Andzrel war ein hochgewachsener, junger Mann, der eine Rüstung aus geschwärzten Mithral-Platten und darüber einen dunklen Mantel trug. Sein Wappenrock trug stolz das Emblem des Hauses Baenre, sein Blick zeugte von eiserner Disziplin, und er demonstrierte eine direkte und zielgerichtete Haltung, die für einen Drow von seinem hohen Rang eher ungewöhnlich war, egal ob Mann oder Frau.
Die Befehlshaber befolgten seinen Befehl und verließen das Zelt, um zu ihren Truppen zurückzukehren. Nimor ließ sie an sich vorbeigehen, dann näherte er sich dem Waffenmeister der Baenre und murmelte einen Zauber, den er unter der Anrede »Meister Baenre« versteckte.
»Ja«, erwiderte Andzrel, sah auf und kniff die Augen zusammen, ehe er sein Gegenüber ansah. »Ich ... ich ...«
Nimor lächelte, als er sah, wie sein Zauber bei dem Drow wirkte und als ihm klar wurde, daß Andzrel Baenre und er sehr gute Freunde werden würden.
»Ihr kennt mich, doch ich glaube nicht, daß ich Euch kenne«, sagte Andzrel. »Ihr tragt das Wappen des Hauses Agrach Dyrr.«
»Ich bin Zhayemd Dyrr, und ich befehlige die Truppe meines Hauses«, erwiderte Nimor. »Wißt Ihr etwas darüber, wann die Priesterinnen die Gnade haben, uns zu besuchen oder uns zumindest die Erlaubnis zum Aufbrechen zu erteilen?«
»Ich glaube, die Muttermatronen überlegen noch, wer von ihnen die Expedition anführen soll«, sagte Andzrel, der sich dem Anschein nach wieder gefangen hatte. »Keine von ihnen traut der anderen genug, um freiwillig die Stadt zu verlassen. Gleichzeitig meinen sie aber auch alle, nicht umhinzukommen, jemanden zu bestimmen, der auf die Männer achten soll.«
Nimor mußte lachen.
»Ihr habt ein Talent dafür, ohne Umschweife zu reden, mein Herr.« Nimor sah zu den anderen Hauptmännern und Offizieren im Pavillon, dann fügte er an: »Ich darf annehmen, Ihr habt einen Überblick, welche Häuser hergekommen sind und wie viele – und welche – Truppen sie mitgebracht haben. Die Priesterinnen werden das wissen wollen, und es wird für jeden von uns nützlich sein zu wissen, wer neben wem marschiert.«
Er konnte sich zwar auch vorstellen, diese Information zu ganz anderen Zwecken einzusetzen, doch es gab keinen Grund, diesen Punkt jetzt und hier zu erwähnen.
»Selbstverständlich«, erwiderte Andzrel. Er wies auf einen Tisch am Rand des Zeltes, an dem mehrere Baenre-Offiziere damit beschäftigt waren, Karten und Berichte zu studieren. »Ihr müßt den Männern da Eure Truppenstärke mitteilen, außerdem die Zahl der Infanteristen sowie die Zahl der berittenen Soldaten. Ferner Informationen über Eure Versorgungszüge, und danach würde ich Euch gern einige Fragen stellen, was unsere Marschroute sowie den Punkt angeht, ab dem wir mit Duergar rechnen müssen. Ich ließ mir sagen, Ihr seid mit der Region hier vertraut, außerdem mit der Mannstärke und den Taktiken der Duergar-Armee.«
Nimor zupfte an seinem Küraß und nickte ernst.
»Gewiß«, erwiderte er schließlich und nickte ernst. »Ich kenne sie gut.«
Halisstra wurde aus ihren Träumen gerissen, als sie hörte, daß die Tür zu ihrer Zelle aufgeschlossen wurde. Sie sah auf und fragte sich, ob wohl der Augenblick gekommen war, da die Bewohner der Oberflächenwelt sie der Klinge anheimfallen ließen.
»Ich habe Eurem Herrn nichts weiter zu sagen«, erklärte sie, obwohl ihr der Gedanke kam, daß es vorzuziehen war, ihre Kameraden zu verraten, statt eines qualvollen Todes zu sterben, insbesondere, wenn sie sich so die Freiheit erkaufen konnte.
»Gut«, erwiderte eine Frau. »Ich hoffe, Ihr seid bereit, mit mir zu sprechen.«
Eine schlanke Gestalt glitt durch die geöffnete Tür, die gleich hinter ihr wieder verschlossen und verriegelt wurde. Die Besucherin, die einen langen, dunklen Mantel trug, blieb stehen, um Halisstra eingehend zu betrachten, dann hob sie ihre pechschwarzen Hände und schob die Kapuze zurück, so daß ein Gesicht aus glänzendem Ebenholz und Augen so rot wie Blut zum Vorschein kamen.
»Ich bin Seyll Auzkovyn«, sagte die Drow. »Ich bin gekommen, um Euch die Botschaft meiner Herrin zu überbringen: ›Ein rechtmäßiger Platz erwartet dich in den Reichen, oben im Land des mächtigen Lichts. Komme in Frieden und lebe wieder unter der Sonne, wo Bäume und Blumen wachsen.‹«
»Eine Priesterin Eilistraees«, murmelte Halisstra. Natürlich war ihr der Kult bekannt. Die Spinnenkönigin kannte nichts anderes als Verachtung für den schwachen, idealistischen Glauben der Dunklen Maid, deren Anhänger davon träumten, Buße und Akzeptanz in der Welt an der Oberfläche zu erfahren. »Nun, ich komme in Frieden, und es scheint, als hätte ich in dieser ordentlichen kleinen Zelle meinen Platz gefunden. Ich gehe davon aus, daß jenseits der Gitterstäbe dieses Fensters wundervolle Blumen blühen, und ich bin mehr als dankbar, daß die dreimal verfluchte Sonne nicht tiefer in mein Gefängnis scheint.« Sie lachte bitter. »Irgendwie hört sich die heilige Botschaft Eurer albernen kleinen tanzenden Göttin heute ein wenig verkehrt an. Nun geht. Ich habe wichtigeres zu tun, da ich mich darauf vorbereiten muß, von dem sogenannten Herrn über diesen stinkenden Misthaufen von einem Dorf gefoltert zu werden, sobald er die Geduld mit mir verliert.«
»Ihr hört Euch an wie ich, als ich zum ersten Mal Eilistraees Botschaft vernahm«, erwiderte Seyll. Sie kam näher und setzte sich neben Halisstra. »So wie Ihr war ich eine Priesterin Lolths, die in die Gefangenschaft dieses Volkes hier an der Oberfläche geriet. Auch wenn ich nun schon einige Jahre hier lebe, empfinde ich das Licht der Sonne noch immer als grell.«
»Schmeichelt Euch nicht, Abtrünnige«, knurrte Halisstra sie an. »Ich bin in keiner Weise wie Ihr.«
»Ihr werdet Euch wundern«, fuhr Seyll fort, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. »Sind die Strafen Lolths Euch je unnötig oder überzogen vorgekommen? Habt Ihr je eine Freundschaft aufgegeben, weil Ihr gefürchtet habt, Ihr könntet verraten werden? Habt Ihr möglicherweise erlebt, wie ein Kind Eures eigenen Leibes oder Eures Herzens vernichtet wurde, weil es eine Prüfung nicht bestand, und habt Ihr Euch dann nicht eingeredet, es sei folglich ohnehin zu schwach zum Überleben gewesen? Habt Ihr Euch je gefragt, welchen Sinn die vorsätzliche und berechnende Grausamkeit hat, die unsere gesamte Rasse vergiftet?«
»Natürlich hat sie Sinn«, gab Halisstra zurück. »Wir sind zu allen Seiten von brutalen Feinden umgeben. Wenn wir nichts unternehmen, um unser Volk allzeit wachsam sein zu lassen, dann würden wir zu Sklaven werden ... nein, noch schlimmer, wir würden zu Rothé.«
»Haben Lolths Urteile Euch tatsächlich gestärkt?«
»Natürlich.«
»Dann beweist es. Nennt mir ein Beispiel.« Seyll beobachtete sie, dann beugte sie sich vor und sagte: »Ihr erinnert Euch selbstverständlich an zahllose Prüfungen und Kämpfe, doch Ihr könnt nicht beweisen, daß sie Euch gestärkt haben. Ihr wißt nicht, was geschehen wäre, hätte man Euch nicht diesen Qualen ausgesetzt.«
»Spekulation. Ich kann nicht beweisen, daß Dinge anders sein könnten als sie sind.«
Halisstra sah die Ketzerin verärgert an. Selbst unter angenehmeren Umständen hätte sie diese Unterhaltung als ärgerlich und überflüssig abgetan, doch da ihre Hände und Füße in Ketten lagen und sie gegen die kalte, harte Wand einer Zelle gepreßt war, in die ein schmerzlicher Sonnenstrahl fiel, ließen diese Worte unbändigen Zorn in ihr aufsteigen. Dennoch konnte sie sich mit wenig anderen Dingen beschäftigen, und außerdem bestand eine winzige Chance, daß eine Zurschaustellung von Begeisterung für Seylls Glauben ihr eine gewisse Linderung ihrer mißlichen Lage bescheren konnte. Lolth konnte Abtrünnige um keinen Preis tolerieren, doch so zu tun, als würde sie einen anderen Glauben akzeptieren, um so die Freiheit zurückzuerlangen ... das war genau die Art von Raffinesse, die die Spinnenkönigin bewunderte. Der Trick bestand natürlich darin, nicht allzu bereitwillig zu erscheinen, aber eben doch gerade zweiflerisch genug, daß Seyll und ihre Genossen die Hoffnung hatten, Halisstras Herz könne wirklich einen Wandel durchmachen.