Halisstra machte einen Satz zur Seite und drehte sich gleichzeitig, so daß Xarras Geschoß sie verfehlte, wenn auch so knapp, daß sie spürte, wie der Pfeil über ihren Mantel glitt.
»Du hast mich verfehlt«, knurrte Halisstra.
Xarra warf die Armbrust weg und griff nach dem Schwert, doch noch bevor sie die Klinge überhaupt aus der Scheide hatte ziehen können, war sie bereits tot, da Halisstra ihr die Kehle zerfetzt hatte. Die richtete sich auf und betrachtete mit rasendem Herz die Leiche. Neben ihr rauschte der Strom unverändert laut, die Luft roch nach Regen und nassem Laub.
Was nun? überlegte sie.
Ihr geliebtes Kettenhemd, der Streitkolben und die Armbrust waren allesamt in Elfenbaum in Fürst Dessaers Hand, und so sehr sie ihr Hab und Gut auch wieder an sich nehmen wollte, war es unwahrscheinlich, daß ihr das ohne die Unterstützung der Menzoberranzanyr gelingen würde. Das beste würde sein, sich so gut wie möglich zu bewaffnen, Seylls und Xarras Proviant an sich zu nehmen und sich dann auf die Suche nach den Jaelre zu machen. Mit ein wenig Glück würde sie sie finden, ehe Dessaers Leute sie eingeholt hatten.
Halisstra schob sich das Schwert unter den Gürtel und wagte sich wieder in den Fluß hinaus, um nachzusehen, ob Seyll etwas Nützliches bei sich trug. Sie sprang in den kalten Fluß und trat neben die Priesterin Eilistraees, hob sie hoch und legte sie zurück auf den Findling, um sich ihre Ausrüstung besser ansehen zu können. Die Rüstung war eindeutig magisch, und das galt auch für den Schild über ihrer Schulter und das Schwert an ihrem Gürtel. Halisstra öffnete das Kettenhemd, entschlossen, es Seyll auszuziehen.
Seylls Augen flackerten, sie stöhnte leise: »Halisstra ...«
Halisstra wich erschrocken zurück und kam sich schäbig vor, jemanden seiner Habseligkeiten zu berauben, der noch gar nicht wirklich tot war. Sie sah nach unten und betrachtete ein Blutrinnsal, das aus Seylls Wunde ins schäumende Wasser des Flusses lief. Der Atem der Priesterin klang feucht und flach, helle Blutspritzer waren auf ihren Lippen zu sehen.
»Ich hoffe, Ihr werdet mir vergeben, aber ich brauche Eure Waffen und Eure Rüstung. Ihr werdet bald tot sein«, fügte Halisstra an. »Ich habe mich entschlossen, Eure großzügige Einladung auszuschlagen, heute nacht Eure Beobachterin zu sein, da ich anderswo etwas Wichtigeres zu tun habe.«
»Die ... anderen?« keuchte Seyll.
»Xarra war so nett, schnell und ohne sperrige Konversation zu sterben. Das Mädchen von der Oberfläche habe ich bezaubert und in den Wald geschickt.«
Halisstra öffnete Seylls Schwertgurt und zog ihn ihr ab, dann legte sie ihn weit außerhalb der Reichweite der sterbenden Drow. Anschließend widmete sie sich den Verschlüssen der Rüstung.
»Ich bewundere zwar Eure Entschlossenheit, mich vor mir selbst zu retten, Seyll, doch ich kann nicht glauben, daß Ihr dies nicht als einen wahrscheinlichen Ausgang Eurer Bekehrungsversuche erkannt habt.«
»Ein Risiko, ... das einzugehen ... wir alle bereit sind«, brachte Seyll heraus. »Niemand ist unrettbar.« Sie murmelte noch etwas und versuchte, Halisstra zu stoppen, doch die Melarn-Priesterin schlug einfach ihre Hände weg.
»Ein unnötiges Risiko. Lolth hat Euch durch meine Hand für Eure Untreue bestraft«, sagte Halisstra. Sie zog Seyll die Stiefel aus und öffnete die Verschlüsse ihrer Beinkleider. »Sagt, war es das wert, den Weg zu gehen, den Ihr gingt, um nun eines kalten und sinnlosen Todes in diesem schrecklichen Wald zu sterben?«
Zu Halisstras Überraschung fand Seyll tatsächlich noch die Kraft zu lächeln.
»Ob es das wert war? Bei ... bei meiner Seele, ja.« Sie ließ den Kopf in den Nacken sinken und sah Halisstra ins Gesicht. »Ich ... habe noch Hoffnung für Euch«, flüsterte sie. »Sorgt Euch ... nicht ... um mich. Mir ... wird ... vergeben.«
Ihre Augen schlossen sich ein letztes Mal, und der rasselnde Atem stoppte.
Halisstra hielt einen Moment inne. Sie hatte Zorn und Ablehnung, vielleicht sogar Angst oder Schmähung erwartet ... aber Vergebung? Welche Macht besaß die Dunkle Maid über die, die sie anbeteten, daß die selbst im Tod noch einen Segen für ihren Feind hatten?
Seyll hat sich von Lolth abgewandt, sagte sie sich, und durch mich hat die Spinnenkönigin Rache geübt. Dennoch starb Seyll ruhig und gelassen, als sei sie mit dem Ende Ihres Lebens für immer Lolth entkommen.
»Möge die Spinnenkönigin sich Eurer Seele annehmen«, sprach sie zu der toten Priesterin, doch sie zweifelte daran, daß Lolth das tun würde.
»Ein rascher Vorstoß ist für uns der sicherste Weg zum Sieg«, sagte Andzrel Baenre, der zu den versammelten Priesterinnen sprach.
Nimor stand ein Stück neben ihm und beobachtete den Waffenmeister der Baenre, einer von einer Handvoll Männer, die eingeladen worden waren, um sich mit den versammelten Frauen zu beraten. Alle großen sowie stolze sechzehn kleinere Häuser waren in der überhastet zusammengestellten Armee der Schwarzen Spinne vertreten, die ihren Namen dem Banner verdankte, unter dem sie marschierte. Fast dreißig Hohepriesterinnen – mindestens eine von fast jedem Haus, dazu mehrere von ein und demselben Haus – waren im großen Kommandopavillon versammelt, den die Baenre zur Verfügung gestellt hatte. Jede von ihnen belauerte Andzrel wie eine Wildkatze, während sie je nach Rang lagen, saßen oder standen. Solange auch nur eine Hohepriesterin stehen mußte, war es einem Mann verboten, sich zu setzen.
»Wir führen rund viertausend Drow-Soldaten und zweitausendfünfhundert Sklaven-Soldaten in die Schlacht. Allen Berichten zufolge dürften wir es daher in der Stärke mit der Duergar-Armee aufnehmen können, die sich von Süden nähert, aber es ist natürlich nicht unsere Absicht, den Duergar in einem fairen Kampf zu begegnen.« Das Wort »fair« sorgte für herzhafte Lacher. Andzrel bediente sich eines schmalen Stocks, um die Aufmerksamkeit auf eine Karte zu lenken, die mit Tinte auf Rothé-Fell gezeichnet worden war. »Wir können eine Armee aufhalten, die deutlich größer ist als unsere, indem wir den Ort auswählen, an dem wir uns ihr entgegenstellen werden. Der Punkt, an dem wir den Duergar-Vormarsch stoppen werden, sind die Säulen des Leids.«
»Vorausgesetzt, ich entscheide, daß Euer Plan aussichtsreich ist, meint Ihr«, sagte Mez’Barris Armgo vom Haus Barrison Del’Armgo gedehnt. »Triel Baenre mag Eurem Urteil trauen, aber ich denke lieber für mich selbst.«
Die Muttermatrone des Zweiten Hauses war eine große, starke Frau, und als hochrangigste Priesterin hatte sie damit praktisch das Kommando über die gesamte Truppe. Jedes Haus hatte einige Priesterinnen beigesteuert, die im Kampf den Befehl über ihre Kontingente führten und die von nicht reinblütigen Akolyten über Erste Töchter bis hin zu Muttermatronen reichten. Waffenmeister wie Andzrel und andere Männer – darunter Nimor in seiner Rolle als Zhayemd Dyrr – befehligten Trupps, Kompanien und Schwadronen und nahmen sich der unendlich zahlreichen kleinen Dinge an, die notwendig waren, um die Armee von Menzoberranzan zu organisieren.
»Mein Vetter vertritt die Ansichten des Hauses Baenre, Matrone Mez’Barris«, krächzte Zal’therra Baenre. »Matrone Triel unterstützt den Schlachtplan des Waffenmeisters.«
Als oberste von Triel Baenres Basen sah Zal’therra der zierlichen Muttermatrone des Hauses Baenre nicht ähnlich. Sie war groß und breitschultrig, eine stämmige Frau mit einem bemerkenswerten Maß an körperlicher Kraft und einem schroffen, einschüchternden Auftreten. Sie und Mez’Barris waren einander körperlich durchaus ähnlich, doch die Muttermatrone des Hauses Del’Armgo verfügte über eine brillante, gehässige Verschlagenheit, die in der Baenre-Priesterin kein Pendant fand. Mez’Barris hatte ihre roten Augen auf die jüngere Frau gerichtet, erwiderte aber nichts.
Andzrel wußte, daß er den Mund zu halten hatten, wenn zwei Frauen stritten. Er wartete ab, bis einen Moment lang Stille herrschte, dann fuhr er fort.