So oder so würde sich für sie die Gelegenheit ergeben, die Stadt und den sie umgebenden Wald etwas genauer auszukundschaften, was wichtig sein konnte, wenn sie irgendwann später einen Fluchtversuch unternehmen würde, und diese Chance konnte sich jederzeit ergeben.
»Nun gut«, lenkte sie ein.
Seyll nahm Halisstra die Fesseln ab und half der Melarn-Priesterin in die Winterkleidung und den Mantel, den sie ihr mitgebracht hatte. Dann band sie eine feste silberne Schnur um Halisstras Hände, anschließend machte sich die kleine Gruppe durch die Verliese des Palastes auf in eine kalte, regnerische Nacht.
Elfenbaum war weder eine richtige Stadt noch ein Außenposten oder ein Lager, sondern etwas, das sich zwischen all diesen Kategorien bewegte. Eingestürzte Mauern aus weißem Stein durchzogen die Siedlung und ließen erkennen, wo sich die alten Wälle und ausladenden Plätze einer recht großen Stadt an der Oberfläche befunden hatten, doch das meiste war im Laufe vieler Jahre völlig zerfallen. Viele der ursprünglichen Gebäude waren nur noch leere Hüllen, andere dagegen schienen von den gegenwärtigen Bewohnern der Stadt übernommen worden zu sein. Sie hatten die Außenmauern mit Holz oder Zeltplanen überzogen und aus den einst stolzen alten Bauwerken bescheidene und vorübergehende Behausungen für die Waldbewohner gemacht. Große, knorrige Bäume erhoben sich aus dem aufgerissenen Pflaster uralter Burghöfe, viele Gebäude hatten ihren Platz ein deutliches Stück über dem Boden in den gewaltigen Ästen und waren durch leicht schwankende Stege aus silbernem Seil und weißen Planken miteinander verbunden. Eine Handvoll Gebäude der Stadt befand sich noch weitestgehend im Originalzustand.
Halisstra erkannte, daß man sie unter einem alten Wachturm gefangengehalten hatte. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes erhob sich zwischen den Bäumen ein eleganter Palast, der vom schwachen Schein hunderter Laternen beleuchtet wurde. Sie vermutete, daß es sich um Fürst Dessaers Palast handelte. Aus der Ferne erklangen Gesänge und Gelächter.
Die Priesterinnen Eilistraees führten Halisstra über einen alten Boulevard, auf dem sie bald die Stadt verlassen hatten und in den dunklen, verregneten Wald gelangten. Eine Zeitlang marschierten sie schweigend durch die Nacht, die einzigen Geräusche waren ihre leisen Schritte auf dem Waldboden und das ständige Prasseln des Regens, das nach einer Weile tatsächlich nachzulassen begann. Die Wolkendecke riß stellenweise auf und ließ hin und wieder einen Stern am Nachthimmel blinken.
Halisstra hatte die Oberflächenwelt bislang ausgehalten, auch wenn sie allzugern auf vieles davon verzichtet hätte. Doch sie lenkte sich ab, indem sie heimlich an den Knoten des Seils nestelte, das ihre Hände band, während sie gleichzeitig ihre Begleiterinnen im Auge behielt und hoffte, sie würden in ihrer Wachsamkeit endlich ein wenig nachlassen. Xarra, die Drow, ging voran, Feliane bildete die Nachhut, während Seyll dicht bei Halisstra blieb, auch wenn sie manchmal ein paar Schritte schneller war oder sich zurückfallen ließ.
»Wohin bringt Ihr mich?« fragte Halisstra nach einiger Zeit, da der Marsch noch immer kein Ende nahm.
»An einen Ort, den wir den tanzenden Stein nennen«, antwortete Seyll. »Es ist für Eilistraee ein heiliger Ort.«
»Der Wald sieht für mich immer gleich aus«, sagte Halisstra. »Wie könnt Ihr einen Teil vom anderen unterscheiden?«
»Wir kennen diesen Weg gut«, erwiderte Seyll. »Übrigens sind wir nicht allzuweit von der Stelle entfernt, an der wir Euch und Euren Gefährten zum ersten Mal begegneten. Sie haben Euch im Stich gelassen, und seit jener Nacht sahen wir sie auch nicht wieder.«
Halisstra trank einen Schluck, um das Lächeln zu verbergen, das über ihre Miene huschte. Die abtrünnige Priesterin hatte einen Fehler gemacht und es nicht einmal gemerkt. Wenn sie nicht weit von dem Gebiet entfernt war, in dem man sie gefaßt hatte, dann sprach einiges dafür, daß sie von dort aus den Anweisungen aus Pharauns Vision folgen konnte und Chancen hatte, die Jaelre-Drow ausfindig zu machen. Egal, was sie in dieser Nacht noch bewerkstelligte – es war schon jetzt lohnenswert gewesen, sich auf diesen Ausflug einzulassen.
Sie erreichten einen tosenden Fluß, in dessen Bett zahlreiche große Findlinge verstreut lagen. Xarra überquerte ihn zuerst, wobei sie leichtfüßig von Stein zu Stein sprang und am anderen Ufer weiter durch den Wald ging. Seyll folgte ihr, da sie einige Schritte vor Halisstra ging, den Blick auf den trügerischen Pfad gerichtet. Halisstra wollte ihr folgen. Das Wasserrauschen war laut, obwohl der Fluß recht seicht und schmal war. Der Mond verschwand hinter den Wolken und tauchte den Wald in Finsternis.
Halisstra witterte ihre Gelegenheit.
Sie sprang auf den ersten, dann auf den zweiten Stein im Wasser und blieb abrupt stehen, als wäge sie den nächsten Schritt ab. Anstatt aber schließlich weiterzugehen, stimmte sie mit tiefer Stimme ein Bae’qeshel-Lied an, das vom Rauschen des Stroms übertönt wurde. Seyll ging ungerührt weiter, die Elfe Feliane hinter Halisstra blieb stehen und wartete, daß sie den Fluß überquerte.
Es war schwierig, da ihre Hände gefesselt waren – wenngleich auch nur locker –, doch die Macht des Zaubers lag in Halisstras Stimme, nicht in ihren Händen. Just als Feliane die Geduld verlor und herzusprang, um ihr zu helfen, wandte sich Halisstra um und richtete ihre roten Augen auf das blasse Gesicht des Mädchens.
»Angardh xorr – feleal«, zischte sie. »Feliane, würdet Ihr Euer Schwert ziehen und mich von diesen lästigen Fesseln befreien? Ich fürchte, ich könnte sonst falsch auftreten und fallen.«
Der Zauber hatte die junge Priesterin mühelos in seinen Bann geschlagen. Mit ausdrucksloser Miene zog sie blank.
»Natürlich«, murmelte die Elfe geistesabwesend.
Vorsichtig zog sie den Stahl über die Schnur um Halisstras Handgelenke und durchtrennte sie. Halisstra sah über die Schulter zu Seyll und achtete darauf, daß sie mit ihrem Körper verdeckte, was Feliane tat.
»Stimmt etwas nicht?« rief Seyll.
»Antwortet nicht«, flüsterte Halisstra. Sie hielt die Hände so zusammen, als sei sie noch immer gefesselt, und drehte sich zu der Priesterin um. »Augenblick!« rief sie. »Ich bin mit gefesselten Händen nicht so sicher auf den Beinen. Der nächste Fels wirkt etwas rutschig.«
Seyll sah auf den Strom, dann kam sie zurück und sprang von einem Stein zum anderen, bis sie bei Halisstra und Feliane war. Halisstra drehte sich um und sah zu Feliane, die hinter ihr stand und ihr Schwert gezückt hielt.
»Feliane«, säuselte sie. »Darf ich mir einen Augenblick Euer Schwert ausleihen?«
Die Frau runzelte kurz die Stirn, da sie womöglich tief in ihrem von dem Zauber umnebelten Verstand erkannte, daß etwas nicht stimmte, dennoch übergab sie das Heft ihres Schwerts an Halisstra. Die nahm die Klinge, wobei sie wieder so stand, daß Seyll nichts sehen konnte.
»Hier«, sagte Seyll. Die Priesterin Eilistraees war auf dem nächsten Findling angekommen und streckte eine Hand aus. »Faßt meinen Arm, dann kann ich Euch stützen.«
Halisstra wirbelte mit der Schnelligkeit einer Katze herum und bohrte Felianes Schwert unterhalb Seylls ausgestrecktem Arm tief in deren Körper. Die Priesterin schnappte entsetzt nach Luft und brach sofort zusammen. Sie verlor den Halt und fiel von dem moosbedeckten Felsblock in den kalten Strom, bis sie an den Stein gelehnt bis zur Hüfte im strömenden Wasser saß.
Halisstra zog das Schwert zurück und wandte sich wieder Feliane zu, die sie einfach fassungslos anstarrte.
»Seyll ist verletzt«, fuhr Halisstra sie an. »Lauft nach Elfenbaum, um Hilfe zu holen! Los!«
Die blasse Elfe brachte nur ein hastiges Nicken zustande, dann machte sie kehrt und rannte los. Halisstra sprang weiter von Stein zu Stein ans andere Ufer und eilte den Pfad entlang. Xarra, die jüngere Drow-Priesterin, tauchte aus dem Wald am Flußufer auf, um nachzusehen, wodurch die anderen aufgehalten wurden. Es war bemerkenswert, wie schnell Xarra die Lage erfaßte, da sie nur einen Blick brauchte, um die Armbrust zu heben und zu zielen.