Der Gang war gut fünfzehn Kilometer lang und stellte eine der Hauptpassagen dar, die von den Säulen des Leids bis zu dem Randbereich aus sich windenden Gängen und wilden Höhlen reichte, die als Menzoberranzans Herrschaftsbereich bekannt waren. Es kam ihr so vor, als sei jeder zweite oder dritte Soldat verwundet – hier ein bandagierter Leib, dort ein Arm in einer Schlinge, ein Mann, der seinen abgebrochenen Speer als Krücke benutzte. Aber nicht die Vielzahl der Verwundeten bereitete Triel Sorge. Vielmehr empfand sie als beunruhigend, wie erschöpft die Soldaten wirkten. Natürlich war sie davon ausgegangen, sie ermüdet vorzufinden, immerhin war Andzrel mit der Armee einen ganzen Tag lang ohne Pause marschiert, um so viele wie möglich von den Säulen des Leids wegzuführen. Doch sie hatte nicht damit gerechnet, daß die Männer so ... niedergeschlagen sein würden. Sie waren besiegt worden, und sie wußten es nur zu gut.
Andzrel hielt respektvoll einen Schritt Abstand zur Muttermatrone und schwieg, bis er aufgefordert wurde, etwas zu sagen.
»Wie schwer sind die Verluste?« fragte sie, ohne den Waffenmeister anzusehen.
»Was die Armee angeht, bewegen sie sich bei einem Viertel bis einem Drittel, Muttermatrone. Einigen Häusern erging es besser, anderen schlechter, je nachdem, wo sie kämpften.«
»Was ist mit dem Kontingent des Hauses Baenre?«
»Neunzig tot, vierundvierzig schwer verletzt«, erwiderte Andzrel. »Etwa ein Viertel unserer Truppe.«
»Wir hatten Glück, daß wir so viele retten konnten, Muttermatrone«, fügte Zal’therra an. »Einige der kleineren Häuser wurden bis zum letzten Mann ver...«
»Ich habe Euch nicht gefragt«, sagte Triel.
Sie verschränkte die Arme und versuchte, sich nichts von dem Entsetzen anmerken zu lassen, das ihr den Magen umdrehte.
Es wäre ein Wunder, wenn der Rat sich nicht gegen mich erhebt, dachte die Muttermatrone. Lolth sei Dank, daß Mez’Barris noch nicht aufgefunden wurde und daß Fey-Branche so sehr geschwächt worden ist. So werde ich etwas Zeit haben, um zu überlegen, was ich zu tun habe, ehe ich Mez’Barris gegenübertrete – wenn Lolth mir gnädig ist.
Doch was ist überhaupt noch vom Rat übrig? fragte sie sich. Faen Tlabbar, das dritte Haus, befand sich in den Händen eines unerfahrenen Mädchens, und Yasraena würde wohl bei der nächsten Versammlung erst gar nicht erscheinen. Sie und ihr ganzes verdammtes Haus hatten sich in ihrer Burg verbarrikadiert, wo sie auf die Ankunft der mit ihnen verbündeten Duergar warteten und sich offenbar auf eine Belagerung gefaßt machten.
Damit waren Zeerith Q’Xorlarrin, Miz’ri Mizzrym und Prid’eesoth Tuin die einzigen Muttermatronen, über die sie sich Gedanken machen mußte.
Um sich von dieser unerfreulichen Aussicht abzulenken, wandte sich Triel Andzrel und Zal’therra zu. Zu gern hätte sie den Waffenmeister und ihre Base dafür bestraft, daß sie ihre Armee in einen verheerenden Hinterhalt geführt hatten, doch soweit sie wußte, hatten Andzrels Geschick und Zal’therras Entschlossenheit überhaupt erst dafür gesorgt, daß die Armee der Schwarzen Spinne vor einer völligen Vernichtung verschont geblieben war. Die Armee Menzoberranzans war schwer getroffen worden, doch sie existierte noch.
»Wo sind die Duergar jetzt?« fragte sie.
»Fünf Kilometer südlich von uns«, erwiderte Andzrel. »Haus Mizzrym dient derzeit als Nachhut, doch ich habe hundert unserer Soldaten hingeschickt, die die Verteidigung verstärken sollen.« Triel verstand, was Andzrel meinte: Er hatte den Mizzrym Soldaten der Baenre an die Seite gestellt, um zu verhindern, daß es noch einen Verrat wie den von Agrach Dyrr gab. »Die Geknechtete Legion bewegt sich in einem anderen Gang östlich von uns voran, um uns einzukreisen. Wir können es nicht wagen, uns ihnen in diesem Tunnel zu stellen, da uns die Tanarukks überrennen werden.«
»Es wären doch nur gut hundert Soldaten nötig, um diesen Tunnel gegen jede Streitmacht zu verteidigen, oder?« fragte Triel.
»Ja, doch in den Reihen der Duergar gibt es viele Kriegsmagier und Belagerungsmaschinen, so daß sie sich nicht allzulange von einer Nachhut aufhalten lassen werden.«
»Versucht es dennoch«, zischte Triel. »Setzt Sklaventruppen ein, laßt genügend Offiziere zurück, damit sie nicht auf einmal die Flucht ergreifen. Wir brauchen Zeit, Waffenmeister, und es ist der Zweck einer Nachhut, uns diese Zeit zu verschaffen.«
Andzrel wandte nichts dagegen ein, während Triel weiterging, um ihre Gedanken zu ordnen. Drow-Rebellen, Sklavenaufstände, Duergar-Armeen, finsterer Verrat, ein verschwundener Erzmagier und Horden von Tanarukks – konnte es wirklich noch schlimmer kommen? Wo sollte sie anfangen, um auch nur eines dieser Probleme zu bewältigen? Sollte sie Agrach Dyrr angreifen, obwohl ihr die magische Kraft der versammelten Priesterinnen fehlte? Die Duergar an einer anderen Stelle bekämpfen und den Tanarukks gestatten, sich an ihnen vorbeizubewegen?
»Wie konnte das geschehen?« murmelte sie.
»Agrach Dyrr war mit den Feinden unserer Stadt verbündet«, erwiderte Zal’therra. »Sie machten sich zur Vorhut unserer Armee, doch statt die Säulen des Leids gegen die Duergar zu verteidigen, ließen sie uns in eine Falle laufen. Für diesen Verrat müssen sie ausgelöscht werden.«
»Ich sprach nicht mit Euch!« herrschte Triel sie an, die sich nicht länger beherrschen konnte.
Auch wenn sie wußte, daß Zal’therra nichts für das Desaster konnte, mußte sie ihrer Wut freien Lauf lassen. Sie verpaßte ihr einen wuchtigen Schlag, der Zal’therra fast umriß, obwohl sie gut dreißig Zentimeter größer und mindestens fünfzehn Kilo schwerer war.
»Ihr hättet mit einem Verrat rechnen müssen, Ihr Närrin!« knurrte Triel. »Warum waren unter den Spähern keine Baenre-Offiziere? Warum habt Ihr nichts getan, um die Berichte zu überprüfen, mit denen Agrach Dyrr Euch versorgte? Wenn Ihr auch nur die mindesten Sicherheitsvorkehrungen getroffen hättet, wäre unsere Armee nicht so stark dezimiert worden!«
Zal’therra wich zurück und erwiderte: »Muttermatrone, wir waren alle mit Andzrels Plänen einverstanden ...«
»Andzrel ist eine Waffe. Die Armee unseres Hauses ist eine Waffe. Ihr seid die Hand, die diese Waffen gegen unsere Feinde führen muß. Ich schickte Euch aus, um Euer Urteilsvermögen anzuwenden und Entscheidungen zu fällen, Euren Kopf zu benutzen und zu denken!«
Triel machte auf dem Absatz kehrt, um nicht noch einmal auf Zal’therra einzuschlagen. Wenn sie das getan hätte, hätte sie vielleicht nicht mehr aufhören können, und ob es ihr gefiel oder nicht, Zal’therra war wohl die vielversprechendste ihrer Basen. Triel würde nicht ewig leben, und sie mußte sich darüber Gedanken machen, Haus Baenre mit wenigstens einigen fähigen Priesterinnen zu versorgen, wenn der Tag kommen sollte, an dem sie ihre Schwestern ermorden mußte.
»Muttermatrone«, brachte Zal’therra heraus, die Augen vor Angst weit aufgerissen. »Ich entschuldige mich für mein Versagen.«
»Ich habe keine Entschuldigung gefordert, Mädchen, und eine Baenre sollte sich nie von sich aus entschuldigen«, grollte die Muttermatrone. »Aber ich werde Euch Gelegenheit geben, mir zu beweisen, daß Ihr einfallsreich genug seid, um mich über Euer Scheitern hinwegsehen zu lassen. Ihr werdet das Kommando über die Nachhut übernehmen.«
Triel wies nach Süden. Die Chancen waren groß, daß sie ihre Base in den Tod schickte, doch sie mußte wissen, ob Zal’therra den Mut und die Entschlossenheit besaß, um das Haus Baenre führen zu können. Wenn sie einen Weg fand, diesen Auftrag zu überleben und einen Erfolg zu erzielen, dann würde Triel erwägen, sie am Leben zu lassen.