Prinz Horgar und Kaanyr Vhok nickten und lächelten, als er sie daran erinnerte.
Mach dich auf etwas gefaßt, Menzoberranzan, dachte Nimor. Ich bin auf dem Weg.
»Ich hätte mir im Leben nicht so viele Dämonen vorstellen können«, stöhnte Ryld. Er stützte sich auf Splitter und sah zu, wie eine riesige fledermausähnliche Gestalt kraftlos in die Finsternis trudelte und vergeblich zu fliegen versuchte, nachdem der Zweihänder des Waffenmeisters ihre Flügel zerfetzt hatte. Er richtete sich auf und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Es wird immer wärmer. Ich hoffe, wir sind in der Nähe dessen, was wir suchen.«
Halisstra und die anderen standen in der Nähe, schwankten wegen Schwindels oder zitterten vor Erschöpfung, da diese Umgebung ihnen alles abverlangte. Es kam ihnen vor, als seien sie schon seit Stunden damit beschäftigt, sich ihren Weg am Faden entlang freizukämpfen. Zeitweise konnten sie über viele Kilometer hinweg ungestört absteigen und fanden auf dem Faden allenfalls Leichen vor, doch immer häufiger kamen ihnen Dämonen in die Quere, die sehr lebendig und sehr hungrig waren. Die meisten dieser höllischen Kreaturen stürzten sich kopfüber in die Schlacht, als seien sie von jeglicher Vernunft verlassen, doch einige von ihnen waren immer noch intelligent genug, ihre magischen Fähigkeiten gegen die Eindringlinge zum Einsatz zu bringen.
Mit Fängen, Klauen, Stacheln und unheiliger Hexerei geißelten und bedrängten die Bewohner des Abgrunds der Dämonennetze die Drow-Gruppe. Zusätzlich erschwert wurde den Drow der Weg dadurch, daß Quenthel Pharaun angewiesen hatte, seine Zauber zu sparen, womit sie jeder neuen dämonischen Bedrohung nicht mit Magie, sondern mit Stahl begegnen mußten.
»Spart Euch Eure Worte, Meister Argith«, sagte Quenthel, die sich langsam erhob. An ihrer Peitsche klebte das Blut Dutzender Dämonen. »Wir müssen weiter.«
Die Gruppe hatte kaum mehr als vierzig Schritt zurückgelegt, als ein Schaudern durch den Faden lief. Aus der Tiefe tauchte im nächsten Moment eine unermeßlich große Klauenhand auf.
Was sich ihnen von der unteren Seite des Netzes näherte, die sie von ihrer Position aus nicht sehen konnten, war ein gewaltiger Dämon mit dem Kopf eines Büffels und stinkendem, rauhem Fell, das auf Schultern und Rücken wuchs. Er zog sich auf die obere Seite des Fadens empor und brüllte laut.
»Ein Goristro!« rief Pharaun. »Was bei allen Höllen hat das Ding hier zu suchen?«
»Zweifellos eines von Lolths Schoßtieren, das entkommen ist«, erwiderte Tzirik.
Der vhaeraunitische Priester begann, einen Zauber zu intonieren, während die anderen zur Tat schritten. Noch ehe das Monster sich aufrichten konnte, hatte ihm Valas drei Pfeile in den Leib gejagt. Die schwarzen Geschosse ragten aus seiner Schulter und seinem Hals wie Nadeln aus einem Nadelkissen. Der Goristro schnaubte vor Wut und Schmerz, und mit einer wuchtigen Klauenhand griff er nach dem Kadaver eines kleinen Spinnendämons und schleuderte ihn auf Valas, den er in dem Moment traf, als der Späher in den Köcher griff, um weitere Pfeile vorzuholen. Der Aufprall traf ihn so unerwartet, daß er den Halt verlor und seitlich wegrutschte, während er in mehreren Sprachen laute Flüche ausstieß.
Ryld stürmte los, Splitter hoch erhoben. Quenthel war an seiner Seite, gleichzeitig versuchten Halisstra und Danifae, die Bestie von einer Seite zu umkreisen, was sich auf dem schmalen Faden als schwierig erwies.
Tzirik beendete seinen Zauber und stieß ein tiefes, grollendes magisches Wort aus, woraufhin vor dem Torso des Goristro eine große, sich drehende Scheibe Gestalt annahm, deren Rand mit scharfen Klingen besetzt war. Die Scheibe traf das Monster, Blut spritzte, doch es ließ sich davon nicht beeindrucken.
»Was ist nötig, um dieses Ding aufzuhalten?« rief Halisstra. »Hat es Schwächen?«
»Es ist dumm«, erwiderte Pharaun, »und kaum empfindungsfähig.«
Der Magier gestikulierte und traf das Monster mit einem leuchtend grünen Energiestrahl, der sich in dessen Brust fraß, während Tzirik Ryld und Quenthel folgte, um ihnen gegen den Goristro zu helfen. Der Waffenmeister und die Hohepriesterin schlugen nach dem Rumpf der Kreatur, mußten aber immer wieder den Hieben ihrer gewaltigen Fäuste ausweichen. Quenthel wurde getroffen und landete auf Händen und Knien, doch es gelang ihr, ein Stück wegzukriechen, ehe das Monster ihr den Rest geben konnte.
»Niiiiiicht duuuuuuuuummm!« brüllte der Goristro.
Er hob einen Huf und stampfte mit so unglaublicher Kraft auf den Faden, daß der sich über Kilometer erstreckende Strang in Schwingungen versetzt wurde, als handle es sich bei ihm um ein lebendes Wesen. Die Schockwelle wirbelte alle Drow ein Stück in die Luft, doch der Goristro hatte vergessen, die Folgen seiner Aktion für sich selbst zu bedenken. Der monströse Dämon wurde von den Schwingungen ebenfalls hochgeschleudert und landete auf der Seite, dann rutschte er ab, konnte sich aber mit seiner Klauenhand noch gerade rechtzeitig in die Oberfläche des Strangs bohren. Er begann zu zappeln und zu strampeln, machte damit die Bewegungen des Strangs aber nur noch schlimmer.
Quenthel raffte sich auf und kroch zu ihm, bis sie sich neben seinem gewaltigen Arm befand und ihm ins Gesicht schauen konnte. Dann zog sie ihre Peitsche und hielt sie ihm vor eines seiner Glubschaugen, das sich im nächsten Moment in eine blutige Masse verwandelte. Der Goristro heulte vor Schmerzen auf und zuckte zurück, wobei er den Halt verlor und in die Tiefe stürzte. Sein wütendes Bellen war noch lange zu hören und wurde nur allmählich leiser. Sie machte sich nicht die Mühe, ihm nachzusehen. Sie wandte sich statt dessen dem Rest der Gruppe zu.
»Steht auf«, fauchte sie. »Wir vergeuden Zeit.«
Halisstra erhob sich und sah sich um. Valas kam von seiner gefährlichen Position am Rand des Fadens nach oben geklettert, Danifae stand wieder auf. Sie folgten Quenthel, als die Herrin Arach-Tiniliths sich ungeduldig auf den Weg machte. Halisstra war zu müde, um dieses Tempo noch lange durchzuhalten, aber sie fand auch nicht die Kraft für eine Diskussion mit der starrsinnigen Priesterin, also biß sie einfach die Zähne zusammen und ließ den Marsch über sich ergehen.
Sie hatten fast den Grund erreicht.
Seit einer Weile war ihnen aufgefallen, daß die benachbarten Stränge näher rückten, und nun sah Halisstra auch den Grund dafür. Ein großer Ring aus Netzen, der Dutzende Male dicker war als jeder der grauen Fäden, befand sich unter ihnen. Sein Umfang war so groß, daß Halisstra kaum eine Krümmung in dem immensen Ring ausmachen konnte. In seiner Mitte befand sich ... etwas – ein unglaublich gewaltiges Objekt, eine Art Insel oder etwas Ähnliches, hing mitten in dem riesigen Netz. Die Drow blieben stehen und betrachteten die Szene, bis Valas Hune die Stille brach.
»Ist es das?« flüsterte er.
»Der Eingang zu Lolths Domäne«, antwortete Tzirik, »liegt irgendwo in diesem Ring.«
»Seid Ihr sicher?« fragte Ryld.
»Ja«, antwortete Quenthel anstelle des Priesters.
Sie sah nicht zur Seite, sie zögerte nicht, sondern ging im gleichen unerbittlichen Tempo weiter.
Als der Faden sich dem Mittelring näherte, ließ das Gefälle allmählich nach, und er wurde auch ein wenig breiter. Zum ersten Mal seit ungezählten Stunden und Kilometern bewegte sich die Gruppe wieder auf einem ebenen Untergrund, anstatt sich an dem steilen Strang nach unten zu begeben. Noch mehr Leichen von Dämonen und Spinnen kamen in Sicht, manche von ihnen halb in dem Strang begraben, als seien sie aus der grenzenlosen Höhe herabgestürzt – was wahrscheinlich auch der Fall war.
Die Reisenden erreichten den gewaltigen Ring und überquerten einen weiteren Abschnitt aus wirren Netzen, dann stellten sie fest, daß das Objekt im Ring eine Art immens großer Steintempel war – ein barockes Gebäude aus glänzendem schwarzem Obsidian, das einen Durchmesser von vielen Kilometern hatte. Mit Spitzen versehene steinerne Strebepfeiler überspannten den endlos tiefen Raum und verbanden das Bauwerk mit dem Ring. Weitläufige schwarze Plätze aus glattem Stein, die groß genug waren, um ganze Städte zu verschlucken, umgaben den Tempel von allen Seiten. Wortlos machte sich die Gruppe auf den Weg zu einem der kolossalen fliegenden Pfeiler, um weiter dem Ziel entgegenzustreben.