»Dann sollte ich dir also einfach erlauben, wieder zu gehen?«
»Es würde Euch kein Schaden zugefügt, wenn Ihr das tätet.«
»Meine Krieger werden jeden Tag mit deinesgleichen in Kämpfe auf Leben und Tod verwickelt«, sagte Dessaer. »Auch wenn du sagst, du hättest mit den Jaelre und den Auzkovyn nichts zu tun, schließt das nicht aus, daß du unsere Feindin bist. Wir bitten die Drow nicht um Quartier, und wir bieten es ihnen auch nicht an. Wenn du mir nicht einen überzeugenden Grund nennen kannst, weshalb ich dein Leben verschonen sollte, werde ich dich hinrichten lassen.«
Der Herr über das Oberflächen-Volk verschränkte die Arme und starrte sie an.
»Unsere Angelegenheit betrifft das Haus Jaelre«, sagte Halisstra, die sich so gerade aufrichtete, wie es die auf den Rücken gebundenen Hände zuließen. »Sie betrifft nicht die Elfen der Oberflächenwelt. Wie schon gesagt ist meine Gruppe nicht gekommen, um mit Euch oder Euren Leuten zu streiten.«
Dessaer seufzte, dann nickte er Halisstras Bewachern zu.
»Bringt die Dame in ihre Zelle«, befahl er. »Wir wollen mal sehen, ob sie nicht etwas entgegenkommender wird, wenn sie ein wenig Zeit hatte, um über ihre Lage nachzudenken.«
Die Bewacher stülpten ihr wieder die Kapuze über und nahmen ihr die Sicht. Sie stand reglos da und ließ es ohne Protest über sich ergehen. Wenn sie bei den Männern den Eindruck erweckte, ihnen zu gehorchen, bestand die Chance, daß sie einen Fehler machten und ihr Gelegenheit gaben, sich von ihren Fesseln zu befreien.
Die Bewacher führten sie zurück nach draußen. Sie spürte die kalte Luft, und durch die Kapuze war deutlich zu sehen, daß der Morgen anbrach und es immer heller wurde. Bald würde die Sonne aufgehen und die Nacht zurückweichen. Halisstra fragte sich, ob man sie wohl in einen freistehenden Käfig sperren würde, der auf einem Platz stand, damit die Neugierigen und Mißgünstigen sie beschimpfen und quälen konnten. Statt dessen wurde sie in ein anderes Gebäude geführt, wo sie eine kurze Steintreppe hinuntergehen mußte.
Schlüssel klimperten, eine schwere Tür knarrte, und dann wurde sie hindurchgeführt. Ihre Fesseln wurden ihr abgenommen, doch schon im nächsten Moment wurden ihre Arme von groben Händen gepackt und hochgezogen, damit man sie in eiserne Handfesseln legen konnte.
»Hör zu, Drow«, sagte eine Stimme. »Du wirst auf Befehl von Fürst Dessaer von deinem Knebel und deiner Kapuze befreit. Wenn du aber versuchen solltest, einen Zauber zu wirken, dann wird man dir einen stählernen Maulkorb anlegen und eine so enge Kapuze über den Kopf ziehen, daß du um jeden Atemzug kämpfen mußt. Wir sind nicht besonders scharf darauf, Gefangene zu quälen, aber jeden Ärger, den du uns bereitest, werden wir dir dreimal so schlimm heimzahlen. Wenn wir deine Knochen brechen und deinen Kiefer zerschmettern müssen, damit du nicht auf dumme Gedanken kommst, werden wir das auch tun.«
Die Kapuze wurde ihr vom Kopf gezogen. Halisstra mußte blinzeln, da ein heißer Sonnenstrahl durch ein Gitter in einer Ecke in die Zelle fiel. Mehrere bewaffnete Wachen standen da und beobachteten sie wachsam, damit sie nicht irgendeine Dummheit machte. Sie ignorierte sie einfach und ließ sich gegen die Wand sinken. Ihre Hände wurden aneinandergekettet, die Fesseln wurden an einen Haken an der Decke gebunden.
Die Wachen ließen ihr einen halben Laib eines knusprigen, goldbraun gebackenen Brotes und einen Schlauch kalten Wassers da und verließen die Zelle. Die Tür war eine mit Nieten besetzte Eisenplatte, die von außen verschlossen und verriegelt wurde.
Was nun? fragte sie sich, den Blick starr auf die gegenüberliegende Wand gerichtet.
Nach dem wenigen zu urteilen, was sie von der Stadt an der Oberfläche zu sehen bekommen hatte, vermutete sie, ihre Kameraden könnten sie mit einer gemeinschaftlichen Anstrengung mühelos befreien.
»Als ob das geschähe«, murmelte sie.
Sie war eine Ausgestoßene ohne Haus, deren Nutzen nichts an der Tatsache änderte, daß sie als die älteste Tochter eines hohen Hauses für Quenthel die gefährlichste Rivalin in der Gruppe war. Die Herrin der Akademie würde es begrüßen, Halisstra einem wie auch immer gearteten Schicksal zu überlassen.
Wer würde Quenthel widersprechen, um sich für sie einzusetzen?
Danifae?
Sie ließ den Kopf sinken und stieß ein leises, verbittertes Lachen aus.
Ich muß wirklich verzweifelt sein, wenn ich auf Danifaes Mitgefühl hoffe, dachte sie.
Danifae, die selbst als Kriegsgefangene verschleppt worden war, würde die Situation genießen und als perfekte Ironie ansehen. Zwar ließ der Bindezauber nicht zu, daß sich Danifae gegen sie erhob, doch ohne ausdrückliche Anweisungen würde sie sich nicht veranlaßt sehen, nach Halisstra zu suchen.
Da ihr nichts anderes zu tun blieb, als die Wand anzustarren, beschloß Halisstra, die Augen zu schließen und zu ruhen. Ihre Wade, ihr Torso und der Kiefer schmerzten noch immer von den Verletzungen, die sie bei ihrer Gegenwehr davongetragen hatte. So sehr sie sich auch danach sehnte, mit einem Bae’qeshel-Lied ihre Wunden zu heilen, wagte sie es dennoch nicht. Sie mußte den Schmerz erdulden.
Mit einer einfachen geistigen Übung löste sie ihren Verstand von dem Schmerz und der Müdigkeit, die ihr Körper verspürte, und verfiel in tiefe Trance.
In Dessaers Audienzsaal sah der Halbelf seinen Soldaten nach, wie sie die Drow abführten. Gedankenversunken strich er sich über den Bart.
»Nun, Seyll«, fragte er. »Was haltet Ihr von ihr?«
Hinter einem verborgenen Wandschirm trat eine Gestalt hervor, die Rock und Jacke aus besticktem grünen Stoff trug. Es handelte sich um eine Elfe, schmal und würdevoll – und eine Drow. Ihre Haut war pechschwarz, die Iris ihrer Augen beunruhigend rot. Sie trat zu Dessaer und sah zu, wie die Soldaten die Gefangene abführten.
»Ich glaube, sie sagt die Wahrheit«, antwortete sie. »Jedenfalls ist sie keine Jaelre und keine Auzkovyn.«
»Was soll ich mit ihr machen?« überlegte der Fürst. »Sie tötete Harvaldor, und um ein Haar auch Fandar.«
»Mit Eilistraees Hilfe werde ich Harvaldor zum Leben wiedererwecken und Fandar heilen«, sagte die Drow. »Abgesehen davon: Ist es nicht so, daß Curnils Patrouille sie und ihre Begleiter attackierte, als sie sie sahen? Sie hat sich nur zur Wehr gesetzt.«
Dessaer hob eine Augenbraue und sah zu Seyll.
»Ist es Eure Absicht, ihr die Nachricht Lolths auszurichten?«
»Es ist meine Pflicht«, erwiderte Seyll. »Bis ich diese Nachricht erhielt, war ich ihr schließlich sehr ähnlich.«
Mit einer Kopfbewegung wies sie in Richtung der abgeführten Gefangenen.
»Sie ist die stolze Angehörige eines hohen Hauses«, sagte Dessaer. »Ich bezweifle, daß sie daran interessiert ist, Eilistraees Worte zu hören.« Er legte eine Hand auf die Schulter der Drow-Priesterin. »Seid vorsichtig, Seyll. Sie wird alles tun und sagen, um Euch unaufmerksam werden zu lassen. Wenn das geschieht, wird sie Euch töten, sobald Ihr zwischen ihr und der Freiheit steht.«
»Sei es, wie es sei, meine Pflicht ist eindeutig«, erklärte Seyll.
»Ich werde mein Urteil für einen Zehntag aussetzen«, sagte der Fürst von Elfenbaum. »Aber wenn sie sich weigert, sich Eure Nachricht anzuhören, muß ich handeln, um mein Volk zu beschützen.«
»Ich weiß«, sagte Seyll zurück. »Ich habe nicht vor zu versagen.«
13
Die Häuser Menzoberranzans machten mobil. Aus einem Dutzend Burgen, Palästen, Höhlen und Festen marschierten drahtige Männer in eleganten schwarzen Kettenhemden stolz in Kolonnen oder thronten hoch auf einer Flugechse, Wimpel flatterten an Lanzen. Unter normalen Umständen hätte jedes Haus Hunderte von Sklavenkriegern mehr losgeschickt, bei denen es sich um einen wilden Haufen aus Kobolden, Orks, Goblins und Ogern gehandelt hätte. Die wären in die Schlacht gezogen, ehe die kostbaren Drow-Truppen ihnen gefolgt wären, doch nach dem Aufstand der Alhoons waren bewaffnete Sklaven eher die Ausnahme. Tausende niederer Humanoiden hatten die fehlgeschlagene Revolte ebenso überlebt wie die verheerenden Gegenmaßnahmen, die sich angeschlossen hatten. Dennoch waren die Verluste unter den Kriegern der Sklavenrassen massiv gewesen. Selbst die, denen man erlaubte, sich zu ergeben, waren nicht mehr vertrauenswürdig genug, um Waffen zu tragen.