»Wo wart Ihr?« fragte Quenthel.
»Man versuchte mehrere Tage lang, mich zu Eilistraee zu bekehren, wenn man so etwas glauben kann«, antwortete Halisstra. »Lolth gab mir Gelegenheit, zwei von Eilistraees Klerikerinnen zu töten und zu entkommen.«
Auch wenn ihr Herz von finsterem Stolz über ihre Leistungen erfüllt war, empfand Halisstra eine gewisse Enttäuschung, was das Ergebnis ihres Verrats anging. Sie war mit der Kunst des Verrats bestens vertraut, doch es kam ihr so vor, als hätte sie nur getan, was von ihr erwartet wurde.
»Zweifellos haben die Oberflächenbewohner Euch nur freigelassen, um Eure wahren Absichten in Erfahrung zu bringen«, sagte Quenthel. »Das ist ein alter Trick.«
»Das dachten wir auch«, sagte Tzirik. »Wir haben jedoch Herrin Melarns Geschichte überprüft, und sie hat sich als wahr herausgestellt. Es ist fast erheiternd, wie naiv unsere Schwestern sind, die Eilistraee anbeten.« Er hielt inne und rieb sich die Hände. »Doch sei dem, wie es sei. Jezz ließ mich wissen, daß Ihr ihm helfen konntet, das Buch zu bergen, das wir benötigen.«
»Wir halfen ihm?« knurrte Jeggred.
»Seine Aufgabe war es, das Buch zurückzubringen«, erwiderte Tzirik. »Nicht, sich einen Kampf mit den Bewohnern Myth Drannors zu liefern.«
»Ihr habt Euer Buch«, sagte Quenthel und ging über Jeggreds Knurren hinweg, während sie die Arme verschränkte und ihren Blick auf Tzirik richtete. »Seid Ihr bereit, Euren Teil der Abmachung zu halten?«
»Es ist bereits geschehen«, entgegnete der Priester. Er sah zum bronzenen Abbild hoch oben an der Wand und beschrieb eine knappe Verbeugung. »Unabhängig davon, ob Ihr lebend zurückgekehrt wärt oder nicht, wollte ich mich mit dem Maskierten Gott besprechen und für mich selbst in Erfahrung bringen, warum sich Lolth von Euch abschottet. Eure Geschichte hatte mich neugierig gemacht.«
Quenthel knirschte mit den Zähnen. »Was habt Ihr herausgefunden?« brachte sie heraus.
Tzirik genoß sein Wissen und reagierte mit einem bewußt überheblichen Lächeln, während er sich von der Gruppe entfernte und auf einem kleinen Podest an einer Seite der Kapelle Platz nahm.
Er faltete die Hände und erklärte: »Insgesamt entspricht Eure Geschichte der Wahrheit. Lolth gewährt ihren Priesterinnen keine Zauber mehr, und sie reagiert auch nicht auf Gesuche.«
»Das wußten wir schon«, stellte Pharaun fest.
»Aber ich nicht«, antwortete der Priester. »Es scheint so, als habe sich Lolth auf irgendeine Weise in ihrem Höllenreich verbarrikadiert. Sie verweigert den Kontakt, nicht nur zu ihren Priesterinnen, sondern zu allen Wesen. Das dürfte auch erklären, warum die Dämonen, die Ihr beschworen hattet, um von ihnen Antworten über den Verbleib Lolths zu erhalten, Euch nicht helfen konnten.«
Die Menzoberranzanyr standen schweigend da und dachten über Tziriks Antwort nach. Halisstra war verwirrt.
»Warum sollte Lolth das tun?« überlegte sie laut.
»Im Geiste der Offenheit möchte ich einräumen, daß Vhae-raun das auch nicht weiß oder zumindest nicht will, daß ich es weiß«, sagte Tzirik. Sein kühler Blick blieb auf Halisstra haften.
»Im Augenblick ist eine göttliche Laune eine mögliche Erklärung, aber möglich ist auch alles andere.«
»Ist sie ... lebt sie?« flüsterte Ryld. Quenthel und die anderen Priesterinnen warfen dem Waffenmeister wütende Blicke zu, doch er ignorierte sie und fuhr fort: »Was ich damit sagen will, ist: Wüßten wir, wenn sie von einem anderen Gott getötet worden wäre? Oder wenn sie krank oder in Gefangenschaft geraten ist?«
»Wenn wir uns nur so glücklich schätzen könnten«, lachte Tzirik. »Nein, Lolth lebt, auch wenn die Frage sich stellt, wie man diesen Zustand bei einer Göttin definiert. Ob sie sich selbst im Abgrund der Dämonennetze eingeschlossen hat oder ob eine andere Macht sie einschloß, hat Vhaeraun nicht gesagt.«
»Wie lange wird dieser Zustand anhalten?« fragte Halisstra.
»Auch das weiß Vhaeraun nicht, oder aber er will nicht, daß ich es weiß«, sagte Tzirik. »Die Frage sollte aber eher lauten: Wird dieser Zustand ein Ende nehmen? Die Antwort darauf ist ja. Er wird ein Ende haben, doch ehe Ihr Euch von dieser Aussage zu schnell trösten laßt, möchte ich Euch daran erinnern, daß eine Göttin eine deutlich andere Vorstellung haben kann, was wir als eine vertretbare Zeitspanne erachten. Der Maskierte Gott kann sich auf etwas bezogen haben, was morgen, nächsten Monat, nächstes Jahr oder vielleicht erst in hundert Jahren eintritt.«
»So lange können wir nicht warten«, murmelte Quenthel. Ihr Ausdruck war von den Gedanken an das ferne Menzoberranzan geprägt. »Wir müssen bald eine Lösung finden.«
»Dann verehrt eine Gottheit, die mehr um Euer Wohl besorgt ist«, meinte Tzirik. »Wenn es Euch interessiert, kann ich Euch umfassend über die Tugenden des Maskierten Gottes Auskunft geben.«
Quenthel versteifte sich, hielt aber ihre Zunge im Zaum, was für die Baenre eine bemerkenswerte Leistung war.
»Das muß ich ablehnen«, sagte sie. »Hat der Maskierte Gott noch irgendeinen anderen Vorschlag für uns, Priester?«
»Den hat er«, erwiderte Tzirik und lehnte sich, an Quenthel gewandt, auf seinem Stuhl nach vorne. »Das waren seine Worte, die er zu mir sprach, also hört sie Euch gut an: ›Die Kinder der Spinnenkönigin sollten sie für Antworten aufsuchen.‹«
»Das haben wir«, rief Halisstra. »Wir alle, doch sie hört uns nicht.«
»Ich glaube, das hat er nicht gemeint«, sagte Danifae. »Ich glaube, Vhaeraun will damit sagen, daß wir nichts herausfinden werden, wenn wir uns nicht selbst in den Abgrund der Dämonennetze begeben, um die Göttin persönlich anzuflehen.«
Tzirik schwieg und sah die Menzoberranzanyr an. Quenthel ging im Kreis und dachte über diese Idee nach.
»Lolth erwartet von ihren Priesterinnen ein gewisses Maß an Initiative und Eigenverantwortung«, erklärte die Herrin Arach-Tiniliths. »Aber sie erwartet auch Gehorsam. Sich zu ihr in ihr göttliches Heim zu begeben, um Antworten zu erhalten ... Lolth wird einen solchen Affront nicht amüsant finden.«
Halisstra schwieg und dachte über das nach, was Tzirik gesagt hatte. Reisen auf andere Ebenen waren ihr nicht fremd. Pharauns Zauber hatte die Gruppe durch die Ebene der Schatten reisen lassen, und es gab viele Universen, viele Himmel und Höllen, in die sich Sterbliche begeben konnten, wenn sie mit der richtigen Magie ausgestattet waren. Es gab Wunder und Schrecken, die die Grenzen der stofflichen Welt überstiegen, doch die Vorstellung, eine solche Reise ohne Lolths ausdrückliche Einladung zu unternehmen ängstigte Halisstra.
»Die Strafen, die uns erwarten, wenn wir in dieser Angelegenheit nicht Lolths Willen befolgen, werden gravierend sein«, gab Halisstra zu bedenken.
»Haben wir denn nicht soeben Lolths Willen gehört?« fragte Danifae. »Sie hat uns hierher geführt, damit wir diese Frage stellen. Das ist, als hätte sie uns ihren Befehl direkt erteilt. Sie könnte verärgert sein, wenn wir das nicht erkennen.«
Halisstra war es gewöhnt, sich sicher zu fühlen, wenn es darum ging, die Wünsche Lolths zu interpretieren. Bevor das göttliche Schweigen die Priesterinnen Lolths befallen hatte, war ihr die seltene Berührung durch das Flüstern Lolths in ihrem Geist vertraut gewesen. Es geschah nicht oft – schließlich war sie nur eine von Tausenden von Priesterinnen –, doch sie wußte, wie es sich anfühlte, bis ins Tiefste ihrer Seele zu verstehen, welchen Wunsch Lolth hatte und wie er zu erfüllen war. Doch jetzt fühlte Halisstra nichts. Offenbar wollte Lolth, daß sie es selbst herausfand.
Halisstra sah dorthin, wo die bronzene Maske Vhaerauns über einem schwarzen Altar hing. Die Fremdheit dieses Ortes war fast greifbar, ein Ausdruck für alles, was sie verloren hatte. Statt vor einem alten Altar im stolzen Tempel des Hauses Melarn zu stehen und von Lolths göttlicher Gewißheit erfüllt zu sein, während sie die Opferrituale und Demütigungen über sich ergehen ließ, die die Spinnenkönigin von ihr verlangte, stand sie allein und verloren da, ein Eindringling im Tempel eines vorgeblichen Gottes, während sie blindlings nach einem Hinweis suchte, was Lolth von ihr erwartete.