»Ich kann mich daran auch nicht erinnern«, sagte Quenthel. Sie machte ein nachdenkliches Gesicht, ihre Stimme war leise und angestrengt. »Veränderung ist das Wesen des Chaos, und Chaos ist ein Aspekt Lolths.«
»Wahrhaftig«, sagte Pharaun. Der Magier hielt sich ein Taschentuch vor die Nase und bahnte sich seinen Weg um den Kadaver einer riesigen Spinne, deren knolliger Unterleib aufgeplatzt war und dessen gräßlicher Inhalt sich über den Faden verteilt hatte. »Es ist möglich, daß sie sich das gegenseitig angetan haben. Wenn eine starke, befehlende Präsenz fehlt, wenden sie sich oft gegeneinander.«
»Wenn sie fehlt ...« , wiederholte Halisstra und betrachtete das Gemetzel genauer. »Ich sehe nirgends tote Drow.«
Nachdem sie ein beträchtliches Stück zurückgelegt hatten, rückten die benachbarten Fäden allmählich näher, außerdem stießen sie immer häufiger auf Querfäden. Halisstra sah, daß an den Fäden ringsum weitere zerschmetterte Kadaver klebten. Ganz gleich, welcher Kampf hier getobt haben mochte, er mußte sich über Dutzende von Fäden und unzählige Kilometer schwarzer Leere erstreckt haben.
»Die Spinnenkönigin ...«, sagte Halisstra. »Sie ließ die Bewohner ihrer eigenen Ebene im Stich, so wie sie uns im Stich ließ, und so, wie wir einander in Ched Nasad gegenseitig auslöschten, haben die Dämonen ihres Reiches das auch gemacht.« Sie schloß die Augen und versuchte, den Anblick zu verdrängen. Der Gestank schlug ihr auf den Magen, ihr war schwindlig. »Lolth, warum nur?« murmelte sie.
»Die Spinnenkönigin wird sich erklären, wenn sie es für richtig hält«, gab Quenthel zurück. »Wir können nur um die Wiederherstellung ihrer Gunst bitten und darauf vertrauen, daß wir in ihren Augen würdig sind.«
»Wir können uns auch etwas schneller voranbewegen, anstatt dumm zu glotzen«, rief Valas. Er bildete den Schluß der Gruppe und hatte einen Pfeil auf die Sehne seines Bogens gelegt. Der Späher stand da und sah mit besorgter Miene den Faden entlang nach oben. »Verzeiht die Unterbrechung, aber wir bekommen Gesellschaft. Wir werden verfolgt.«
Halisstra folgte dem Blick des Spähers nach oben und schwankte leicht, da sie das Gleichgewicht verlor. Ihr wurde erst klar, wie weit sie inzwischen gereist waren, als sie sah, daß der Faden sich über eine gewaltige Distanz hinauf bis in Dunkelheit erstreckte. Etwas folgte ihnen, eine kriechende Horde aus kleinen, spinnenartigen Gestalten, die sich um den Faden auf sie zubewegten, ohne davon Notiz zu nehmen, was in den Fasern festhing. Sie waren zwar noch viele hundert Schritte entfernt, doch selbst auf diese große Entfernung konnte Halisstra sehen, daß es sich um Monstrositäten von Oger-Größe handelte. Der Eifer, mit dem sie ihre Verfolgungsjagd betrieben, konnte nichts Gutes bedeuten.
»Das gefällt mir nicht«, meinte Ryld.
»Mir auch nicht«, pflichtete Quenthel ihm bei. »Pharaun, habt Ihr einen Zauber, der ihnen das Vorankommen verwehrt?«
Der Meister Sorceres schüttelte den Kopf und erwiderte: »Nicht ohne Gefahr zu laufen, daß der Faden durchtrennt wird. Und dieses Risiko will ich aus unerfindlichen Gründen lieber nicht eingehen. Ich könnte statt dessen einen Flugzauber wirken, der genügen sollte, damit wir diesen Faden verlassen und zum nächsten überwechseln können. Allerdings könnten wir auch einfach zum nächsten Faden unter uns schweben.«
Er wies auf einen schmalen, fast dünnen Strang, der ein Stück weit unter ihnen ein wenig seitlich versetzt verlief.
»Spart Euch Eure Magie«, entschied Quenthel. »Der Faden wird genügen. Pharaun, Ryld, ihr tragt Valas und Danifae.«
Sie glitt an dem großen Faden entlang, auf dem sie standen, dann stieß sie sich ab. Einer nach dem anderen folgte ihr. Halisstra wagte einen letzten Blick auf den Schrecken, der sich ihrer Position näherte, dann folgte sie rasch der Baenre-Priesterin, indem sie sich an den Rand des gewaltigen Strangs herabließ und dann den Sprung in die Dunkelheit machte.
Drei Tage waren seit dem Sieg bei den Säulen des Leids vergangen, und über dreißig Kilometer waren sie inzwischen näher an Menzoberranzan. Nimor stand im Schatten an der Mündung Lustrums, einer wundersam reichen Mithral-Mine. Nahe dem Eingang reichte ein keilförmiges Gewölbe Hunderte von Metern in die Höhe, das breiter wurde, je höher man sich befand. Am Höhlenboden war es beengt und mit den Bruchstücken gewaltiger Findlinge übersät. Die Minenarbeiter – Sklaven und Soldaten des Hauses Xorlarrin, zumindest glaubte er das – hatten ihr Werkzeug weggeworfen und ihr Zuhause verlassen, als sich ihnen die Duergar-Armee näherte, wobei sie aber noch so viel Mithral-Erz mitgenommen hatten, wie sie tragen konnten. Nimor sah hinauf in den schmalen schwarzen Riß.
Die Mithral-Mine war interessant anzusehen, doch sie war nicht der einzige Grund, weshalb er hier war. Das Lustrum befand sich zwischen der Armee aus Gracklstugh und der Armee Kaanyr Vhoks. Die Duergar hielten sich auf der linken Seite und näherten sich Menzoberranzan aus Südwesten, während die Tanarukks den Weg zur Rechten zurücklegten und von Südosten auf die Stadt zumarschierten. Die Drow-Armee zog sich zurück, auf dem Weg in die trügerische Sicherheit ihrer Heimatstadt. Menzoberranzans Mantel – der große Kranz aus verschlungenen Höhlen und Passagen, der sich um die ganze Stadt zog – bot der einfallenden Armee tausend Wege, um sich der Stadt zu nähern.
Natürlich hatten die Muttermatronen ihre entlegeneren Ländereien nicht ungeschützt gelassen. Nimor sah zu Boden auf die grünen Scherben einer der berüchtigten Jadespinnen der Stadt, riesige, magisch angetriebene Automaten aus Stein, die die Randbereiche der Stadt bewachten. Aus den Überresten dieses Objekts zu seinen Füßen stieg noch der beißende schwarze Rauch der Brandbomben auf, mit denen es vor wenigen Stunden zerstört worden war. Es handelte sich um raffinierte, todbringende Werkzeuge, doch ohne Heerscharen von Priesterinnen, die sie mit allen möglichen Zaubern unterstützten, waren die Jadespinnen kein ausreichendes Mittel, um die beiden vorrückenden Armeen aufzuhalten.
Wie lange noch, bis die großen Burgen von Menzoberranzan genauso am Boden liegen wie dieses Ding? überlegte Nimor.
Die Gesalbte Klinge wurde in ihren Gedankengängen unterbrochen, als das Stampfen von Zwergenstiefeln und das häßliche Kratzen von Eisen auf Stein ertönte. Die gepanzerte Kutsche Kronprinz Horgar Stahlschattens näherte sich, eskortiert von einer doppelten Kolonne von Steinwachen des Duergar-Fürsten. Nimor zuckte zusammen, als er das dröhnende Gellen der Duergar-Soldaten hörte.
Man sollte meinen, sie hätten in ihrer eigenen Stadt schon genug Lärm und Hammerschläge, dachte er.
Er klopfte Schmutz von seinem Waffenrock, dann begab er sich nach unten, um mit seinen Verbündeten zusammenzutreffen.
»Seid gegrüßt. Ich freue mich, daß Ihr meiner Bitte um ein Gespräch nachgekommen seid.«
Der Duergar-Fürst stieß die gepanzerte Tür an der Seite seines eisernen Wagens auf und trat hinaus auf den Höhlenboden. Marschall Borwald folgte mit einem Schritt Abstand, ein großer Eisenhelm verbarg die Narben in seinem Gesicht.
»Ich habe Euch gesucht, Nimor Imphraezl«, erwiderte Horgar. »Ihr seid einfach verschwunden, nachdem Ihr unsere Vorhut in dieses Labyrinth aus Tunneln geführt hattet. Was hattet Ihr anderswo zu tun, das wichtiger sein könnte als unser Angriff auf Menzoberranzan? Das würde mich interessieren.«
Der Sieg hatte den sauertöpfischen Pessimismus des Kronprinzen in einen unbändigen Hunger nach weiteren Triumphen verwandelt, und Horgars Gutsherren spiegelten die Einstellung ihres Herrschers wider. Wo zuvor der Anblick des Assassinen dazu geführt hatte, daß man finstere Miene machte und sich Übles zuflüsterte, waren die Gutsherren von Gracklstugh nun an einem Punkt angelangt, da sie seine Anwesenheit mit schroffem Kopfnicken und unverhohlenem Neid auf seine Erfolge quittierten.
»Aber wieso? Mein kurzer Ausflug betraf ausschließlich den bevorstehenden Angriff«, gab Nimor mit einem Lachen zurück. Er trat gegen eine Jadescherbe des vernichteten Konstrukts. »Nachdem ich Euren Männern gezeigt hatte, wie man diese Dinge unschädlich macht, war ich der Ansicht, Eure Armee habe die Sache bestens im Griff. Daher nahm ich mir die Freiheit, meinen Vorgesetzten Bericht zu erstatten und mich zugleich etwas umzutun, wie es in der Stadt aussieht.«