Sie stellte sich vor, wie sie vor Lolth trat, ihre Seele der Göttin entblößt, ihre Augen weit aufgerissen vom Anblick von Lolths finsterem Ruhm, ihre Ohren versengt vom Klang der zischenden Stimme der Spinnenkönigin. Vielleicht war es ein Affront zu glauben, Lolth werde ihre Zweifel auslöschen, Antworten auf ihre Fragen geben und ihr verletztes Herz heilen, doch Halisstra stellte zu ihrer Verwunderung fest, daß es sie nicht kümmerte. Wenn Lolth beschlossen hatte, sich ihrer zu entledigen und sie zu bestrafen, würde sie das auch tun. Warum hatte sie Ched Nasad und Haus Melarn vernichtet, wenn sie nicht Halisstra vor sich treten lassen und sie flehen hören wollte?
»Ich stimme mit Danifae überein«, sagte sie. »Ich wüßte nicht, welchem anderen Zweck das alles dienen soll, als uns vor den Thron Lolths zu bestellen. In ihrer Gegenwart werden wir unsere Antworten erhalten.«
Quenthel nickte und erklärte: »Ich deute ihren Willen nicht anders. Wir müssen uns in den Abgrund der Dämonennetze begeben.«
Ryld und Valas Hune tauschten besorgte Blicke aus.
»Eine Reise in die sechsundsechzigste Ebene des Abgrunds«, bemerkte Pharaun. »Ich habe von diesem Ort geträumt. Es wäre interessant, ob die Wirklichkeit mit meinem viele Jahre alten Traum einhergeht. Allerdings muß ich sagen, daß ich mich nicht freue, Lolth persönlich zu begegnen. Als ich diese Vision hatte, schlug sie meine Seele in Stücke. Ich brauchte Monate, um mich davon zu erholen.«
»Vielleicht sollten wir nach Menzoberranzan zurückkehren und berichten, was wir in Erfahrung gebracht haben, ehe wir irgend etwas überstürzen«, schlug Ryld vor. Er war beunruhigt über die Aussicht, sich in die infernalischen Reiche zu begeben.
»Nun, da ich den Willen Lolths verstanden habe, möchte ich keine Zeit verlieren, ihn zu erfüllen«, erklärte Quenthel. »Pharaun kann seinen Sendezauber verwenden, um Gromph von unseren Absichten zu unterrichten.«
»Aber«, wandte Valas Hune ein, »wie gelangt man denn eigentlich in den Abgrund der Dämonennetze?«
»Man muß sein Leben lang Lolth anbeten«, antwortete Quenthel mit einem finsteren Ausdruck in den Augen, »und dann sterben.«
Halisstra sah erst Quenthel, dann den Späher an und sagte: »Würde Lolth uns unsere Zauber gewähren, könnten wir das mit Leichtigkeit erledigen. Ohne sie wird es nicht einfach werden. Pharaun?«
»Ich werde bei der ersten Gelegenheit, die sich bietet, die erforderlichen Zauber lernen«, sagte der Magier. »Ich nehme an, ich werde einen fähigen Zauberer finden müssen, der über die notwendigen Zauber verfügt, und ihn überreden müssen, einen davon mit mir zu teilen.«
»Das wird nicht nötig sein, Pharaun«, sagte Tzirik. Er erhob sich und kam selbstsicher vom Podest herunter. »Mein Gott hat nicht entschieden, mich meiner Zauber zu berauben, außerdem bin ich daran interessiert, mit eigenen Augen zu sehen, was sich in Lolths Reich abspielt. Wir können heute abend aufbrechen, wenn Euch das recht ist.«
Kompanie um Kompanie marschierte die Armee der Schwarzen Spinne voller Stolz in die weite Höhle hinter den Säulen des Leids. Sie war nicht mit der weitläufigen Höhle Menzoberranzans vergleichbar, auch nicht mit den unvorstellbaren Weiten von Dunkelsee, doch die Ebene am Kopf der Schlucht war trotz allem beeindruckend – eine asymmetrische Ebene, die wohl einen Durchmesser von achthundert Metern hatte und deren Decke sich einige hundert Meter in die Höhe erstreckte. Unzählige Säulen trugen diese Decke, und Felsplatten ähnliche Nebenhöhlen verliefen in alle Richtungen wie Wege, die in die Finsternis zu locken schienen.
Nimor überblickte die Höhle von seiner Streitechse herab und sah zu, wie die großen Häuser Menzoberranzans einmarschierten und sich um ein Dutzend verschiedene Banner sammelten. Ihm blieben mehr als zwei Tage, um die diversen Spalten, Höhlen und Durchgänge auszukundschaften, die zu dieser freien Stelle führten. Der strategische Vorteil der Säulen des Leids war offensichtlich. Nur eine Straße verlief nach Süden und führte durch eine mühselig zu durchquerende Schlucht, während eine Reihe von Tunneln dort endeten, wohin er die Drow geführt hatte. Jeder von ihnen führte in das dunkle Reich Menzoberranzans.
»Ein guter Platz für eine Schlacht«, sagte er zu sich und nickte zufrieden.
Sein Reittier, das von Natur aus eine bösartige, aber dumme Bestie war, schien dumpf wahrzunehmen, daß ein Konflikt bevorstand. Das Tier fauchte und trat auf dem mit Kieseln übersäten Grund umher, der Schwanz zuckte aufgeregt hin und her.
Nimor wartete nahe der Mitte der Linie aus Spähern, die an der Spitze von fast hundert Reitern Agrach Dyrrs die Lücke zwischen den Säulen schlossen. Die Angehörigen seines Spähtrupps, die anderen Häusern treu waren, lagen zwischen den Felsen und Spalten in der Schlucht darunter, wo Nimor und seine Männer sie getötet hatten, kurz nachdem sie an den Säulen des Leids angelangt waren.
Nimor wäre nur zu gern hinaufgeritten, um Mez’Barris Arm-go, Andzrel Baenre und den Rest der Priesterinnen und Befehlshaber der Armee zu grüßen. Er sah den Pavillon, der soeben in der Mitte der Höhle aufgebaut wurde.
Das Problem bei einem Verrat, der sich über das gesamte Schlachtfeld erstreckte, war der, daß man einfach nicht überall sein konnte, um den Augenblick in seiner Gesamtheit zu genießen.
Er sah eine schmale Laufechse, die vom Befehlsstand auf dem Weg zu seiner Kompanie war.
»Sieht aus, als würde ich gebraucht, Jungs«, sagte er zu den Soldaten Agrach Dyrrs, die hinter ihm warteten. »Ihr wißt, was ihr zu tun habt. Wartet auf das Signal. Wenn es ertönt, legt los.«
Nimor ließ seine Streitechse lostraben und ritt dem Boten ein Stück entgegen. Der Reiter war ein junger Mann, der die Kleidung des Hauses Baenre trug – sicherlich ein besonders gut gelittener Neffe oder Vetter, dem man eine vergleichsweise sichere Aufgabe zugewiesen hatte, die kein großes Risiko für sein Leben bedeutete. Er trug keinen Helm, so daß sein Haar wie eine Mähne hinter ihm im Wind flatterte. Ein hellrotes Banner wehte an einem Harnisch, der an seinem Sattel befestigt war.
»Ihr seid Hauptmann Zhayemd?« rief er und wurde langsamer, um Nimor zu begrüßen.
»Ja.«
»Eure Anwesenheit ist umgehend im Befehlspavillon erforderlich, Herr. Matrone Del’Armgo möchte wissen, wo sich die Duergar befinden und wie die Truppen am besten aufzustellen sind.«
»Verstehe«, erwiderte Nimor. »Ihr könnt zurückreiten und ihr sagen, ich werde unverzüglich hinüberreiten.«
»Bei allem Respekt, Herr, aber ich soll ...«
Drei Hornstöße – zwei kurze gefolgt von einem langen – ertönten zwischen den Säulen des Leids und erzeugten ein so lautes Echo, daß man hätte meinen können, der Fels selbst würde diese Laute ausstoßen. Der Bote verstummte und wendete sein Reittier, um an Nimor vorbeizureiten und einen Blick auf die Säulen zu werfen.
»Bei Lolths Zorn, was war das?« wunderte er sich.
»Das«, entgegnete Nimor, »dürfte das Signal für den Angriff der Duergar sein.«
Aus den Tiefen der Schlucht unterhalb der Säulen des Leids war das Donnern einer Armee auf dem Vormarsch zu hören, das den Boden erzittern ließ. Unterhalb der Linie von Nimors Spähern tauchten auf einmal zu Hunderten auf Echsen reitende Duergar auf, die sich unter sorgfältig angeordneten Tarnnetzen erhoben und in die Lücke vorstießen, die Nimors Späher halten sollten. Hinter der Duergar-Kavallerie stürmte eine immense Duergar-Infanterie los, stieß ihre rauhen Kriegsrufe aus und hielt Hämmer und Äxte hoch über den Köpfen. Die Reiter Agrach Dyrrs saßen auf, gingen in Position, um zwischen den gewaltigen Felssäulen die Angreifer in die Zange zu nehmen – und dann beschrieben sie wie verabredet eine Drehung und eilten davon, womit die vorderste Verteidigungslinie von einem Augenblick zum anderen ungeschützt war.
»Agrach Dyrr verrät uns!« schrie der Bote, dem das Entsetzen über diese Vorgehensweise anzusehen war.