»Hier liegt Rhazzts Dilemma«, sagte er, »von wo Hauptmann Zhayemd von Agrach Dyrr gestern morgen die Duergar-Vorhut meldete. Es liegt etwa vierzig Kilometer südlich der Säulen des Leids, am unteren Ende der Schlucht. Im schlimmsten Fall müssen wir damit rechnen, daß die Duergar den Außenposten stürmen und sich später am heutigen Tag dort Zutritt zu verschaffen versuchen. Mit etwas Glück wird es morgen dazu kommen. Duergar sind ausdauernde Soldaten, die den ganzen Tag marschieren können. Allerdings sind sie langsam, außerdem wird ihre Armee durch einen langen Versorgungszug und schwere Belagerungsmaschinen zu einem noch langsameren Tempo gezwungen. Der Aufstieg aus der Schlucht wird schwierig. Es scheint, als könnten sie schlimmstenfalls in fünf Tagen die Säulen erreichen, vermutlich aber erst in sieben oder acht Tagen.«
»Woher wissen wir, daß die Duergar den Außenposten nicht schon überrannt haben?« warf eine Priesterin von Tuin’Tarl ein.
»Das wissen wir nicht, Herrin. Die Magier und Kleriker der Duergar stören unsere Versuche, die nähere Umgebung auszuspähen, was bei einer solchen Kriegsführung eine übliche Taktik darstellt.« Andzrel nickte Nimor zu und fügte an: »Darum ist es so wichtig, einen Trupp guter Späher zusammenzustellen, damit wir mit weltlichen Mitteln herausfinden können, was unseren Magiern versagt bleibt. Zhayemd von Agrach Dyrr hat den Befehl über die Aufklärer.«
Andzrel wartete einen Moment, um zu sehen, ob eine der Priesterinnen noch etwas wissen wollte, dann fuhr er fort: »Auf jeden Fall reist unsere Armee schneller als die der Grauzwerge, außerdem ist unser Weg viel leichter zu bewältigen. Ich gehe davon aus, daß wir die Säulen des Leids in drei bis vier Tagen erreicht haben werden. Wenn wir den oberen Ausgang aus der Schlucht kontrollieren, werden die Duergar nie unsere Verteidigung durchbrechen können. Wie Ihr seht, ist das ganze eine Art Wettlauf, darum sollten wir so schnell wie möglich vorrücken.«
»Welchen Plan habt Ihr für die Schlacht, Zal’therra?« fragte eine andere Priesterin, bei der es sich um die Herrin des Hauses Xorlarrin handelte.
Nimor lächelte angesichts der Bemerkung. Zal’therra war eindeutig von Triel instruiert worden, sich auf die Ratschläge des Waffenmeisters ihres Hauses zu verlassen, was die Planung der Schlacht betraf, doch die Hohepriesterin redete natürlich, als sei Andzrel gar nicht anwesend.
»Andzrel wird den Plan vorstellen«, erwiderte die Baenre-Priesterin, als hätte sie soeben jede Einzelheit erklärt und überlasse es nun ihm, den anderen ihre Genialität zu beweisen.
Wenn der Waffenmeister das bemerkt hatte, ließ er es sich zumindest nicht anmerken.
»Wir richten eine starke und gut verankerte Linie quer über die Öffnung der Schlucht ein. Ein paar hundert Mann sollten dafür ausreichen, doch wir stellen tausend auf. Die übrigen Soldaten bleiben als Reserve zurück, um zudem in der näheren Umgebung kleinere Gänge und umliegende Höhlen zu sichern.« Andzrel legte seinen Stock weg und wandte sich den Priesterinnen zu. Sein Gesicht war ausdruckslos, doch in seinen Augen funkelte es entschlossen. »Mein Plan ist es, die Duergar bis zu uns vorrücken zu lassen, um sie dann zwischen den Säulen des Leids zu zerschlagen. Wenn sie sich an uns aufgerieben haben, werden wir sie in die Schlucht zurückjagen und sie und ihre Helfer in Stücke hauen.«
»Was, wenn die Duergar gar nicht bei den Säulen den Kampf suchen?« fragte Mez’Barris direkt an Andzrel gerichtet.
»Die Duergar fallen in unser Land ein, Muttermatrone, also sind sie es, die handeln müssen. Wenn sie sich entschließen, sich nicht bis zu den Säulen vorzuwagen, werden wir den längeren Atem haben. Unsere Nachschubwege sind kürzer als ihre. Nach wenigen Tagen bleibt ihnen keine andere Wahl, als zwischen Vormarsch und Rückzug zu entscheiden.«
Mez’Barris betrachtete die Karte und dachte über Andzrels Antwort nach.
»Nun gut«, sagte sie. »Ich will sehen, wie schnell wir den Punkt erreichen können, der Euch vorschwebt. Marschiert pro Tag zwei Stunden länger. Wenn wir die Säulen des Leids in drei Tagen erreichen, sollte uns genug Zeit bleiben, um uns auszuruhen. Ich will, daß die schnellsten unserer Truppen zu den Säulen vorstoßen, nur um sicherzugehen. Es gibt keinen Grund, warum wir nicht in eineinhalb Tagen einige hundert Späher an dieser Schlucht haben sollten. Wenn Ihr uns nun entschuldigt, ich will mit meinen Priesterinnenschwestern diskutieren, wie wir im kommenden Konflikt unsere Talente am besten einsetzen können.«
Andzrel deutete eine Verbeugung an und zog sich zurück. Nimor ging neben dem Waffenmeister her, als sie von einer Handvoll weiterer Offiziere begleitet den schwarzen Pavillon verließen. Das Zelt stand in einem weiten, runden Tunnel, der mit Soldaten und Packechsen überfüllt war. Ein Banner stand neben dem anderen, die Truppen erstreckten sich so weit, wie man in dem Tunnel sehen konnte.
»Zhayemd«, sagte Andzrel. »Ich will, daß Ihr das Kommando über unsere Vorhut übernehmt, so wie es Muttermatrone Del’Armgo vorgeschlagen hat. Nehmt Eure Kavallerie aus Agrach Dyrr und bewegt Euch morgen und übermorgen so schnell vorwärts, wie Ihr könnt. Unser Mangel an Informationen über diese Duergar macht mich nervös. Ich lasse Euch von einigen anderen Reitern begleiten, damit Ihr über eine schlagkräftige Truppe verfügt, die notfalls den Paß verteidigen kann.«
»Ich muß mich mit unserer Hohepriesterin besprechen«, erwiderte Nimor, auch wenn er nicht die Absicht hatte, das zu tun. Der Waffenmeister, der immer noch unter dem mächtigen, dauerhaften Zauber Nitnors stand, würde ihm dennoch vertrauen. »Ich glaube allerdings, daß sie den Vorschlag mittragen wird.«
»Gut«, erwiderte Andzrel, als sie das Baenre-Lager erreichten. Er schlug Nimor auf die Schulter. »Wenn Ihr die Duergar irgendwo entdeckt, wo sie nicht hingehören, meldet es mir. Ich will nicht, daß Ihr irgendwelche Dummheiten macht. Ihr seid die Augen unserer Armee.«
Nimor lächelte und sagte: »Keine Sorge. Ich werde nichts dem Zufall überlassen.«
Jezz der Lahme kauerte ein wenig schief im Schatten einer eingestürzten Mauer und sah über einen kleinen Platz zu einem großen runden Turm, der nur einen Steinwurf weit entfernt war.
»Da«, sagte er. »Der Turm des Betrachters. Eine kurze Treppe führt hinauf zu der Tür, von der wir beim letzten Mal herausfinden konnten, daß sie nicht abgeschlossen, aber mit tödlichen magischen Fallen gesichert ist. Im oberen Teil seht ihr mehrere kleine Fenster, die möglicherweise groß genug sind, daß ein kleiner Drow sich hindurchzwängen kann. Das haben wir noch nicht versucht.«
Ryld, der hinter dem Jaelre kauerte, beugte sich vor, um sich selbst ein Bild zu machen. Der Turm sah weitestgehend so aus, wie Jezz ihn beschrieben hatte, und war von den Ruinen Myth Drannors umgeben. Nachdem sie mit Pharauns Magie die Reise zur alten Elfenhauptstadt schneller bewältigt und dann einige Stunden Rast gemacht hatten, um sich vorzubereiten, war die Gruppe den größten Teil der Nacht damit befaßt gewesen, sich durch die Ruinen zu kämpfen.
Myth Drannor war kaum mehr als ein großes Trümmerfeld weißen von Bäumen und Ranken überwucherten Steins, doch einst war es mehr gewesen. Es war wohl nie so ausladend wie Menzoberranzan oder so infernalisch pompös wie Ched Nasad gewesen, doch seine Eleganz und Schönheit konnten es mit den prachtvollsten Beispielen der Drow-Architektur aufnehmen, wenn nicht gar sie ausstechen.
Ryld warf einen behutsamen Blick zu den Hausdächern.
»Keine Anzeichen für Teufel«, sagte er. »Vielleicht haben wir genug von ihnen getötet, daß sie nun entschieden haben, uns in Ruhe zu lassen.«
»Unwahrscheinlich«, schnaubte Jezz. »Sie haben sich zurückgezogen, um den nächsten Angriff zu organisieren. Sie warten auf die Ankunft mächtigerer Scheusale, ehe sie es wieder versuchen.«
»Dann sollten wir die Pause nutzen, um das zu tun, weshalb wir hergekommen sind«, meinte Quenthel, die ebenfalls nach vorn kam, um den Turm zu betrachten. »Ich sehe nichts, was mich zu einer Änderung unseres Plans veranlassen sollte. Wirkt Euren Zauber.«