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»Ist das Eure Verhörmethode?« fragte Halisstra. »Ihr leiht mir mitfühlend Euer Ohr, damit ich aus scheinbarer Freundschaft Fragen beantworte?«

»Ich muß etwas über den Grund Eurer Anwesenheit in Cormanthor erfahren, ehe Fürst Dessaer Euch in meine Obhut entläßt. Wenn Euer Grund tatsächlich so harmlos ist, wie Ihr behauptet, gibt es keine Veranlassung, Euch noch länger hier festzuhalten.«

»Mich entlassen?« Halisstra lachte leise. »Wie ich sehe, habt Ihr trotz Eurer Abkehr von Lolth nicht Euren Sinn für Grausamkeit verloren. Haben Eure Freunde von der Welt hier oben Euch gebeten, mit den Hoffnungen Eurer Gefangenen zu spielen, indem Ihr ihr die Freilassung vorgaukelt, wenn sie mit Euch zusammenarbeitet? Oder habt Ihr diese Taktik selbst vorgeschlagen? Glaubt Ihr wirklich, ein Tag in dieser verfluchten Zelle würde genügen, um mich so sehr verzweifeln zu lassen, daß ich auf ein leeres Versprechen hereinfalle?«

»Die Hoffnung, die ich Euch mache, ist kein leeres Versprechen«, sagte Seyll. »Sagt uns, was Ihr hier tut. Zeigt uns, daß Ihr keine Feindin unseres friedliebenden Volkes in Cormanthor seid. Dann werdet Ihr Eure Freiheit zurückerhalten.«

»Ihr könnt nicht erwarten, daß ich Euch das glaube.«

»Nun, ich bin hier, oder?« gab Seyll zurück. »Offenbar können doch einige von uns lernen, mit den Bewohnern der Oberflächenwelt in Frieden zusammenzuleben.«

»Ihr habt auch nichts von diesen Bewohnern zu befürchten«, erwiderte Halisstra. »Eure tanzende Göttin ist zu schwach, um ihnen gefährlich zu werden.«

»Wie ich schon sagte, war ich eine Priesterin Lolths, bevor man mich gefangennahm«, erklärte Seyll. Sie beschrieb mit den Händen eine flehende Geste, eine zeremonielle Haltung, die Halisstra bestens vertraut war. In der Sprache der Ebenen des Abgrundes, wo Lolth zu Hause war, setzte Seyll zu einem hohen, geheimen Gebet an: »Große Göttin, Mutter der Dunkelheit, gib mir das Blut meiner Feinde zu trinken und laß mich ihr lebendiges Herz verspeisen. Gib mir die Schreie ihrer Kinder für meine Gesänge, und gib mir die Hilflosigkeit ihrer Männer für meine Befriedigung, gib mir den Reichtum ihrer Häuser, damit ich gut schlafe. Mit diesem unwürdigen Opfer ehre ich dich, Königin der Spinnen, und erbitte von dir die Kraft, um meine Gegner zu vernichten.«

Die infernalischen Worte schienen vor finsterer Macht zu knistern. Jede der rauhen Silben war mit böser Energie erfüllt, die sich wie ein Gift in der Zelle ausbreitete. Seyll beschrieb mit einer Hand die Art und Weise, wie das Messer zu führen war, dann hockte sie sich wieder hin.

Sie wechselte zurück in die Sprache der Elfen und sagte mit geschlossenen Augen: »Viele unglückliche Seelen sind durch meine Klinge gestorben, doch hier konnte ich Buße tun und Frieden finden. Ob dich das auch erwartet, ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Doch ich biete mich dir als Beweis dafür an, daß du dich in diesen Ländern in Frieden bewegen kannst, wenn du das wünschst.«

Halisstra starrte Seyll an, als sehe sie sie zum ersten Mal. Sie hatte die Priesterin erneut als schwächliche Versagerin verdammen wollen, als eine Verräterin an der einen, wahren Göttin. Doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. Einzig eine Priesterin von hohem Status konnte dieses Ritual erlernt haben, und doch hatte sich Seyll von Lolth abgewandt. Aber nicht nur das – sie lebte auch noch und schien mit ihrer Entscheidung zufrieden zu sein. Natürlich war Halisstra über viele Jahre hinweg indoktriniert worden, damit sie Ketzerei und Abkehr von Lolth als die schlimmsten vorstellbaren Verbrechen ansah. Doch in all der Zeit der Aufopferung und Erniedrigung vor dem Altar Lolths war sie niemals einer echten Abtrünnigen begegnet. Sicher, sie hatte immer wieder einmal ihren Rivalinnen unterstellt, sie würden sich von Lolth abwenden, doch tatsächlich jemandem gegenüberzustehen, der wirklich diesen größten Verrat an der Göttin begangen hatte und der – bislang jedenfalls – überlebt hatte, um anderen davon zu berichten ...

»Ich möchte Euch zu etwas herausfordern«, sagte Seyll. »Ich glaube, Ihr habt dafür die nötige Intelligenz und Phantasie, aber das werden wir schon sehen. Stellt Euch für einen Moment vor, Ihr könntet an einem Ort leben, an dem es Euch möglich wäre, durch die Straße zu gehen, ohne Angst zu haben, ein Assassine könnte Euch einen Dolch in den Rücken jagen. Stellt Euch vor, Eure Freunde – echte Freunde – wollen von Euch nichts weiter als Eure Gesellschaft, Eure Schwestern loben Euch für Eure Leistungen, anstatt Euch Euren Erfolg abzusprechen, und Eure Kinder werden nicht ermordet, weil sie ohne eigene Schuld versagt haben. Stellt Euch vor, Euer Geliebter liebt Euch Euretwegen, nicht wegen Eures Status oder Eures Einflusses. Stellt Euch vor, Eure Göttin will mit Euch Eure Freude feiern, nicht Eure Angst.«

»Es gibt keinen solchen –«

»Ihr antwortet zu schnell. Ich bat Euch, Euch das vorzustellen, wenn Ihr könnt«, sagte Seyll. Sie stand auf und entfernte sich, wobei sie Halisstra den Rücken zuwandte. »Ich werde warten.«

»Ich kann mir solchen Unsinn nicht vorstellen. Es ist eine leere Phantasie, die nichts bedeutet. Wir sind dafür nicht bestimmt; niemand ist das, weder Drow noch Lichtelfen, nicht einmal die banalen Menschen. Nur ein Narr lebt in Träumen.«

»Aber wäre es nicht dennoch angenehm?« fragte Seyll über die Schulter nach hinten. »Ihr müßt ständig unmögliche Träume haben. Jedes denkende Wesen hat sie. Vielleicht habt Ihr davon geträumt, Macht über Eure Feinde zu haben. Oder Ihr habt von einem unerreichbaren Liebhaber geträumt. Oder davon, den Status zu erlangen, der Eurer gerecht wird.«

Halisstra schnaubte gereizt und zerrte an ihren Fesseln.

»Wenn Ihr Euch vorstellen könnt, all Eure Feinde auf einen Schlag zu vernichten, dann könnt Ihr Euch auch vorstellen«, bohrte Seyll nach, »daß Ihr treue Freunde habt und daß eine Göttin sich mit Eurer Loyalität zufriedengibt und nicht noch Opfer verlangt.«

»Alle Götter verlangen Opfer. Ihr macht Euch etwas vor, wenn Ihr glaubt, Eilistraee sei anders. Vielleicht ist Eurer Wille einfach nur zu schwach, um zu verstehen, wie Ihr an sie gebunden seid.« Halisstra sah weg und fügte hinzu: »Ihr habt es geschafft, mich zu langweilen. Ihr dürft gehen.«

Die Priesterin schritt zur Tür und klopfte auf das rostige Eisen, während sie sich wieder Halisstra zuwandte. »Was, wenn ich Euch zeigen kann, daß Ihr irrt?« fragte sie leise. »Morgen nacht tanzen wir im Wald zu Eilistraees Freude. Ich werde Euch hinbringen, dann könnt Ihr mit eigenen Augen sehen, was unsere Göttin von uns verlangt.«

»Ich werde das nicht mitmachen«, herrschte Halisstra, die inzwischen so verärgert war, daß sie völlig vergessen hatte, eine Wendung hin zum Glauben der Bewohner der Oberfläche vorzutäuschen.

»Ist Euer Glaube an Lolth so schwach, daß Ihr es nicht ertragen könnt, uns tanzen zu sehen?« fragte Seyll. »Hört es Euch an, seht es Euch an, und dann fällt Euer Urteil. Mehr verlange ich nicht von Euch.«

Der nicht abreißende schwarze Luftstrom, der durch die vertikalen Straßen des in Ruinen liegenden Chaulssin fegte, begrüßte Nimors Rückkehr mit einem Sperrfeuer aus heftigen Windstößen, die solche Kraft besaßen, daß er einen Moment lang ringen mußte, um nicht umgerissen zu werden. Sein weißes Haar peitschte wie ein wirrer Heiligenschein um seinen Kopf, und die Gesalbte Klinge blieb einen Augenblick stehen, bis die Böe vorüber war.

Er konnte nicht lange in der Stadt der Wyrmschatten bleiben, schon gar nicht, wenn die Armee Menzoberranzans marschierte und das Kontingent von Agrach Dyrr mit ihr unterwegs war. Doch andererseits war er auch nicht so in Eile, daß er nicht für einen kurzen Moment in der verborgenen Zitadelle seines geheimen Hauses hätte verweilen können. Nimor Imphraezl war immerhin Prinz von Chaulssin, und die großartige Ruine war sein Reich. Er war hier nicht geboren, und er hatte in der von Schatten heimgesuchten Stadt auch nicht die Jahre seiner Kindheit verbracht. Dieser Ort war für ein Kind viel zu gefährlich, darum brachten die Jaezred Chaulssin ihre Prinzen in einem Dutzend niederer Häuser in vielen Städten im Unterreich unter. Als Nimor aber erwachsen geworden war und sein uraltes Erbe angetreten hatte, hatte er die stürmische Ruine als seinen Palast angesehen.