Er hatte ihr den Ring wegen dieser letzten Bemerkung gegeben:von ihrer Vergangenheit weiter entfernt und Ihrem Herzen näher. Sie verriet ihm, wie genau sie wusste, dass die ganze Angelegenheit mit dem verlorenen Sohn seiner Vergangenheit entstammt, während seine tiefste Sorge der Zukunft galt.
Den Ring also jetzt in ihrer geschlossenen Faust, die Augen gewissermaßen nach innen gekehrt, hörte Thistle auf zu summen, atmete sechsmal tief durch und öffnete die Augen. Sie betrachtete ihn mit einer Melancholie, bei der ihm ganz anders wurde.
»Was ist?«, fragte er.
»Sie müssen sich auf einen Schock gefasst machen«, sagte sie. »Es ist etwas Unerwartetes. Es kommt aus dem Nichts und wird Ihr Leben von Grund auf verändern. Bald schon. Ich fühle, dass es schon sehr bald so weit ist.«
O Gott, dachte er. Diese Eröffnung hatte ihm noch gefehlt, gerade jetzt, drei Wochen nachdem man ihm einen gleichgültigen Finger in den Hintern geschoben hatte, um die Ursache seines Schlappschwanzsyndroms festzustellen. Der Arzt hatte gesagt, Krebs sei es nicht, aber es gab ein halbes Dutzend anderer Möglichkeiten, die er nicht ausgeschlossen hatte. Douglas fragte sich, welche von ihnen Thistle soeben mit ihren medialen Antennen erspürt hatte.
Thistle öffnete ihre Hand, und sie blickten beide auf seinen Trauring, der leicht glänzend von ihrem Schweiß, auf ihrer Handfläche lag. »Es ist ein äußerer Schock«, erläuterte sie. »Der Ursprung des Umsturzes in Ihrem Leben liegt nicht im Inneren. Der Schock trifft Sie von außen und erschüttert Sie bis ins Innerste.«
»Sind Sie sicher?«, fragte Douglas.
»So sicher, wie ich in Anbetracht des Panzers, den Sie tragen, überhaupt sein kann.« Thistle reichte ihm den Ring zurück. Ihre kühlen Finger streiften sein Handgelenk. »Sie heißen gar nicht David, nicht wahr?«, sagte sie. »Ihr Name war nie David und wird nie David sein. Aber das >D< stimmt, das fühle ich. Habe ich Recht?«
Er griff in seine Hüfttasche und zog seine Brieftasche heraus. Vorsichtig, damit sie seinen Führerschein nicht sehen konnte, entnahm er einen Fünfzig-Dollar-Schein. Er faltete ihn einmal und reichte ihn ihr.
»Donald«, sagte sie. »Nein. Das ist es auch nicht. Darrell vielleicht. Dennis. Ich habe das Gefühl, dass es zwei Silben sind.«
»Namen sind doch in Ihrem Metier nicht von Bedeutung«, meinte Douglas.
»Nein. Aber die Wahrheit ist immer von Bedeutung. Eines Tages, Nicht-David, werden Sie lernen müssen, Menschen die Wahrheit anzuvertrauen. Vertrauen ist der Schlüssel. Vertrauen ist das Wesentliche.«
»Vertrauen«, entgegnete er ihr, »führt dazu, dass man aufs Kreuz gelegt wird.«
Draußen ging er über den Küsten-Highway zu der engen Seitenstraße parallel zum Meer. Hier parkte er immer seinen Wagen, wenn er Thistle besuchte. Das persönliche Nummernschild, DRIL4IT, war ja ein deutlicher Hinweis auf den Eigentümer des Mercedes, und Douglas hatte sich schon früh überlegt, dass es auf neue Investoren kaum ermutigend wirken würde, wenn sich herumsprechen sollte, dass der Präsident von South Coast Oil begonnen hatte, regelmäßig eine Wahrsagerin aufzusuchen. Riskante Kapitaleinlagen waren eine Sache. Sein Geld einem Mann anzuvertrauen, dem man vorwerfen konnte, mit parapsychologischen statt mit geologischen Mitteln nach Öl zu suchen, war eine ganz andere. Natürlich tat er nichts dergleichen. Das Geschäft kam in seinen Sitzungen bei Thistle nie aufs Tapet. Aber davon hätte man den Aufsichtsrat erst mal überzeugen müssen. Und alle anderen genauso.
Er entriegelte die Schließanlage des Wagens und stieg ein. Er fuhr nach Süden, in sein Büro. Bei South Coast Oil glaubten alle, er hätte die Mittagspause zusammen mit seiner Frau verbracht, bei einem romantischen Winterpicknick auf den Küstenfelsen in Corona del Mar. Ich stelle das Funktelefon für die nächste Stunde ab, hatte er seiner Sekretärin mitgeteilt. Versuchen Sie nicht, mich anzurufen. Stören Sie uns bitte nicht. Diese Zeit gehört Donna und mir. Sie hat es verdient. Und ich brauche es. Haben wir uns verstanden?
Die Erwähnung von Donnas Namen wirkte immer, wenn er sich South Coast Oil ein paar Stunden vom Leib halten wollte. Jeder in der Firma mochte sie. Ach was, einfach jeder mochte sie. Manchmal, dachte er plötzlich, wurde sie allzu gern gemocht. Besonders von Männern.
Sie müssen sich auf einen Schock gefasst machen.
O ja? Douglas ließ sich die Warnung im Hinblick auf seine Frau durch den Kopf gehen.
Wenn er Donna auf ihre Wirkung auf Männer hinwies, tat sie immer sehr überrascht. Sie pflegte dann zu sagen, die Männer würden in ihr nur eine Frau erkennen, die in einem Haus voller Brüder aufgewachsen war. Aber das, was er in den Augen der Männer sah, wenn sie seine Frau musterten, hatte mit brüderlicher Zuneigung überhaupt nichts zu tun. Es hatte mit Lust und Begierde und Vögeln zu tun.
Esist ein äußerer Schock.
Aber welcher Art? Douglas dachte an das Schlimmste.
Wann immer auch Männer und Frauen miteinander zu tun hatten - am Ende ging es dabei stets ums Vögeln. Das wusste er nur zu gut. Nicht nur frustrierten ihn seine letzthin vergeblichen Bemühungen, ihn bei Donna hoch und reinzukriegen, er begann auch langsam zu fürchten, dass ihre Geduld mit ihm zu Ende ging. Und wenn das erst mal geschehen war, würde sie anfangen, sich umzusehen. Das war nur natürlich. Und wenn sie erst mal anfing, anderweitig zu suchen, würde sie finden oder gefunden werden.
Der Schock trifft Sie von außen und erschüttert Sie bis ins Innerste.
Scheiße, dachte Douglas. Wenn jetzt, kurz vor seinem fünfundfünfzigsten Geburtstag - grausame Unglückszahl! - das Chaos auf Rädern daherkam, um sein Leben plattzuwalzen, dann würde, das wusste er, wahrscheinlich Donna am Steuer sitzen. Sie war fünfunddreißig, seit vier Jahren Ehefrau Nummer drei, und sie wirkte glücklich und zufrieden. Aber er hatte genug Erfahrung mit Frauen, um zu wissen, dass stille Wasser es nicht damit genug sein ließen, nur tief zu gründen. Sie verbargen Riffe, an denen ein Schiff in Sekunden zerschellen konnte, wenn der Bootsführer nicht ständig seine fünf Sinne beisammen hatte. Und die Liebe raubte einem die Besinnung. Die Liebe machte die Menschen ein bisschen verrückt.
Er war natürlich nicht verrückt. Er hatte seine fünf Sinne beisammen. Aber wenn man eine Frau liebte, die zwanzig Jahre jünger war als man selbst, eine Frau, deren Duft jedem männlichen Wesen im Umkreis von fünfzig Metern in die Nase stieg, eine Frau, deren körperliche Begierden man nicht befriedigen konnte ... schon seit Wochen nicht mehr befriedigen konnte ... eine solche Frau ...
»Reiß dich zusammen«, fuhr Douglas sich selbst scharf an. »Diese Wahrsagerin ist doch nichts als Quatsch!«
Dennoch dachte er an den kommenden Schock, den Umsturz in seinem Leben und seinen Ursprung: von außen sollte er kommen. Nicht seine Prostata kam in Frage, nicht sein Schwanz, kein inneres Organ. Wohl aber ein anderer Mensch. »Scheiße«, sagte er wieder.
Er lenkte den Wagen die Steigung hinauf, die zum Jamboree Boulevard führte, sechs betonierte Fahrspuren, die sich zwischen verkrüppelten Liquidambar-Bäumen durch eine der teuersten Gegenden von Orange County zogen. Sie brachten ihn zu dem bronzefarben glänzenden Glasturm, der seinen ganzen Stolz beherbergte: South Coast Oil.
Drinnen lavierte er sich durch ein unerwartetes Zusammentreffen mit zwei Ingenieuren der SCO, durch ein kurzes Gespräch mit einem Geologen, der ihm eine Generalstabskarte und einen Bericht der Umweltschutzbehörde unter die Nase hielt, und durch eine Kurzkonferenz, die ihm im Korridor vom Leiter der Buchhaltung aufgezwungen wurde. Seine Sekretärin drückte ihm einen Stapel Telefonzettel in die Hand, als er es endlich schaffte, in sein Büro zu gelangen. »War das Picknick nett?«, sagte sie. »Das Wetter ist ja wirklich fantastisch, nicht?« Und dann, als er nicht antwortete: »Alles in Ordnung, Mr. Armstrong?«