Der Duergar-Prinz runzelte die Stirn und zog nachdenklich die Brauen zusammen.
»Ihr nahmt Euch die Freiheit, mit der Tanarukk-Armee ein großes Wagnis einzugehen«, sagte Horgar. »Sie hätte sich ebensogut gegen uns wie gegen die Menzoberranzanyr wenden können, und das wißt Ihr!«
»Unter normalen Umständen vielleicht, doch man kann die Chance förmlich riechen, die in der Luft hängt. Ich kann sie riechen, Kaanyr kann sie riechen, und ich glaube, daß Ihr sie auch riechen könnt. Wir stehen an einem Wendepunkt, an dem viele große Ereignisse in eine andere Richtung gelenkt werden könnten.«
»Leere Platitüden, weiter nichts, Nimor«, brummte der Duergar.
Er verschränkte seine dicken Arme und starrte ins Nichts, während er wartete. Nach kurzer Zeit drang ein Scharren und Schnauben durch die Finsternis, gefolgt von schnellen, schweren Schritten.
Eine Schar Tanarukks kam in die Höhle, die auf ihren haarigen Schultern eine eiserne Sänfte von der Größe einer kleinen Kutsche trugen. Die Augen der Bestien glühten rot vor Haß, in den kraftvollen Fäusten hielten sie Äxte und Streitkolben. Die Duergar und die Ork-Dämonen warfen sich finstere Blicke zu, murmelten Unverständliches und tasteten nervös nach ihren Waffen.
Die Tür der Sänfte öffnete sich knarrend, und Kaanyr Vhok erhob sich langsam aus dem Sessel. Der halbdämonische Kriegsherr sah in seiner karmesinroten und goldenen Rüstung prachtvoll aus, und seine feingeschuppte Haut und die markanten Züge verrieten auf eine Weise Charisma, mit der Horgars ungehobelte und mißtrauische Duergar-Art nie hätte mithalten können. Das Alu-Scheusal Aliisza folgte ihm und streckte ihre Flügel, als sie heraustrat. Als letzter verließ Zammzt die Kutsche des Kriegsherrn.
»Ich bin gekommen«, sagte Kaanyr mit seiner kraftvollen Stimme. Er betrachtete die versammelten Duergar und sah auch zu Nimor. »Wir haben die Drow völlig aufgelöst in ihre Stadt zurückgetrieben. Wie setzen wir nun dem Ganzen ein Ende – und viel wichtiger: Wie teilen wir die Beute?«
»Die Beute teilen?« gab Horgar zurück. »Wohl kaum. Ihr werdet Euch nicht an meinem Lohn gütlich tun, nachdem meine Armee Schwerstarbeit geleistet hat, um die Drow bei den Säulen des Leids zu schlagen. Ihr werdet für Eure Unterstützung angemessen bezahlt werden, aber glaubt ja nicht, Ihr könntet einen Teil meines Sieges für Euch beanspruchen.«
Kaanyr zog wütend die Brauen zusammen.
»Ich bin kein Bettler, der an Eure Großzügigkeit appelliert«, sagte der Cambion. »Ohne meine Armee würdet Ihr Euch noch immer Schritt für Schritt nach Menzoberranzan vorkämpfen.«
Horgar wollte wütend etwas erwidern, doch Nimor stellte sich rasch zwischen den Halbdämon und den Duergar und hob die Arme.
»Meine Herren!« rief er. »Menzoberranzan kann Euch nur schlagen, wenn Ihr Euch gegeneinander wendet. Wenn Ihr zusammenarbeitet, wenn Ihr geschickt Eure Ressourcen bündelt, wird die Stadt fallen.«
»Das stimmt«, sagt Zammzt. Der Assassine mit dem platten, ausdruckslosen Gesicht stand in seinen dunklen Mantel gehüllt neben Vhoks Sänfte. »Es bringt wenig, über die Verteilung der Beute zu reden, solange die Stadt noch nicht eingenommen ist. Es ist noch sinnloser, mit der Diskussionen über die Verteilung der Beute zu verhindern, daß die Stadt überhaupt erst fallen kann.«
»Das mag sein«, gab Kaanyr zurück und verschränkte seine muskulösen Arme vor der breiten Brust. »Aber ich werde mich nicht übergehen lassen, wenn die Stadt geplündert wird. Ihr habt mich hergeholt.«
»Mich auch«, polterte Horgar, »und auch die Agrach Dyrr. Ich vermute, Euer geheimes Haus wird sehr unter Druck geraten, wenn es alle Versprechungen einlösen soll, die Ihr Euren Verbündeten gemacht habt. Ich frage mich, wen von uns Ihr verraten wollt.«
Zum ersten Mal mußte sich Nimor ernsthaft die Frage stellen, ob er wohl zu viele Feinde Menzoberranzans zusammengebracht hatte. So lief Diplomatie im Unterreich. Keine Allianz verlor je ihre Nützlichkeit, nicht einmal einen Herzschlag lang.
Zu seiner Überraschung kam ihm Aliisza zu Hilfe.
Das Alu’Scheusal lehnte sich gegen Kaanyr und erklärte: »Er wird bei keinem von Euch seine Versprechen einlösen können, solange die Stadt steht. Wie soll er das auch? Wenn Ihr Euch nicht einigt, werden wir alle mit leeren Händen nach Hause zurückkehren.«
Nimor nickte ihr knapp ein Danke zu, achtete aber darauf, daß sein Blick nicht zu lange auf Aliisza ruhte, solange sie so dicht neben Kaanyr stand. Er bezweifelte, daß sie ihrem Herrn jedes Detail ihres Besuchs in Gracklstugh erzählt hatte, und er wollte dem Halbdämon keinen Anlaß geben, neugierig zu werden und Fragen zu stellen.
»Die Weisheit der Dame Aliisza ist so groß wie ihre Schönheit«, sagte er. »Um einen Streit zu vermeiden, schlage ich folgendes vor: Horgar fallen fünf Zehntel des Vermögens, der Bevölkerung und des Territoriums von Menzoberranzan zu. An Kaanyr gehen drei Zehntel, und zwei Zehntel gehen an mein Haus, aus denen ich die Agrach Dyrr mit abfinden werde. Das alles bedarf natürlich noch gewisser Verhandlungen und Korrekturen, wenn Menzoberranzan in unserer Hand ist.«
»Meine Armee ist mehr als doppelt so groß wie die des Cambion. Wieso bekommt er einen größeren Anteil als die Hälfte des meinen?« fragte Horgar.
»Weil er hier ist«, gab Nimor zurück. »Nehmt Eure Armee und geht wieder nach Hause, wenn Ihr wollt, Horgar. Aber seht Euch um, ehe Ihr aufbrecht. Wir befinden uns am Lustrum, der Mithral-Mine des Hauses Xorlarrin. Menzoberranzan hat die Kontrolle über Dutzende solcher Schätze, und die Burgen und Schluchten sind mit dem Reichtum von fünftausend Jahren gefüllt. Wenn Ihr nicht kämpft, werdet Ihr keinen Anteil bekommen.«
Dies war der andere Grund, warum Nimor das Lustrum als Treffpunkt ausgewählt hatte. Es war ein verlockender Vorgeschmack auf die Beute, die sie erwartete.
Horgars Blick verfinsterte sich, doch der Duergar wandte sich ab und betrachtete die Kluft und die umliegenden klaffenden Stollen. Marschall Borwald beugte sich vor und flüsterte dem Kronprinzen etwas zu, die anderen Gutsherren tuschelten untereinander. Nach einem Moment schob er die dicken Daumen unter den Gürtel, dann räusperte er sich.
»Nun gut. Unter dem Vorbehalt abschließender Verhandlungen sind wir einverstanden. Wie wollt Ihr die Stadt bezwingen?«
»Ihr werdet Menzoberranzan zwischen Euren Armeen aufreiben«, sagte Nimor. »Angesichts Eures Sieges bei den Säulen des Leids werden die Lolthiten Euren Angriff erwarten. Doch wegen dieses Labyrinths aus Gängen rings um die Stadt kann niemand sagen, aus welcher Richtung Ihr angreifen werdet. Das bedeutet, daß die Menzoberranzanyr ihre Armee in der Stadtmitte aufstellen müssen, damit sie sich von dort an den Punkt begeben, an dem die Stadt angegriffen wird. Die Geknechtete Legion wird für diese Bedrohung sorgen, und sobald wir die Lolthiten in diesen Kampf gelockt haben, wird die Armee aus Gracklstugh den zweiten Angriff starten und in die Stadt vordringen.«
»Kein schlechter Plan«, stellte Kaanyr fest. »Doch genau das werden die Menzoberranzanyr unter den momentanen Umständen erwarten. Sie werden sehr vorsichtig sein, ehe sie ihre ganze Kraft einer einzelnen Bedrohung entgegenstellen.«
»Ja«, meinte Horgar. »Wie wollt Ihr sie in die Falle locken, nachdem sie bei den Säulen des Leids schon einmal in eine Falle gegangen sind?«
Nimor lächelte. Es war ihm nicht entgangen, daß Horgar und Kaanyr Vhok mit einem Mal das taktische Problem diskutierten, wie Menzoberranzan zu besiegen war, daß sie aber nicht mehr darüber stritten, welchen Lohn sie für ihre Bemühungen erwarteten.
»Meine Brüder und ich gehen davon aus, daß wir in dieser Hinsicht helfen können«, sagte er. »Wir sind zwar zahlenmäßig klein, aber wir sind bestens plaziert, und, meine Herren, außerdem scheint Ihr vergessen zu haben, daß wir noch Haus Agrach Dyrr haben.«