Der Betrachter hat sich auf die nächste unbeschädigte Etage zurückgezogen, bedeutete Valas. Wir müssen uns hinaufbegeben, wenn wir ihn zu packen bekommen wollen.
Ryld studierte aufmerksam die Innenwände der Turmruine. Es fehlten vielleicht vier der unteren Stockwerke, wonach sich über der Decke, die sie von unten sehen konnten, noch zwei oder drei Geschosse befinden mußten. Grob geschätzt waren gut achtzehn Meter Höhenunterschied zu überwinden, und das Mauerwerk war alt und beschädigt. Ein erfahrener Kletterer konnte die Überreste der Pfeiler nutzen, die ursprünglich einmal die unteren Stockwerke abgestützt hatten, doch es war nichts, was er gerne versucht hätte.
Ich will nicht klettern, erwiderte er.
Ich auch nicht, fügte Danifae an. Die Kreatur weiß, daß wir von Anti-Magie geschützt werden. Erwartet sie, daß wir den Zauber auf geben, um zu ihr zu kommen?
»Vielleicht«, meinte Pharaun. Auf einen stechenden Blick Rylds hin bedeutete er: Man fragt sich, ob wir uns dieser Situation vielleicht intensiver hätten widmen sollen, ehe wir die Aufgabe annahmen, die die Jaelre uns damit gaben.
Wie die anderen bewegte sich auch Pharaun vorsichtig zwischen dem Schutt und den Trümmern hin und her, den Blick nach oben gerichtet.
Der Magier legte den Kopf in den Nacken, dann rief er: »Hallo! Betrachter! Da wir uns in einer Art Patt befinden, wärt Ihr zu einer Verhandlung bereit?«
Quenthel schäumte.
»Sprecht Ihr für uns, Magier?« raunte sie ihm zu.
Von weit oben ertönte die tiefe, rauhe Stimme. »Verhandlung? Warum? Ihr seid in mein Heim eingedrungen, ihr Narren!«
»Pharaun ...«, setzte Quenthel an.
»Ihr habt ein Buch, das wir wollen«, erwiderte der Magier und ignorierte die Hohepriesterin. »Es ist das Geildirion von Cimbar. Gebt es uns, dann lassen wir Euch in Ruhe.«
Der Betrachter verstummte und schien über das Angebot nachzudenken. Hätten Quenthels Blicke töten können, dann hätte in diesem Moment Pharauns letztes Stündlein geschlagen. Doch sie schwieg so wie die anderen und wartete darauf, was der Betrachter sagen würde.
»Dieses Buch ist äußerst wertvoll«, erwiderte das Geschöpf nach einer Weile. »Ich werde es nicht hergeben, nur weil eine Welpe von Drow das von mir verlangt. Zieht Euch zurück, dann werde ich Euch verschonen.«
Quenthel schnaubte. »Als hätten wir etwas anderes erwarten können.« Sie machte eine knappe Geste, damit die anderen ihre Aufmerksamkeit auf sie richteten. Dann bedeutete sie: Bei drei wird Pharaun den Zauber aufheben. Danifae und Ryld – Ihr werdet nur nach oben folgen. Pharaun, wenn wir die halbe Strecke zurückgelegt haben, werdet Ihr Euch und Jeggred auf die Etage darüber teleportieren und das Monster hinterrücks angreifen, da es darauf konzentriert sein wird, den Turm zu halten. Valas, Ihr bleibt hier und gebt uns mit dem Bogen Rückendeckung. Kommt so schnell wie möglich hoch, wenn wir dort sind. Quenthel machte sich nicht die Mühe, weitere Einzelheiten ihres Plans zu erläutern. Statt dessen begann sie zu zählen.
Eins ... zwei ... drei!
Pharaun machte eine Geste und hob die Wirkung der Anti-Magie auf. Sofort spürte Ryld, wie die arkane Macht seines Gürtels, seiner Handschuhe und seines Schwertes wieder in seinen Leib strömte. Er zog Splitter aus der Scheide und stieg im Schacht empor, wobei er sich des Levitationszaubers bediente, der in sein Emblem Melee-Magtheres eingebunden war. Mit ein wenig Glück würde die Fähigkeit des Schwertes, Zauber zunichte zu machen, ihn vor dem schlimmsten bewahren, was der Betrachter-Magus ihnen entgegenschleudern würde.
Quenthel und Danifae stiegen neben ihm auf, und gemeinsam waren sie drei schwarze, elegante Gestalten, die durch die Finsternis glitten. Pharaun trat zu Jeggred und sah der Gruppe zu, eine Hand auf dem weißen Fell der Schulter des Draegloth.
An einer Seite der Decke war eine runde Öffnung zu sehen, die zum Teil von den Resten einer alten Treppe versperrt wurde, die einst im Turm nach oben und unten geführt hatte. Ryld spähte zu der Öffnung und rechnete jeden Moment mit weißglühendem Tod.
Der Betrachter-Magus enttäuschte ihn nicht.
Ein grellgrüner Strahl zuckte auf, den er mit Hilfe von Splitter abwehren konnte. Ein Kribbeln ging durch das Heft des Zweihänders, als er den heimtückischen Strahl unschädlich machte. Neben ihm schrie Danifae auf und wich einem gewaltigen Blitz aus, der einen Bogen beschrieb, um alle drei Elfen zu versengen. Zurück blieb der Gestank von Ozon und verkohltem Holz.
Pfeile zischten von unten an Ryld vorbei, da Valas Hune wieder auf den unsichtbaren Feind feuerte. Ryld brummte trotzig und zwang sich, schneller aufzusteigen. Ein weiterer Zauber traf Quenthel, eine Art Gegenzauber, der ihren Levitationszauber wirkungslos werden ließ. Sie ruderte mit den Armen und stürzte ab. Ryld versuchte noch, sie zu packen, doch die Baenre war nicht nahe genug gewesen. Nach einem Sturz von gut zwölf Metern schlug Quenthel wie ein herabfallender Meteor in den Trümmerhaufen ein und verschwand in einer Staubwolke.
»Steigt weiter auf!« rief Danifae. »Wir haben es fast geschafft.«
Der Betrachter-Magus mußte zur gleichen Erkenntnis gelangt sein, denn einen Sekundenbruchteil später nahm eine Barriere aus dickem Eis Gestalt an und versiegelte den oberen Teil des Turms, während die Drow darunter nicht weiter aufsteigen konnten.
»Verdammt!« fluchte Ryld.
Danifae funkelte die Barriere an und überlegte: »Vielleicht können wir ...«
Da tauchte Jezz der Lahme am Fuß des Turms auf. Er wirbelte herum und schleuderte einen Zauber auf die Tür, die daraufhin zuschlug.
»Was immer Ihr da tut, kommt zum Ende!« rief der Jaelre. »Die Teufel sind mit Verstärkung zurück!«
Ryld sah nach oben zu der Eisschicht, die sie von der Turmspitze trennte, dann wieder nach unten auf den mit Trümmern übersäten Boden. Quenthel lag halb begraben zwischen den Mauerstücken und regte sich nicht. Zauber sorgten über der Eisdecke für Unruhe und waren ein gutes Zeichen dafür, daß Pharaun und Jeggred ihren Gegner gefunden hatten. Aber die von der Kreatur geschaffene Barriere sorgte dafür, daß die Gruppe geteilt worden war. Wenn sie aufgaben, würde der Betrachter-Magus Gelegenheit bekommen, seine Angreifer einen nach dem anderen auszulöschen, doch Quenthel war bereits tot oder doch wohl zumindest schwerverletzt.
»Hoch«, entschied Ryld. »Umkehren führt zu nichts. Valas, Jezz, kümmert euch um Quenthel!«
Er hatte die leuchtend weiße Decke erreicht und versuchte, mit Splitter die Eisschicht zu bearbeiten, da die Klinge die Fähigkeit besaß, Zaubern entgegenzuwirken. Rasiermesserscharfe Eissplitter platzten von der Stelle ab, die er getroffen hatte, doch es gelang Splitter nicht, die Magie des Betrachters aufzuheben. Ryld fluchte und versuchte es ein weiteres Mal, erneut ohne Erfolg.
Unter ihnen hörte man, wie von außen versucht wurde, die Tür zum Turm einzurennen. Valas Hune schulterte seinen Bogen und eilte über den Schutt zu der Stelle, an der Quenthel aufgeschlagen war.
Jezz der Lahme brummte etwas Unverständliches und wirkte einen Zauber, der dafür sorgte, daß das Foyer mit einem Gewirr aus klebrigen Spinnfäden durchzogen wurde. Er sprach stumm einen anderen Zauber, dann stieg er in die Luft und ließ Valas Hune mit Quenthel am Boden zurück.
»Vergeßt die Priesterin«, rief er Valas Hune zu. »Kommt, wenn Ihr leben wollt!«
Der Späher verzog frustriert das Gesicht.
»Ich kann nicht klettern und sie gleichzeitig tragen!« herrschte er Jezz an, während ein erneutes Anrennen gegen die Tür bewirkte, daß Holz absplitterte und sich die Eisen zu verbiegen begannen.
Einem weiteren Ansturm würde die Tür nicht standhalten können. Valas Hune sah nach oben in den Schacht, dann wieder zu Quenthel, die vor ihm lag. Er bückte sich und entfernte das Emblem des Hauses Baenre von ihrer Schulter. Die Schlangenköpfe ihrer Peitsche zuckten, und Yngoth schnappte sogar nach ihm, doch Valas war schnell genug außer Reichweite.