch so lange zurückschlagen können, bis die Duergar ihre Belagerungseinheiten ins Spiel bringen.«
»Ich kenne diese Stelle«, sagte Mez’Barris Armgo. »Sie liegt drei oder vier Tagesreisen südlich der Stadt. Ist Eure Nachricht so alt? Warum haben unsere Zauberkundigen uns nicht per Magie gewarnt, statt Euch persönlich vorsprechen zu lassen?«
»Unser Magier wurde beim ersten Angriff getötet, Matrone Del’Armgo. Er hatte das Pech, eine Streife außerhalb unserer Verteidigungsanlagen anzuführen. Dabei fiel er den herannahenden Duergar zum Opfer. Als Herrin Nafyrra Dyrr – die Befehlshaberin unserer Einheit – erkannte, daß wir keine andere Möglichkeit hatten, um eine Warnung zu überbringen, schickte sie mich sofort los, um die Kunde nach Menzoberranzan zu bringen.«
»Ihr habt nur eine der von mir gestellten Fragen beantwortet, Hauptmann«, stellte die Muttermatrone des Hauses Barrison Del’Armgo fest. »Rhazzts Dilemma wurde heute morgen angegriffen, doch der Außenposten ist mehr als fünfzig Kilometer südlich von hier gelegen, was einer Reise von mehreren Tagen entspricht.«
Nimor zögerte kurz, dann sah er zu Yasraena Dyrr, als erwarte er ihre Hilfe. Die Muttermatrone nickte nur knapp.
»Ich benutzte ein unzuverlässiges Portal, um meine Reise von mehreren Tagen auf einige Stunden zu verkürzen, Matrone Del’Armgo«, sagte er. »Es liegt zwei oder drei Kilometer vom Außenposten entfernt und ist nur schwer zu entdecken, da es nur zeitweise funktioniert. Es öffnet sich in eine unbenutzte Höhle im Dunklen Reich. Mein Haus weiß seit einiger Zeit von diesem Portal, doch wir haben seiner Magie nicht genügend vertraut, so daß wir es nur im äußersten Notfall einzusetzen bereit waren.«
»Ich zweifle nicht daran, daß Barrison Del’Armgo von ähnlichen Portalen in und um die Stadt weiß«, erklärte Yasraena Dyrr. »Verzeiht, wenn wir bis heute versäumt haben, die Existenz dieses einen Portals zu erwähnen.«
»Das Portal ist unwichtig«, gab Triel Baenre zurück und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Der Hauptmann ist gekommen, um Bericht zu erstatten, nur das zählt. Sagt mir, was Ihr bei dieser Armee aus Duergar beobachten konntet.«
»Ich würde ihre Zahl auf drei- bis viertausend Duergar schätzen, dazu eine Reihe von Sklavensoldaten – vorwiegend Orks und Oger. Wir konnten beim Angriff die Banner von acht Kompanien zählen, und viele weitere bildeten ihre Reserve. Es könnten noch viele mehr sein, es sei denn, die Duergar haben bewußt versucht, uns zu täuschen, indem sie mit falschen Bannern in die Schlacht zogen.«
»Ein Überfall«, murmelte Prid’eesoth Tuin aus dem Haus Tuin’Tarl. »Man testet nur die Stärke Eures Außenpostens, Hauptmann.«
Nimor trat von einem Fuß auf den anderen und gab sich redlich Mühe, entschlossen, ernsthaft und angemessen unterwürfig dreinzublicken.
»Herrin Nafyrra ist nicht dieser Ansicht, Matrone«, gab Nimor zurück. »Wir haben bei zahlreichen Gelegenheiten Duergar-Angriffe zurückgeschlagen, doch nichts kam je dem Ansturm von heute morgen gleich. Wenn wir nicht von der gesamten Armee Gracklstughs belagert werden, dann sind wir diesem Zustand aber sehr nahe.«
»Wie stark ist Eure Garnison?« fragte Yasraena.
»Unsere Garnison zählt fast achtzig Krieger, zudem haben wir eine hervorragende Verteidigungsposition, Matrone. Wir können uns einige Tage halten, doch der Außenposten wird fallen, wenn die Duergar ihre Belagerungseinheiten aufbauen oder die richtige Art von Magie ins Spiel bringen.«
»Es würde mich nicht wundern, wenn diese Duergar-Attacke nichts weiter ist als ein besonders großer und aggressiver Überfall«, meinte Vadalma von Faen Tlabbar. »Ich bin sicher, Matrone Dyrr hat berichtet, was ihre Männer als Tatsache ansehen. Doch vielleicht sollte der Sache nachgegangen werden, ehe wir in blinder Panik reagieren. Zumindest sollte es eine Bestätigung des Berichts geben. Wenn wir dann das Ausmaß der Bedrohung beurteilen können, kann der Rat über die am besten geeigneten Gegenmaßnahmen beratschlagen.«
»Unter den meisten Umständen wäre unsere junge Schwester gut beraten, eine gründlichere Untersuchung der Situation zu empfehlen«, sagte Yasraena. Sie war gut vorbereitet worden, Nimor mußte den Blick senken, um zu verhindern, daß man sein Lächeln bemerkte. »Jedoch empfehlen meine Offiziere mir, daß wir, wenn wir die Duergar-Armee außerhalb der Stadt abfangen wollen, uns ihnen bei den Säulen des Leids stellen, die zwischen hier und Rhazzts Dilemma gelegen sind. Eine starke Truppe, die schnell entsandt wird, kann die Säulen gegen jeden denkbaren Angriff verteidigen. Doch wenn wir zu lange zögern, werden die Duergar sie vor uns erreichen. Wir würden damit einen sehr entscheidenden Vorteil verspielen. Wir sollten uns den Bericht bestätigen lassen, doch in der Zwischenzeit wäre es angeraten, daß sich unsere Soldaten aufmachen.«