Gemeinsam zogen sie sich aus dem Gerichtshof zurück, wieder hinaus auf die Straße. Als sie kehrtmachten, um den Weg zurückzugehen, den sie gekommen waren, glitt etwas Langes, Flaches, das mit sandfarbenen Schuppen bedeckt war, auf den Boulevard heraus. Die Stummelflügel konnten das Geschöpf unmöglich in die Lüfte erheben, doch die kraftvollen Krallen und das weit aufgerissene Maul waren weitaus besser entwickelt. Der Drache hielt inne und hob den Kopf, um die beiden Drow besser betrachten zu können. Erfreut fauchte er. Von der Nase bis zur Schwanzspitze war die Kreatur gut fünfzehn Meter lang, und ihre Augen funkelten verschlagen und boshaft.
»Lolth bewahre uns!« keuchte Danifae.
Die beiden Frauen wichen in die andere Richtung zurück, die im rechten Winkel von dem Palast fortführte, in dem ihre Gefährten warteten. Der Drache folgte gemächlich und schlängelte sich auf der breiten Straße hin und her.
»Er treibt uns von den anderen fort«, zischte Halisstra.
Sie fühlte festes Gestein hinter sich und riskierte einen Blick über die Schulter. Sie waren an einem Gebäude angelangt und schoben sich an der Mauer entlang, während sie versuchten, den Abstand zu dem Monster zu wahren. Eine finstere Gasse klaffte nur ein paar Meter von ihnen entfernt. Einen Herzschlag lang zögerte Halisstra, dann packte sie Danifae am Handgelenk und schoß durch die Öffnung in der Mauer.
Vor ihnen im Schatten der Gasse lauerte etwas auf sie. Noch ehe Halisstra umkehren konnte, baute sich vor ihnen eine große goldene Kreatur auf, halb Löwe, halb Frau, schön und anmutig. Mit einem kühlen, grausamen Lächeln streckte die Löwenfrau die Hand aus und streichelte Halisstras Wange. Die Berührung war kühl und beruhigend, und augenblicklich spürte sie, wie ihre Angst, ihre Entschlossenheit, ihre ganze Willenskraft sanft fortgetragen wurden. Flüchtig versuchte sie, die Hand der Kreatur von ihrem Gesicht zu lösen.
»Keine Angst«, sagte das Geschöpf sanft. »Leg dich hin und ruhe dich aus. Du bist unter Freunden, dir wird nichts geschehen.«
Halisstra stand wie gelähmt da. Zwar war ihr bewußt, daß die Worte der Kreatur keinen Sinn ergaben, doch fehlte ihr die Willenskraft, um sich der Aufforderung zu widersetzen. Danifae packte sie, wirbelte sie herum und verpaßte ihr eine Ohrfeige.
»Es ist eine Lamia!« herrschte sie sie an. »Sie versucht, Euch zu betören!«
Die Lamia knurrte, das hübsche Gesicht hatte nun harte und grausame Züge angenommen.
»Widersetze dich nicht«, sagte sie mit bestimmenderem Tonfall.
Halisstra fühlte, wie sich der Zauber der Kreatur über sie legte, an ihrer Entschlossenheit saugte und versuchte, ihren Willen dem der Lamia zu unterwerfen. Sie wußte, wenn sie einlenkte, würde sie bewußt in den Tod gehen. Sie würde sich sogar hinlegen, um sich von der Lamia verspeisen zu lassen, wenn diese das von ihr verlangte. Doch der stechende Schmerz von Danifaes Schlag ins Gesicht hatte ihre Willenskraft wieder genug erstarken lassen, um sich gegen die süßlichen Worte der Lamia zur Wehr zu setzen.
»Wir sind Drow«, keuchte sie. »Unser Wille darf von solchen wie euch nicht gebrochen werden.«
Die Lamia bleckte wütend die Zähne und zog einen bronzenen Dolch, doch Halisstra und Danifae eilten bereits aus der im Schatten liegenden Gasse zurück in die Sonne.
Der Drache ist fort, signalisierte Danifae.
Halisstra schüttelte den Kopf und erwiderte: Eine Illusion. Wir wurden getäuscht.
Etwas schwebte noch immer in der Straßenmitte, ein schwach flackerndes Phantom, das von der Größe des Dings sein mochte, das sie zuvor gesehen hatten. Wie aus großer Entfernung war ein protestierendes Fauchen zu hören.
»Eine Illusion!« spie Danifae verächtlich.
Das Drachengespinst nagte am Rand ihres Verstands und erhielt Verstärkung durch anderes, beharrlicheres Murmeln und durch Schatten. Gebäude schienen zu schimmern und zu verschwinden, nur um durch Ruinen von anderem Erscheinungsbild ersetzt zu werden. Düstere, entsetzliche Dinge glitten durch den Schutt und versperrten den Rückweg. Geisterhafte Drow in funkelnden Gewändern nahmen Gestalt an, lächelten und riefen ihnen zu, sich zu ihnen zu gesellen und sich ihren glückseligen Lustbarkeiten anzuschließen, wenn sie sich zuerst ergaben.
Die Lamia trottete leichtfüßig hinter ihnen auf die Straße, den Dolch hinter dem Rücken.
»Ihr könnt euch unseren Verlockungen für eine Weile widersetzen«, schnurrte sie. »Aber früher oder später werdet ihr unterliegen.« Wieder streckte sie die Hand aus. »Wollt ihr nicht, daß ich euch von euren Sorgen befreie? Wollt ihr nicht wieder von mir berührt werden? Es wäre so viel leichter.«
Eine schnelle, elegante Bewegung lenkte Halisstras Aufmerksamkeit auf sich und ließ sie nach links sehen. Eine weitere Lamia – diesmal eine männliche – war auf die Mauer gesprungen, die ihnen bei ihrem Rückzug Schatten spendete. Die Lamia war sonnengebräunt und attraktiv, geschmeidig und lohfarben und lächelte die beiden grausam an.
»Eure Reise muß lang und anstrengend gewesen sein«, sagte die männliche Lamia mit güldener Stimme. »Wollt ihr mir nicht davon erzählen? Ich möchte alles darüber hören.«
Aus dem im Finsteren liegenden Eingang zum Gerichtsgebäude kam eine dritte Lamia zum Vorschein.
»Ja, erzählt es uns, erzählt uns alles«, schmachtete das Monster. »Welch schönere Weise gäbe es, den Tag zu verbringen? Ruht euch aus und überlaßt es uns, uns um euch zu kümmern.«
Die Lamia stützte sich auf einen großen Speer und lächelte glückstrahlend auf sie herab.
Halisstra und Danifae sahen einander nur kurz an, dann rannten sie um ihr Leben.
Gromph Baenre, Erzmagier von Menzoberranzan, war unzufrieden. Auch wenn der Sklavenaufstand ohne große Mühen hatte niedergeschlagen werden können, störte es ihn über alle Maßen, daß so viele männliche Drow gemeinsame Sache gegen die Muttermatronen gemacht hatten. Aber nicht nur das – sie hatten auch gemeinsame Sache mit den Sklavenvölkern gemacht, die sich gegen die Stadt erhoben hatten. Das sprach für eine Angst, die lange Zeit unterdrückt worden war, und für noch etwas anderes: Es ließ einen bisher unsichtbaren Feind vermuten, der einen Weg gefunden hatte, dieser Angst eine Stimme und eine Mission zu geben. Drow konnten untereinander nicht so problemlos kooperieren, als daß sie im geheimen eine Rebellion hätten organisieren können, die auf ein verabredetes Zeichen hin in Gang kam.
Die wachsame Ruhe, die sich nach der Niederschlagung der Revolte und dem Hinscheiden des Illithiden-Leichnams über die Stadt gelegt hatte, kam Gromph wie etwas Bösartiges und Verschlagenes vor.
Er stand vom Schreibtisch auf und ging in seinem Raum auf und ab, während er nachdachte. Kyorli, die Ratte, die ihm als Schutzgeist diente, betrachtete ihn kühl und distanziert, während sie an einer Scheibe Rothé-Käse knabberte.
Der Anblick der Ratte erinnerte den Erzmagier aus irgendeinem Grund daran, daß er schon länger nichts mehr von Pharaun gehört hatte. Zuletzt hatte das arrogante Plappermaul gemeldet, Ched Nasad versänke im Chaos. Vielleicht war es an der Zeit, nach ihm zu sehen.
Gromph trat durch einen Torbogen in einen offenen Schacht und ließ sich nach oben in den Raum schweben, der ihm als Kammer der Ausspähung diente. Zwangsläufig war das Zimmer nicht so gut geschützt wie andere Teile seines Eigentums, da er ein gewisses Maß an magischer Transparenz benötigte, um seinen Geist in die Welt jenseits seines Palastes vordringen zu lassen. In der Kammer setzte er sich im Schneidersitz vor einen niedrigen Tisch, auf dem eine große Kristallkugel lag.
Mit einer Bewegung seiner alten Hände murmelte er die Worte, die das Objekt aktivierten, und befahclass="underline" »Zeig mir Pharaun Mizzrym, diesen unverfrorenen Welpen, der glaubt, er könne eines Tages meine Nachfolge antreten.«
Letztere Bemerkung war unnötig gewesen, doch Gromph empfand es als hilfreich, seiner Verärgerung Ausdruck zu verleihen, ehe er zu spähen begann.
Die Kugel wurde grau und milchig, Nebel wirbelte in ihr auf, dann wurde sie von einem unerwarteten grellen Leuchten erfüllt. Gromph fluchte und mußte den Blick abwenden. Einen Moment lang glaubte er, Pharaun könnte einen neuen Zauber entwickelt haben, um seine Feinde daran zu hindern, ihm nachzuspionieren. Doch dann begann der Erzmagier zu verstehen, was es mit diesem Licht auf sich hatte.