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Lolth, hilf mir! flehte sie stumm in ihrem Geist, während sie mit den Armen ruderte und versuchte, sich aus der wirbelnden Masse zu befreien. Die unbeschreibliche Bewegung hielt noch einen Moment lang an, dann ...

... hatte sie es geschafft.

Halisstra taumelte wie trunken, als die Schwerkraft zurückkehrte, und hatte Mühe, das Gleichgewicht zu wahren. Sie schlug die Augen auf und stellte fest, daß sie auf etwas Silbergrauem lag, einer steilen Rampe oder Mauer, die vor ihr bis ins Unendliche abfiel. Die anderen standen ganz in ihrer Nähe und sahen sich schweigend um, während sie sich nervös die Gliedmaßen rieben oder nach ihren Waffen tasteten.

Ringsum gab es nur schwarze, erdrückende Leere, die dunkler und unheilvoller war als die schwärzeste Schlucht im Unterreich. Ein übler, beißender Geruch erfüllte ihre Nasenlöcher, und ein leise murmelnder Luftzug bewegte sich unablässig von unten nach oben. Halisstra sah in den Abyss zu ihrer Linken und sah dort etwas schimmern, einen mattsilbernen Faden, der mehrere Kilometer entfernt war und sich durch die Finsternis zog. Kleinere Fäden kreuzten ihn in unregelmäßigen Abständen, und als sie ihnen mit den Augen folgte, sah sie, daß sie sich langsam nach oben bewegten und mit der Rampe zusammentrafen, auf der sie stand. Die heiße, stinkende Brise wurde stärker und schaffte es dann, den gewaltigen Faden sanft schwingen zu lassen.

»Es ist ein Spinnennetz«, murmelte Ryld. »Ein riesiges Spinnennetz.«

»Überrascht dich das?« erwiderte Pharaun zynisch lächelnd.

Danifae ging ein paar zaghafte Schritte auf dem Faden. Das Ding hatte einen Durchmesser von dreißig oder vierzig Schritt, doch da die Oberfläche rund war, empfand sie es als unangenehm, wenn sie sich mehr als ein Dutzend Schritte vom hochsten Punkt des Fadens bewegte. Sie kniete sich hin und strich mit der Hand über die Oberfläche des Fadens, dann verzog sie das Gesicht.

»Klebrig, aber nicht gefährlich. Außerdem scheint es so, als seien wir wieder vollkommen stofflich.« Sie richtete sich auf und reckte sich ausgiebig. »Habe ich nun zwei Körper? Einen hier und einen in der Jaelre-Burg?«

»Genaugenommen ist das so«, antwortete Tzirik. »Wenn man die Astralsee verläßt und sich auf eine andere Ebene begibt, dann baut der reisende Geist sich den stofflichen Körper, den er erwartet. Man könnte sagen, Euer Geist müsse sich einer Art Verdichtung unterziehen, um auf einer anderen Ebene eine physische Existenz anzunehmen. Wenn Ihr diesen Ort verlaßt, wird Euer Geist auf die Astralebene zurückkehren, während die Hülle, die Ihr für Euch geschaffen habt, verblaßt.«

»Ihr scheint mit den Unbilden der Reisen auf andere Ebenen gut vertraut zu sein«, stellte Halisstra fest.

»Vhaeraun hat mich schon mehrfach in die Ebenen jenseits Faerûns geschickt«, räumte Tzirik ein. »Ich war auch schon hier im Abgrund der Dämonennetze. Alle Götter unserer Rasse sind hier zu Hause, jeder in seinem eigenen Reich innerhalb dieser großen Netzspalte. Mein vorangegangener Auftrag führte mich nicht in Lolths Reich, und er liegt auch schon viele Jahre zurück.«

Quenthel warf ihm einen finsteren Blick zu. »Der gesamte Abgrund der Dämonennetze ist Lolths Reich, Ketzer. Sie ist die Königin über diese Ebene des Abyss, während die anderen sogenannten Götter unseres Volkes hier nur mit ihrer Duldung existieren.«

»Ich bin sicher, daß Ihr korrekt nachgeplappert habt, was Euch Euer Glaube in dieser Angelegenheit vorschreibt, daher werde ich mit Euch nicht über diesen Punkt streiten, Priesterin Lolths. Für unsere Zwecke ist das genaue Verhältnis der Gottheiten untereinander in diesem Pantheon nicht wichtig.«

Tzirik wandte Quenthel den Rücken zu und betrachtete den schwarzen Abgrund rings um die Gruppe. Mit der Hand beschrieb er eine wischende Bewegung.

»Irgendwo unter uns werden wir eine Art Tor oder Grenze finden, die die Stelle markiert, an der sich der Zugang zu Lolths Reich öffnet – das, soweit ich weiß, dem übrigen Abgrund der Dämonennetze recht ähnlich ist, das aber ihren Launen unterworfen ist.«

»Wenn die Ebene unendlich ist, dann könnte der Punkt, den wir suchen, unendlich weit entfernt sein«, merkte Pharaun an. »Wie sollen wir von hier nach dort gelangen?«

»Wenn wir einfach an einem beliebigen Punkt in dieser Ebene materialisiert wären, hättet Ihr recht«, gab Tzirik zurück. »Doch die Astralprojektion ist keine zufällige Reisemethode. Wir sind nicht weit von dem Ort entfernt, den wir suchen – ein Marsch von einer Stunde, höchstens von einem Tag, aber nicht viel weiter. Da wir wissen, daß Lolths Reich am Nadir dieses Ortes gelegen ist, würde ich vorschlagen, daß wir nur an diesem Faden hinabsteigen und an jeder weiteren Verzweigung wiederum den Weg nach unten wählen. Unterwegs sollten wir aber wachsam sein.«

»Es wird noch andere geben«, fügte Quenthel an. »Die Seelen der jüngst Verstorbenen. Wenn Ihr jemanden seht, den Ihr als Verehrer Lolths erkennt, dann werden wir ihm folgen.«

Sofern Lolth sie noch zu sich ruft, dachte Halisstra.

Den anderen schien der gleiche Gedanke durch den Kopf zu gehen.

Der Priester nahm seinen Streitknüppel in die Hand, korrigierte den Griff um seinen Schild, dann machte er sich mit gestrafften Schultern auf den direkten Weg nach unten, den titanenhaften grauen Faden entlang. Die Menzoberranzanyr sahen einander kurz an, folgten Tzirik dann aber auf der steilen Netzsäule.

Die Oberfläche des Fadens entpuppte sich als angenehm begehbar. Sie war uneben, nicht wirklich klebrig und bestand aus rauhen Fasern, die guten Halt für die Füße boten. Zugleich federte die Oberfläche genügend, um die schweren Schritte während des steil nach unten führenden Abstiegs zu dämpfen.

Auf den ersten Blick glaubte Halisstra, dieser Ort sei genauso leer wie die silbrige See der Astralebene, denn die gewaltigen Abstände zwischen den Fäden verliehen dieser Ebene ein Gefühl völliger Leere. Doch je weiter sie kamen, desto bewußter nahm sie eine haßerfüllte Atmosphäre wahr, als beobachte die gesamte Ebene ihr Eindringen und koche vor Wut. Ein fremdartiges, rauhes Rascheln und sonderbar insektenartige, kichernde Geräusche stiegen mit dem übelriechenden Luftzug empor, das Geräusch ferner, kriechender Bewegungen und Aktivitäten, die eine Aura der Gefahr in sich trugen.

Manchmal machte Halisstra an einem benachbarten Faden eine Bewegung aus, auch wenn die durchhängenden schwarzen Stränge kilometerweit entfernt waren. Hier und da bemerkte sie hektische Aktivität, doch die dafür verantwortlichen Kreaturen oder Objekte waren so weit entfernt, daß es unmöglich zu erkennen war, um was es sich bei ihnen handelte. Mehr als einmal spürte sie eine Präsenz in der luftigen Leere rings um ihren Faden, langsame, üble Dinge, die auf den geräuschvollen Luftstößen trieben, die unablässig von unten kamen und sich den reisenden Drow immer wieder näherten, als wollten sie sehen, ob sie sich für eine Zwischenmahlzeit eigneten.

In unregelmäßigen Abständen kamen sie an Leichen vorüber, alptraumhaften Kadavern, die das schlimmste von Spinnen und Dämonen vereinten. Große Stücke waren aus dem Chitinpanzer der Monster gerissen, Glieder waren verdreht, hier und da war ein haariger Brustkorb eingedrückt worden, aus dem eine säuerlich riechende, grüne Masse austrat. Geflügelte Aasdämonen lagen in Haufen aus schmutzigen Federn, die gräßlichen Schnäbel im Tod aufgerissen. Aufgeblähte, froschartige Dinge hingen in den Fasern des großen Fadens und bewegten sich leicht im üblen, heißen Luftzug. Einige Dämonen klammerten sich noch an ihr Leben, doch sie konnten kaum mehr machen, als zu zucken oder zu schnarren. Manche von ihnen stießen verzweifelte Drohungen aus, sobald die Drow sie passierten.

»Dieser Ort ist ein Beinhaus der Teufel«, murmelte Ryld, der sich eine Hand vor Mund und Nase hielt. »Ist es hier immer so?«

»Bei meinem letzten Besuch sah ich nichts dergleichen«, erwiderte Tzirik. »Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat. Ich weiß nur, daß ich nicht dem Ding begegnen möchte, das Dämonen in Stücke reißen kann.«