Aliisza schauderte, als sie den purpurnen Wurm betrachtete.
»Das ist der größte Wurm, den ich je gesehen habe«, murmelte sie.
Der Machtsitz des Halbdämons in den Ruinen des antiken Ammarindar lag knapp vierhundert Kilometer südöstlich von Menzoberranzan, und der Dunkelsee stellte ein Hindernis auf dem Weg dorthin dar. Zum Glück waren Tanarukks schnell und stark und konnten lange Märsche mit nur wenig Proviant zurücklegen. Die Zwerge des alten Ammarindar hatten große unterirdische Verbindungswege durch ihr Reich geschlagen, breite Tunnels mit glatten Böden, die sich Kilometer um Kilometer durch die schier unendliche Dunkelheit zogen. Kaanyr empfand es als ein wenig beunruhigend, wenn er daran dachte, daß sich zwei oder drei Kilometer unter ihm der Dunkelsee befand. Dennoch war die alte Route der Zwerge der beste Weg nach Menzoberranzan. Wenn diese Strecke auch von hungrigen Monstern heimgesucht wurde, dann war das unerfreulich, doch andere Routen wiesen ihre ganz eigenen Probleme auf.
Er verdrängte seine Überlegungen und begann, zu der langen Schlange aus Kriegern zurückzugehen, die in einer recht ungeordneten Zweierreihe den Schauplatz des Kampfes passierten.
»Erzähl mir noch einmal von diesem Nimor«, forderte Kaanyr. »Ich kann Horgar Stahlschattens Motive gut nachvollziehen, diesen Angriff zu starten. Die Duergar und die Drow haben im Laufe der Jahrhunderte viele Kriege ausgetragen. Ich verstehe nur nicht, was ein Drow-Assassine davon haben sollte.«
»Nach allem, was ich weiß«, erwiderte Aliisza, »haßt er die großen Häuser von Menzoberranzan so, daß er die Stadt vernichten will, um sie zu Fall zu bringen.«
»Eine so reine Absicht ist bei einem Drow nur selten anzutreffen. Du weißt natürlich, daß er dich belogen hat.«
Kaanyr vermutete, daß Aliisza ihm so wie sonst auch etwas verschwieg, was ihre Begegnung mit Nimor anging. Immerhin war sie ein Alu-Scheusal, die Tochter eines Sukkubus, und ihre Waffen und Methoden waren offensichtlich.
»Belogen?« konterte sie. »Mich?«
»Ich betone lediglich, daß man sich vor einem Drow, der Geschenke bringt, hüten sollte«, sagte Kaanyr. »Er könnte dich davon überzeugt haben, es diene meinen Interessen, meine Armee herzuführen. Aber ich glaube nicht für die Dauer eines einzigen Herzschlags, dein mysteriöser Assassine profitiere in geringerem Maß als ich von dieser Allianz.«
»Das versteht sich von selbst«, entgegnete sie. »Wenn dir das klar ist, warum hast du dann deine Armee zu den Säulen des Leids geführt?«
Der Cambion sah, wie seine grimmig dreinblickenden Krieger vorüberzogen, doch vor seinem geistigen Auge erlebte er die finsteren Visionen, die ihn in ihren Bann geschlagen hatten.
»Wir werden uns von oben und von Osten nähern«, sagte Kaanyr Vhok. »Damit befinden wir uns in einer idealen Position, um eine Streitmacht in die Flanke zu treffen, die versucht, die Säulen gegen die herannahende Armee aus Gracklstugh zu verteidigen. Auf den ersten Blick ist das der Grund, warum Stahlschatten und sein Assassine uns dort haben wollen. Es könnte ihren Zwecken dienlich sein, wenn sie sich für einige Tage am Paß bedeckt halten und die Drow damit beschäftigen, meine Soldaten zu dezimieren, ehe sie sich daranmachen, den Paß einzunehmen. Auf der gleichen Seite eines Hindernisses zu sein wie unser Gegner bedeutet eine Verpflichtung, aber auch eine Gelegenheit. Ich würde nicht ausschließen, daß Horgar irgendeinen Vorwand vorbringt, weshalb sich seine Truppen verspäten, während meine Tanarukks die heftigsten Kämpfe austragen.«
Aliisza schmiegte sich an ihn und schnurrte: »Solange du nicht in die Schlacht ziehst, Liebster, mußt du nicht entscheiden, auf welcher Seite du stehen willst. Die Drow könnten sich als sehr dankbar erweisen, wenn du ihnen an einer kritischen Stelle des Feldzuges deine Unterstützung anbietest. Selbst wenn diese Unterstützung nur darin besteht, daß du einfach nichts unternimmst, um den Grauzwergen bei ihrem Angriff zu helfen.«
Kaanyr bleckte die spitzen Zähne zu einem ironischen Lächeln.
»Das ist wahr«, räumte er ein. »Also gut, dann werden wir sehen, was geschieht, wenn wir die Säulen des Leids erreicht haben.«
Halisstra mußte kilometerweit geknebelt und mit den Händen auf den Rücken gefesselt durch den Wald marschieren, wobei die Kapuze über ihrem Kopf verhinderte, daß sie sich orientieren konnte. Die Oberflächen-Elfen hatten ihr verletztes Bein geheilt, damit die anderen nicht ihretwegen langsamer gehen mußten. Um ihre anderen Wunden hatten sie sich nicht gekümmert. Kettenhemd und Schild waren ihr abgenommen worden, doch wenigstens durfte sie weiter ihre Jacke tragen, die sie gegen die kalte Nachtluft schützte – allerdings erst, nachdem man sie gründlich durchsucht hatte, um sicher zu sein, daß ihnen keine verborgenen Waffen oder magischen Gegenstände durchgegangen waren.
Schließlich erreichten sie einen Ort, wo der Waldboden einem Untergrund aus Stein wich. Sie hörte Flüstern und Rascheln, das von einer größeren Zahl von Personen um sie herum kam. Die Luft wurde wärmer, und der schwache Schein eines Feuers drang durch die Kapuze an ihre Augen.
»Fürst Dessaer«, sagte eine Stimme neben ihr. »Dies ist die Gefangene, von der Hurmaendyr sprach.«
»Das sehe ich. Nehmt ihr die Kapuze ab, ich will ihr Gesicht sehen«, entgegnete eine tiefe, nachdenklich klingende Stimme irgendwo vor ihr.
Man nahm ihr die Kapuze ab, und Halisstra mußte blinzeln, um trotz des hellen Lichts zu erkennen, daß sie sich in einem eleganten Saal aus glänzendem, mit einem Silberhauch überzogenen Holz befand. Blühende Ranken wanden sich um Säulen und Träger, im großen Kamin ein Stück seitlich von ihr loderte ein Feuer. Mehrere blasse Elfen beobachteten sie aufmerksam – offenbar Wachen, die silbern schimmernde Kettenhemden, Speere und an der Hüfte Schwerter trugen.
Fürst Dessaer war ein großer Halbelf mit goldenem Haar und blasser Haut, die einen leicht bronzefarbenen Hauch aufwies. Für einen Mann war er muskulös, fast so groß wie Ryld, und er trug einen Brustpanzer aus glänzendem Gold mit prachtvollen Verzierungen.
»Nehmt ihr auch den Knebel ab«, sagte der Elfenfürst. »Sonst wird sie wenig sagen können.«
»Vorsicht, Herr«, sagte der Mann neben ihr, den Halisstra als den Mann mit dem schwarzen Bart erkannte, gegen den sie im Wald gekämpft hatte. »Sie beherrscht etwas von der Kunst der Barden, und sie könnte in der Lage sein, einen Zauber zu wirken, obwohl sie gefesselt ist.«
»Ich werde alle erforderliche Vorsicht walten lassen, Curnil.« Der Fürst der Halle kam näher und blickte nachdenklich in Halisstras blutrote Augen. »Wie sollen wir dich nennen?«
Halisstra schwieg.
»Bist du eine Auzkovyn oder eine Jaelre?« fragte Dessaer.
»Ich bin nicht vom Hause Jaelre«, antwortete sie. »Das andere Haus, das Ihr genannt habt, ist mir unbekannt.«
Fürst Dessaer tauschte mit seinen Beratern besorgte Blicke aus.
»Dann gehörst du zu einer dritten Partei?«
»Ich war mit einer kleinen Gruppe unterwegs auf einer Handelsmission«, erwiderte sie. »Wir wollten keinen Streit mit den Bewohnern der Oberflächenwelt.«
»Hier begegnet man dem Wort einer Drow mit einiger Skepsis«, erklärte Dessaer. »Wenn du keine Auzkovyn oder Jaelre bist, was hast du dann in Cormanthor zu suchen?«
»Wie ich schon sagte, wir befanden uns auf einer Handelsmission«, log Halisstra.
»Sieh an«, sagte Dessaer gedehnt. »Cormanthor wurde während des Rückzugs nicht ganz aufgegeben, und meine Leute reagieren mit großem Widerstand auf die Anstrengungen der Drow, sich unsere alte Heimat einzuverleiben. Darum will ich wissen, wer genau du bist, wer deine Gefährten sind und was ihr in unserem Wald zu suchen habt.«
»Unsere Angelegenheiten gehen nur uns an«, antwortete Halisstra. »Wir wollen dem Volk an der Oberfläche keinen Schaden zufügen, und wir wollen uns wieder zurückziehen, sobald wir unsere Mission erledigt haben.«