Genau das tat sie auch und stoppte so abrupt, daß ihr Verstand ihr sagte, sie müsse einfach nach vorn kippen, da sie viel zu plötzlich angehalten hatte. Sie beschrieb hastig eine Kreisbewegung, dann kam sie zur Ruhe. Zum Glück hatte sie nicht als einzige Schwierigkeiten. Ryld und Valas Hune stießen zusammen und klammerten sich aneinander fest, da sie sich nicht wieder allein in der Leere bewegen wollten.
»Oh, im Namen der Göttin!« murrte Quenthel, als sie sie beobachtete. »Leert einfach Euren Geist und denkt daran, wohin Ihr wollt.«
»Bei allem Respekt, Herrin, wohin wollen wir gehen wollen?« fragte Valas, während er sich von Ryld löste.
»Konzentriert Euch darauf, Tzirik zu folgen«, gab die Baenre zurück. »Er hat den Zauber gewirkt, also wird er auch das Portal in den Abgrund der Dämonennetze finden können. Es kann einige Stunden dauern, aber Ihr werdet merken, daß die Zeit hier sehr sonderbar verstreicht.«
Mit diesen Worten folgte Quenthel Tzirik.
Halisstra schloß die Augen, holte tief Luft und konzentrierte sich darauf, Tzirik in angemessener Entfernung zu folgen. Sie schloß rasch und mühelos zu ihm auf, und diesmal ließ sie es nicht zu, in Panik zu geraten. Kurz darauf befanden sich auch die anderen neben ihr, und mit jedem Moment gewöhnten sie sich mehr an die fremdartige Astralebene. Halisstra ließ sich hinreißen, mit der Art der Fortbewegung zu experimentieren, indem sie mal in die Horizontale wechselte, als fliege sie wie ein Vogel durch die perlmutterne Leere, dann wieder bewegte sie sich, als gehe sie zügig, ohne aber ihre Beine zu bewegen.
Wie sich herausstellte, war es völlig egal, was sie mit ihrem Körper tat, solange ihr Geist darauf ausgerichtet war, in der Nähe ihrer Gefährten zu bleiben. Allmählich begann sie die wahre Stofflosigkeit der Astralsee zu begreifen. Sie war nur ein Geist, schwerelos und vollkommen, doch befand sie sich an einem Ort, an dem Geister faßbar wurden. Irgendwo jenseits der unendlichen perlmutternen Weite lagen die Reiche der Götter, Tausende verschiedener Existenzkonzepte, von denen aus die göttlichen Wesen über das Schicksal Faerûns – und aller Welten überhaupt – herrschten. Sie konnte Hunderte von Lebensspannen damit verbringen, diese Reiche zu erkunden, die an die Astralsee angrenzten, und trotzdem würde sie sie niemals alle zu Gesicht zu bekommen.
Der Gedanke sorgte dafür, daß sie sich winzig und unbedeutend vorkam, und sie begann sofort, ihn zu vertreiben. Lolth hatte sie nicht in den Abgrund der Dämonennetze gerufen, damit sie sich von der silbrigen Leere der Astralebene überwältigen ließ. Sie hatte Halisstra und die anderen gerufen, damit sie ihr ihren Glauben und ihre Bewunderung aussprachen. Welchen anderen Grund sollte Lolth sonst haben, ihren Getreuen alle Macht zu entziehen, Ched Nasad untergehen zu lassen und die erste Tochter des Hauses Melarn so unendlich leiden zu lassen?
Es gibt einen Sinn, sagte sich Halisstra, einen Sinn, der mir klarwerden wird, wenn mein Glaube stark bleibt.
Die Königin über den Abgrund der Dämonennetze hat uns bis hier geführt, sie wird uns auch noch ein Stück weiter führen.
19
Halisstra konnte nicht im entferntesten sagen, wie lange sie brauchten, um die Astralebene zu durchqueren. Ihr war zuvor nie bewußt gewesen, in welchem Ausmaß die routinemäßigen Abläufe des Körpers das Verstreichen der Zeit bestimmten. Ihre Astralform wurde weder müde noch hungrig, sie kannte keinen Durst und keine anderen Dinge, auf die sie achten mußte. Ohne die kleinen Dinge, die man erledigte, um den Bedürfnissen des Körpers nachzukommen – ein Schluck aus einem Wasserschlauch, wenn man durstig war; ein kurzer Halt während eines Marsches, um etwas zu essen; ein Stop, um in Trance zu versinken und die grellen Stunden des Tages hinter sich zu bringen –, verlor die Zeit schlicht ihre Bedeutung.
Von Zeit zu Zeit erhaschten sie kurze Blicke auf andere Phänomene als die endlosen perlmutternen Wolken oder die grauen Wirbel, die sich ringsum über den Himmel zogen. Sonderbare Fetzen Materie trieben durch die Astralsee, gelegentlich entdeckten sie Findlinge, Felsstücke oder Erdhaufen, die wie winzige Welten im Raum schwebten. Manche hatten fast die Größe von Bergen, andere maßen nur ein paar Schritt. Die größeren von ihnen zierten eigenartige Ruinen, die das Heim von Astralreisenden oder von vor langer Zeit fortgegangenen Bewohnern zu sein schienen. Das Sonderbarste, was ihnen begegnete, waren wirbelnde Farbteiche, die sich langsam im astralen Medium drehten. Die Farbtöne reichten von hellem, glänzendem Silber bis zum tiefsten Nachtschwarz, durch das sich purpurne Streifen zogen.
»Kommt diesen Teichen nicht zu nahe«, hatte Tzirik sie gewarnt. »Wenn Ihr dort eindringt, werdet Ihr auf eine andere Existenzebene gebracht, und ich habe kein Interesse, mich in fremde Welten zu begeben, nur weil jemand zu sorglos reist.«
»Woher wissen wir, welcher uns zum Abyss führt?« fragte Valas.
»Keine Sorge, mein Freund. Der Zauber, den Vhaeraun mir gewährte, sorgt auch für eine bestimmte Tendenz hin zu unserem Ziel, die ich empfing, als ich meinen Geist auf diese Ebene brachte. Ich führe uns alle mehr oder weniger direkt zum nächsten Farbteich, der unseren Zwecken dienen wird.«
»Wie lange müssen wir noch reisen?« fragte Quenthel.
»Wir kommen näher«, antwortete Tzirik. »Es ist schwer zu sagen, aber ich würde annehmen, daß wir noch vier oder fünf Stunden von unserem Ziel entfernt sind. Wir sind inzwischen fast zwei Tage gereist.«
Zwei Tage? Halisstra kam es nicht annähernd so lang vor.
Sie fragte sich, was wohl in den letzten beiden Tagen in Faerûn geschehen sein mochte. Wachte Jeggred noch über ihre reglosen Körper? Er konnte seine Aufgabe nicht nachlässig erfüllt haben, da sie noch lebten, doch wie viele Tage mochten noch vergehen, ehe sie ihr endgültiges Ziel erreicht, die Göttin um eine Audienz ersucht und die Rückkehr in ihre eigentliche Ebene geschafft hatten?
Gedankenversunken verbrachte sie die Reise schweigsam, bemerkte dabei aber kaum, daß ihre Gefährten sich nicht anders verhielten. Um so mehr überraschte es sie, als Tzirik seinen mühelosen Flug verlangsamte und dann reglos verharrte. Vor ihm befand sich ein schwarzer Wirbel mit silbernen Streifen, der nicht weit von den Reisenden entfernt langsam durch das Astralmedium peitschte.
»Der Eingang zur sechsundsechzigsten Ebene des Abyss«, erklärte der Priester Vhaerauns. »Bislang ist unsere Reise ohne jegliche Zwischenfälle verlaufen, doch sobald wir uns in Lolths Reich begeben, wird sich das ändern. Wenn Ihr Zweifel an Eurer Mission habt, Herrin Baenre, dann wäre dies ein guter Zeitpunkt, sie zu äußern.«
»Ich habe keinen Grund, den Abgrund der Dämonennetze zu fürchten«, gab Quenthel zurück. »Ich beabsichtige zu tun, wofür ich hergekommen bin.«
Ohne auf Tzirik zu warten, schoß sie vor und tauchte in den wirbelnden, pechschwarzen Klecks. Von einem Augenblick auf den anderen wurde ihre strahlende Astralform von dem Mahlstrom geschluckt.
»Sie ist ungeduldig, nicht?« merkte Tzirik an.
Er zuckte kurz die Achseln und begab sich selbst in den Farbteich. Wie Quenthel verspürte auch Halisstra in diesem Moment Gewißheit, und sie wollte sich nicht von irgendwelchen Zweifeln von ihrem beabsichtigten Kurs abbringen lassen. Sie drang in den Teich aus wirbelnder schwarzer Nacht ein, kaum daß Tzirik dort verschwunden war, die Zähne trotzig gefletscht.
Zunächst spürte sie überhaupt nichts, auch wenn der Pfuhl ihr im Augenblick des Eintauchens gänzlich die Sicht nahm. Das Medium schien sich von der Astralebene nicht zu unterscheiden – ein schwereloses, kühles, vollkommenes Nichts –, doch mit einem Mal erfaßte die wirbelnde Strömung des Teiches sie, zog an ihr mit einer befremdlichen, nicht-dimensionalen Beschleunigung, die ihre stoffliche Form in eine Richtung zerrte, die sie nicht einmal annähernd verstand. Es schmerzte nicht, aber es fühlte sich so fremdartig an, so verwirrend, daß Halisstra entsetzt und gequält nach Luft rang und unter der Umklammerung durch den astralen Mahlstrom heftig erbebte.